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5. Abschnitt: 1680 bis 1815 (Calbe unter Preußens „Gloria“ bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft)
Am 4. Juni 1680 starb der letzte Administrator des Erzstiftes Magdeburg, August von Sachsen, in seiner Lieblingsresidenz in Halle. Nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens übernahm der brandenburgische Kurfürst von diesem Zeitpunkt an unser Territorium als Herzogtum Magdeburg.
Während 1680/1681 im gesamten Herzogtum die Pest grassierte, wurde Calbe davon nicht so stark betroffen. Deshalb zogen die neue Kurfürstliche Regierung und das Konsistorium vorübergehend nach Calbe. Die Huldigungsfeiern von 1680 wurden auf 1681 verschoben. Trotz der immer noch herrschenden Gefahr ließ sich der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm dann doch zusammen mit seiner Gemahlin in Magdeburg, Calbe (auf dem Schloss) und Halle im Mai 1681 huldigen.
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Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620, Reg. 1640-1688) |
Mit der Zugehörigkeit zu Brandenburg, das seit seinem Sieg im 1. Nordischen Krieg 1660 auch das bislang polnische Herzogtum Preußen besaß, begann für das Magdeburger Land ebenso wie für andere norddeutsche Gebiete ein tiefgreifend neuer Abschnitt in der Geschichte.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg leitete Friedrich Wilhelm, genannt der Große Kurfürst, den Wiederaufbau des maroden Staates Brandenburg ein. In der Folge suchte er sein unzusammenhängendes Territorium zu arrondieren; dazu baute er zum einen ein stehendes Heer auf, zum anderen wechselte er in der Außenpolitik je nach Nutzen die Fronten. Zur Finanzierung seines Heeres errichtete er eine absolutistisch zentralisierte Domänen-, Steuer- und Kriegsverwaltung sowie ein merkantilistisches Wirtschaftssystem; einen entscheidenden Impuls bekam das brandenburgisch-preußische Wirtschaftsleben durch den Zuzug Tausender Hugenotten, die Friedrich Wilhelm mit dem Edikt von Potsdam 1685 in Brandenburg aufnahm und hier ansiedelte (vgl. Teil 2). 1675 besiegte er bei Fehrbellin die Schweden, die in Brandenburg eingefallen waren (vgl. Abschnitt 4).
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Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg (1657, Reg. 1688-1713) als Friedrich I. „König in Preußen“ (Reg. 1701-1713) |
Unter seinem Sohn Friedrich I., der sich in Königsberg zum „König in Preußen“ krönte, wurden Kunst und Wissenschaft gefördert (Universität Halle, Akademie der Künste in Berlin, Preußische Akademie der Wissenschaften auf Initiative von Gottfried Wilhelm Leibniz, Charité in Berlin). 1689 besuchte der Kurfürst Calbe auf dem Weg von Halle nach Magdeburg und war vom „Cälbischen“ Bier so angetan, dass er sich Fässer davon nach Berlin kommen ließ.
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König Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688, Reg. 1713-1740) |
Friedrichs Sohn, König Friedrich Wilhelm I., der ein sparsames Leben und einen bürgerlich einfachen, vom Pietismus geprägten Hof führte, in dessen Mittelpunkt die Arbeit für den Staat stand, hielt ein großes stehendes Heer für unabdingbar, weshalb er Wirtschaft und Verwaltung des Landes auf den Ausbau und die Organisation dieses Heeres ausrichtete. Unter Friedrich Wilhelm, dem „Soldatenkönig”, erhielt Brandenburg-Preußen eine vornehmlich militärische Ausrichtung, und unter seiner Regierung wurde die Schicht der pflichttreuen, gewissenhaften und ordentlichen Staatsbeamten herangezogen. Diese preußischen Tugenden gingen schließlich auch bald auf die Untertanen über. Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Disziplin und Loyalität wurden zu bewunderten und belächelten sittlichen Eigenschaften der Preußen und darüber hinaus der künftigen Deutschen.
Friedrich Wilhelms Sohn, der als König Friedrich II. (der Große) in die Geschichte einging, zeigte sich für die Ideen der Aufklärung recht aufgeschlossen. Dank seiner militärischen Erfolge und seines diplomatischen Geschicks stieg unter ihm Preußen zur europäischen Großmacht auf. Friedrich fühlte sich als „aufgeklärter“ Monarch und in der Hierarchie des Verwaltungsapparates als oberster Beamter („erster Diener“). Er führte ein straff organisiertes merkantilistisches Wirtschaftssystem und eine strenge Steuerpolitik ein, um die Staatseinnahmen anzuheben. Friedrich der Große regierte absolut mit Hilfe seiner Kabinettsräte, sah sich sowohl humanitären Ideen, der religiösen Toleranz und der Wohlfahrt seines Volkes als auch der Staatsräson verpflichtet und förderte zeitlebens Wissenschaft und Künste.
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König Friedrich II. (1712, Reg. 1740-1786) |
Unter seinem Neffen König Friedrich Wilhelm II. (1744, Reg. 1786-1797), der den Ideen der Aufklärung feindlich gegenüber stand, ging es wegen seiner und der Unfähigkeit des von ihm berufenen Kabinetts mit der Wirtschaft und dem außenpolitischen Ansehen Preußens wieder bergab.
Die Zentralisierung und Bürokratisierung des Landes durch die großen Preußenherrscher bekam auch sehr schnell die Kommune Calbe zu spüren. Als erste Verwaltungsmaßnahmen wurden 1685 die statistische Erfassung der Bevölkerung des neuen Herzogtums Magdeburg, später (1726) die Vermessung der Gemarkung Calbe sowie der Ämter durchgeführt und ein neues Kataster angelegt. Aus dem bischöflichen Schlossamt wurde 1685 das Amt Calbe; es wurde von Beamten, die hier wie überall in Brandenburg-Preußen gut davon leben konnten, erblich gepachtet (wenn nicht anders vermerkt, stammen die meisten Angaben aus Reccius, Chronik…, a. a. O., S. 61ff.). Am Ende des 17. Jahrhunderts waren aus den Vögten und Schlosshauptmännern des Mittelalters preußische Amtmänner geworden (vgl. Hertel, S. 172). Sie hatten meist den akademischen Titel Lizentiat oder Magister erworben und waren von ihrem König zu Königlich Preußischen Räten ernannt worden. Die zur Loyalität gegenüber König und Staat verpflichteten Beamten wurden die wichtigsten Stützen Preußens. In den ersten Jahren, als es noch Amtspächter gab, die keine juristische Ausbildung hatten, wurden ihnen Justitiare zur Seite gestellt (vgl. Hertel, S. 173). Für den anspruchsvollen Lebensstil der höheren Beamten mussten die vielen dem Amt untertänigen hörigen und leibeigenen Bauern die wirtschaftliche Grundlage durch ihre Abgaben und Dienste schaffen. Den Amtmännern unterstanden die beiden Vorstädte sowie die Dörfer Biere, Eickendorf, Eggersdorf, Brumby, Zens, Micheln, Maxdorf, Elmen, Salze, Zuchau und Gramsdorf (vgl. Hertel, S. 175).
1708 wurde der jährlich wechselnde Rat auf Befehl des Königs in einen ständigen Magistrat (Mitglieder auf Lebenszeit) umgewandelt. Er bestand 1708 aus zunächst 5 Personen, dem Bürgermeister, Rittergutsbesitzer und Steuerdirektor Reichenbach, dem Kämmerer, einem Akziseeinnehmer, den 2 Ratmännern, einem Stadt- und Landrichter und einem Gutspächter und dem Syndikus. Später kam noch ein Zweiter Bürgermeister dazu, so dass es 6 Magistratsmitglieder wurden. In friderizianischer Zeit ergänzte man den Magistrat durch die Sechsmänner. Schon am ersten Magistrat wurde deutlich, dass es bei den neu geschaffenen städtischen Verwaltungsorganen auf staatliche Beamte, die zur Loyalität gegenüber König und Staat verpflichtet waren, ankam.
Entsprechend den militärischen Ambitionen der Könige, die Magdeburg zur zeitgemäßen Festung ausbauen wollten, wurde 1714 die Landesregierung von Halle wieder nach Magdeburg verlegt. Zum Festungsbau musste auch die Stadt Calbe auf königlichen Befehl 1704 beisteuern, mit der erheblichen Summe von 1047 Talern.
Die Wohnung des Försters, die so genannte Heidereiterei, wurde 1709 aus der Schlossvorstadt an den Wald von Schwarz verlegt, um Wilddiebereien und Holzdiebstähle leichter verhindern zu können. Zur genauen Erfassung des Güterverkehrs wurden schon 1698 amtliche Torschreiber eingesetzt. Im gleichen Jahr erhielten auch ausgebildete Schreib- und Rechenmeister zur Unterweisung des Magistrats und der anderen Beamten freie Wohnungen in Calbe. Zur Verbesserung der Kommunikation von „oben nach unten“ und umgekehrt gab es seit 1713 Landreiter. Seit dem Soldatenkönig hießen die vorgesetzten königlichen Landes-Beamten (in unserem Falle in Magdeburg) „Kriegs- und Domänenräte“, denn Friedrich Wilhelm I. hatte 1722 ein „schlankes Superministerium“, das „Generaloberkriegs- Finanz- und Domänendirektorium“, geschaffen, das alle Aufgaben der Wirtschaft, Verwaltung und des Militärs mit minimalem Aufwand zentralistisch zu realisieren hatte. 1715 reiste der Kriegs- und Steuerkommissar Rudloff extra aus Magdeburg an, um den auf dem Rathaus versammelten Bürgern eine Reihe neuer königlicher Verfügungen bekannt zu geben. In Zukunft besorgte das, wie inzwischen auch in anderen Städten, ein Ausrufer, der aber auch gleichzeitig das derzeitige Warenangebot mit Preisen kundtat. 1717 und 1723 wurden scharfe Bestimmungen gegen die „Zuchtlosigkeit der Jugend“ in Calbe verkündet, und 1739 kam die Anweisung des Kriegs- und Domänenrates aus Magdeburg, dass die Bürger mindestens einmal wöchentlich die Straße vor ihrem Hause fegen mussten. Den alten Streit, wie er seit dem Mittelalter zwischen dem erzbischöflichen Schlossamt und dem städtischen Rat geführt worden war, wollten auch die Ratsmänner „gewohnheitsmäßig“ weiter führen. Sie hatten wohl noch nicht ganz begriffen, dass es sich beim brandenburgisch-preußischen Zentral- und Beamtenstaat um eine neue Qualität der Administration handelte. In alter Manier verwahrte sich Stadt-Syndikus Reichenbach 1689 dagegen, dass die Bürger dem Amtspächter, der zum Stadt- und Landrichter ernannt worden war, juristisch unterstellt sein sollten, zumal dieser rechtsunkundig war und deshalb de facto der Amtsaktuar die Rolle des Richters versah. Im weiteren wurde der Aktuar sogar als Feind des Rates denunziert, und die Amtsseite bezichtigte den Syndikus des Aktendiebstahls. Besonders erbost waren die Bürger darüber, dass der Herr Amtsaktuar die Gerichtsverhandlungen „aus Bequemlichkeit“, wie sie meinten, im Schloss durchführte. So konnte aber der Streit zwischen preußischen Beamten und Untertanen nicht weitergehen; 1722 erschien deshalb der Magdeburger Königliche Kriegsrat Horn „vor Ort“ in Calbe und machte klar, dass es um handfeste Interessen des Staates und der Wirtschaft und nicht um kleinkarierte Rechthabereien der Stadtoberschicht ging. So entschied er u. a. gegen die Ratsherren für den Verbleib eines Jungen in der Tuchmacher-Lehre, obwohl dieser 6 Monate nach der Hochzeit seiner Eltern geboren, also unehelich gezeugt worden war. Außerdem verlangte der hohe Beamte wieder einmal die Beseitigung der Misthaufen von den Straßen und gab baupolizeiliche Befehle.
1730 bekam der Magistrat schließlich einen Königlich Preußischen Rat als Beigeordneten des zweiten Bürgermeisters, der durch den Kriegsrat Horn in sein Amt eingeführt wurde. Es dauerte aber immerhin noch bis 1799, dass dem Magistrat und seinem Syndikus jegliche juristischen Befugnisse (z. B. Testamentsannahmen) entzogen wurden; 1816 wurde das Amt des Syndikus ganz abgeschafft.
Besonders unter Friedrich II. wurde die Justiz entsprechend den Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus reformiert. Der König war stolz darauf, dass in seinem Staat jeder Untertan sein Recht fand. Wie stark sich die Situation verändert hatte, zeigt eine Aktennotiz von 1747, dass der Bürger Valtin Siedentopf einen Verweis erhielt, weil "er wiederholt seine Magd mit Schlägen gar übel traktieret". Als Siedentopf zur Entschuldigung behauptete, die Magd habe ihn bestohlen, erklärte der Magistrat, "er habe dergleichen der Obrigkeit zur Bestrafung zu melden und dürfe sich nicht eigenmächtig Satisfaktion verschaffen". 5 Tage Arrest erhielt Siedentopf dann doch noch, als er verkündete, "er scheiße auf den Magistrat".
Um mehr Hafträume zu schaffen, baute man in Calbe 1805 den Turm am Brumbyer Tor in ein zweites städtisches Gefängnis um (vgl. Hertel, S. 114).
In preußischer Zeit war der erst 1656 neu errichtete, gute alte Roland (vgl. Abschn. 4) nur noch ein Schmuck- und Schaustück geworden, der an einstige große Zeiten städtischer, wenn auch nur teilweiser Eigenverantwortlichkeit erinnerte.
Noch 1688 war in Calbe der lahme Meister Stoppel wegen eines 19jährigen Paktes mit dem Teufel!!! verbrannt worden (vgl. ebenda, S. 103). Eine der ersten Amtshandlungen nach Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. war 1714 das Verbot der Hexenprozesse. 1715 bekam der Henker den Befehl, die Brandsäule an der Radelbreite im Norden vor der Stadt zu beseitigen. Auch andere mit Quälereien verbundene Hinrichtungsarten wie das Rädern wurden in Preußen verboten. Schandsteine und Pranger blieben aber bestehen. Die Übertretung der ständischen Kleiderordnung genügte, um hart bestraft zu werden. 1723 hatte es die Magd Marie Golitz gewagt, auf der Straße eine Baumwollschürze!!! zu tragen. Deshalb musste sie mit umgehängter Schürze drei Tage!!! am Pranger stehen. Das harte Vorgehen gegen die „Putzsucht“ der Mägde, das uns in den Annalen jener Zeit öfter begegnet, hatte aber auch etwas mit dem Vordringen des preußischen Pietismus und seiner Schmuckfeindlichkeit zu tun (vgl. weiter unten).
Von 1700 bis 1780 stand der Galgen im Bereich der heutigen Kleingärten hinter der Bahnbrücke links auf der Höhe der Gärtnerei. Diese Gegend 300 m westlich hinter der Bahnlinie hieß damals die "Amtsbreite", "Galgenbreite" oder "Vor dem Gericht". Der Galgen bestand aus drei gemauerten Säulen, auf denen oben ein mit Haken versehener Querbalken lag. Eine Leiter diente den Gesellen des Henkers dazu, die Stricke für die Delinquenten anbringen und die Gehenkten wieder abnehmen zu können. Der durch den Richter der Regierung Verurteilte wurde auf einem zweirädrigen Karren aus der Stadt gefahren und durch den Nachrichter (Henker) an diesem Gerüst gehenkt. Die Leichen der Hingerichteten wurden an Ort und Stelle unter dem Galgen verscharrt oder an eine Universität zu wissenschaftlichen Zwecken geliefert (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 41). Nach 1780 scheint Calbe keine eigene Hinrichtungsstätte mehr gehabt zu haben. Die Zeit der Aufklärung hatte wie in anderen preußischen Städten die Zahl der Hinrichtungen, vornehmlich der öffentlichen, deutlich zurück gehen lassen.
Aus dem „unehrenhaften“ mittelalterlichen Beruf des Henkers war der Posten eines Nachrichters geworden, der als preußischer Beamter seine Tochter auf eine höhere Schule schicken konnte und dessen Sohn Dr. med. wurde, wie man am Beispiel des Scharfrichters Kahlo im 18. Jahrhundert sehen konnte. Der anrüchige Beruf des Abdeckers oder Schinders, den der Nachrichter seit dem Mittelalter meist mit ausübte, hieß nun „Caviller“ (vgl. Hertel, S. 98). Auch die Cavillerei und die Nachrichterei waren Erbpachtämter geworden.
Wie die Könige in anderen führenden europäischen Ländern orientierten sich die preußischen Fürsten und Monarchen ebenfalls auf das merkantilistische Wirtschaftssystem, um ihr Land reich und unabhängig zu machen. Das in Preußen auch Kameralismus (frühe Form der Volkswirtschaftslehre) genannte System setzte hier auf eine möglichst starke aktive Handelsbilanz durch Schutz der eigenen Warenproduktion und auf Peuplierung (Einwanderungspolitik).
Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung war erst einmal die Einführung einheitlicher Maße. 1714 wurde in Calbe bekannt gegeben, dass von nun an im Lande die so genannten Berliner Maße galten. Die Hohlmaße Scheffel und Metze wurden geeicht und durch einen Wagemeister beaufsichtigt. Wegezölle und mit ihnen die Zollbeamten, die seit dem Mittelalter immer noch Geleitsmänner genannt wurden, bekamen wieder eine große Bedeutung. Um die seit alten Zeiten bevorzugte Umgehung des Wegezolls an der Westseite der Stadt vorbei zu unterbinden, legte die königliche Regierung die Fernverkehrsstraße in Richtung Halle durch das Brumbyer Tor, wo auch ein Zollhaus errichtet wurde. 1693 wurde dieser neue Weg mit Steinen aus Glöthe gepflastert.
Die Bürger waren mit einer Vielzahl von Steuern belegt, die von Akzise- und Steuerbeamten erhoben und eingetrieben wurden. Unter Akzisen verstand man indirekte Verbrauchersteuern, die besonders auf Güter des täglichen Bedarfs oft gleich vor den Stadttoren erhoben wurden und wie eine heutige Mehrwertsteuer eine Preiserhöhung bewirkten. Daneben gab es die direkten Steuern (Kontributionen zum Aufbau und Unterhalt der riesigen Militärmaschine), besonders die Grundsteuern. Die große Schar der niederen Steuer- und Verwaltungsbeamten musste selber aus den Steuergeldern, wenn auch recht schmal, entlohnt werden, da sie keine Gutspächter waren. Die äußerst geringe Besoldung der niederen Beamten, die man damals noch allgemein Offizianten oder Staatsdiener nannte, wurde durch die „Ehre“, dem preußischen Staat zu dienen, durch die klingenden Titel wie „Königlicher Rat“ oder Steuerkommissar und die Aussicht auf eine sehr bescheidene Pension wieder wett gemacht. Außerdem hatte jeder in der preußischen Beamtenhierarchie die Möglichkeit, sich durch besonderen Fleiß ein Stück weit auf den raffiniert ausgeklügelten Stufen nach oben zu dienen, zu avancieren, wie es hieß.
Um Warensteuer-Hinterziehungen durch Schmuggel zu verhindern, erging 1722 der königliche Befehl an die Calbenser, Türen zur Saale hin zuzumauern.
Wer in eine andere Stadt ziehen wollte, musste ein Wegzugsgeld in der drastischen Höhe von 10 Prozent seines Gesamtvermögens bezahlen (1711).
Gepflasterte Fernverkehrsstraßen waren bis zum Tode Friedrichs II. wegen der immensen Kosten (10 km befestigter Straße kosteten 53 300 Taler) verpönt. Erst nach Friedrich dem Großen entstanden die ersten Chausseen nach französischem Vorbild. 1788 war in der Nähe Calbes die bedeutende Magdeburg-Leipziger Chaussee (heute: B 6, B 71) auf Befehl Friedrich Wilhelms II. gebaut worden. Innerhalb Calbes waren schon seit der Zeit Friedrichs I. neue, allerdings unbefestigte Straßen entstanden. Nach Abriss der südlichen Stadtmauer wurde 1697 die „neue Straße“ (heute: Neustadt) und nach Zufüllen des nördlichen Grabens 1710 die Koloniestraße (heute: Grabenstraße) angelegt. An der Westseite um die Stadt herum wurde 1695 eine Straße gebaut, allerdings ohne königlich-staatliche Unterstützung. Die Könige beschränkten sich darauf, die Städte und Landadligen durch Verordnungen zum Bau von Straßen zu verpflichten, was aber oft an deren leeren Kassen scheiterte. Die Pflasterung der wichtigsten Straßen innerhalb der Stadt begann erst unter Friedrich Wilhelm II., die der Grabenstraße erfolgte 1788. Die Straßenpflasterung in Calbe ging 1798 weiter zügig vonstatten, die Steine kamen aus Rothenburg bei Könnern saaleaufwärts per Schiff.
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Hotel „Schwarzer Adler“ 1927 |
Die preußischen Könige bzw. ihre Beamten achteten streng auf die Benutzung der vorgeschriebenen Verkehrswege, dass ihnen auch keine einzige Zoll- und Steuerabgabe entging. Zur Versorgung der Fuhr- und Handelsleute erging 1697 der kurfürstliche Befehl, entlang dieser Magistralen „gute Gasthöfe“ zu bauen. Vor dem Brumbyer Tor wurde im gleichen Jahr für 858 Taler der „Rote Adler“ gebaut, der an einen Posthalter und Gastwirt verpachtet wurde. Später wurde der Gasthof nach dem preußischen Wappentier „Schwarzer Adler“ genannt. Man baute im 19. Jahrhundert das Gebäude zu einem Hotel um und nutzte es nach 1945 als Geschäfts- und Wohnhaus.
Um den großen Verwaltungs-, Wirtschafts- und Militärapparat effizient in Gang zu halten, war eine gute Kommunikation vonnöten. Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte trotz Widerspruchs des Kaisers und des Reichs-Erbpostmeisters, Graf von Thurn und Taxis, die Postverwaltung in seinem Territorium als sein Regal behauptet. Er hob den Reichs-Botendienst in seinem Land auf und setzte an dessen Stelle eine wöchentlich zweimalige Geschwindpost und eine langsame Post zwischen Magdeburg und Halle ein. Alle diese Posten mussten die Fähre bei Tippelskirchen passieren. Als der König 1711 eine andere Poststrecke über Bernburg einrichtete (vgl. Hertel, S. 125 f.), fielen bei dieser Route die
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Verzögerung und die Unwägbarkeiten durch den Fährbetrieb weg. Calbe hatte schon 1686 ein kurfürstliches Postamt bekommen, weil es an der Strecke Magdeburg-Halle lag. Der erste Calber Postmeister war Johann Bertram. Später hatte es der Postmeister Förster bis zum Titel eines Hofrates gebracht. Er wurde 1739 zum Bürgermeister ernannt, ein Zeichen für die hohe Wertschätzung des preußischen Postwesens.
Unter Friedrich I. wurden die Postfrequenzen stark erweitert, und 1713 erließ Friedrich Wilhelm I. die erste preußische Postverordnung, zu der er sich preußisch knapp äußerte: „ …sollen Posten anlegen in Preussen von Ort zu Ort, ich will haben ein Landt, das kultivieret sein soll, [ge]höret Post dazu.“ (nach: Preußen - Chronik eines deutschen Staates, http://www.preussen-chronik.de)
Befördert wurden nicht nur staatliche, sondern auch private Nachrichten sowie private Personen und Güter. Das brachte viel Geld in die Staatskasse. Von Postmeistern versorgte Poststationen lagen ungefähr 4,6 bis 5 preußische Meilen (Meile = 7,5325 km) voneinander entfernt. Das entsprach bei den schlechten Straßenverhältnissen einer Tagereise mit dem Postwagen. Um von Calbe nach Magdeburg zu kommen, war für einen im 18. Jahrhundert mit der Post Reisenden also ein Tag einzuplanen, und von Calbe nach Halle waren es zwei Tage.
Schon 1740 brachte das staatliche Postunternehmen 220 000 Taler Reingewinn. Die Verordnungen Friedrichs II. von 1766 für das Postwesen und die Postmeister regelten alle Dienstvorgänge peinlich genau, und bei Friedrichs Tode hatte die Post während seiner Regierungszeit 20 Millionen Taler erwirtschaftet, und das trotz des schlechten Straßenzustandes.
Nachdem die Saaleschifffahrt im Dreißigjährigen Krieg fast völlig zum Erliegen gekommen und die Schleuse von 1605 (vgl. Abschnitt 4) ziemlich verfallen war, befahl Kurfürst Friedrich 1695 den Bau einer neuen, mit Steinen befestigten Schleuse. Sie wurde etwas weiter nördlich von der alten Anlage ausgeführt. Insgesamt mussten 7 Schleusen von Halle bis zur Saalemündung angelegt werden (Calbe war die letzte), was enorme Summen verschlang (vgl. Hertel, S. 233). Da Steine knapp und teuer waren, wurde kurzerhand auf kurfürstlichen Befehl die Hauptkirche des ehemaligen Klosters „Gottes Gnade“ von Osten her Stein für Stein abgetragen und das Material (im Wert von 5000 Talern) einschließlich romanischer Verzierungen und gotischer Skulpturen im Schleusenbett verbaut. Die große Glocke, die schon in der Reformationszeit eine pikante Rolle gespielt hatte (vgl. Abschnitt 3), wurde bei dieser Gelegenheit auch gleich mit abtransportiert. In Berlin schmolz man die Gottesgnadener Glocke ein und goss daraus zwei Glocken für die Bethlehemkirche der böhmischen Exilanten (vgl. Station 12).
Die 1695/96 in Betrieb genommene Schleuse wurde bis 1891genutzt.
Bald kam die Schifffahrt wieder in Gang, und 1704 passierten durchschnittlich 10 Schiffe Calbe (vgl. Hertel, S. 246). Die Saaledeiche wurden verbessert und ausgebaut. Als Beamter war ein Deichinspektor eingesetzt worden.
Der Umschlaghafen der Stadt lag am Mühlgraben auf dem Schlossanger. Hier war 1700 eine Schiffswerkstatt eingerichtet worden.
Um die Zölle an der Saalemündung zu umgehen, hatte sich König Friedrich Wilhelm I. in die Idee eines Abkürzungs-Kanals von Calbe nach Frohse verliebt. Das so genannte Saalhorn, die Mündungsstelle der Saale in die Elbe, befand sich mit einer dynastischen Nebenlinie, dem Hause Sachsen-Barby, in kursächsischer Hand. Hier traf man auf einen bedeutenden Umschlagplatz des gesamten Salz-, Holz- und Kohlehandels, aber hier wurde von den Kur-Sachsen auch kräftig durch Zölle abkassiert.
Der sparsame Soldatenkönig wollte also nicht nur die Schifffahrtswege verkürzen, sondern in erster Linie den konkurrierenden Kursachsen ein Schnippchen schlagen, wenn er einen geraden Kanal von der Bernburger Vorstadt an Calbe entlang bis nach Frohse bei Schönebeck bauen ließ. Damit musste der Preuße aber nicht nur in Konflikte mit dem Hof in Dresden kommen, sondern auch mit dem Fürsten Johann August von Anhalt-Zerbst, einem Onkel der späteren russischen Zarin Katharina II., dem unter anderem auch das Gebiet um Klein-Mühlingen gehörte. Diese Enklave in preußischem Gebiet wurde bei dem Projekt unweigerlich durchschnitten. Unter diesem schlechten Stern der drohenden Auseinandersetzungen mit zwei nachbarlichen Territorial-Mächten, den Anhaltinern und den Kursachsen, wurde der Kanalbau in Angriff genommen.
Schon am 23. Januar 1726 war der ausgearbeitete Plan für den Kanalbau dem König vorgelegt worden. Für Anwerbungen, Anmeldungen und Anweisungen wurde der Oberstleutnant von Wallrave, gleichsam als Koordinator und Bauleiter, in der Anfangsphase verantwortlich gemacht. Bereits am 4. Mai 1725 hatte Wallrave zusammen mit dem Magdeburger Kammerpräsidenten von Katte und anderen Regierungsmitgliedern das in Frage kommende Terrain zwischen Frohse und Calbe besichtigt. Insgesamt veranschlagte man als Baukosten 200 000 Taler, die erste Zahlung von vorläufig 50 000 Talern erfolgte am 29. Juni 1726. Um zu sparen, wurden die Steine der schon halb abgebrochenen Stiftskirche in Gottesgnaden (s. oben) restlos abgetragen. Sie sollten zum Bau der 5 Schleusen benutzt werden. Die Strecke war in 139 Stationen zu je 30 Ruten (etwa 120 bis 150 Meter) eingeteilt worden. Die Kanaltiefe sollte durchschnittlich etwa 5 Meter betragen, die Breite an der Sohle 10 Meter.
Beim Baubeginn in Frohse am 3. Februar 1727 waren die neu ernannten Kanalbau-Kommissionsräte Fürst Leopold II. von Anhalt-Dessau (der "Alte Dessauer"), Gouverneur der Magdeburger Festung, sowie die Kriegs- und Domänenräte Kollern und Wernicke anwesend. Vom Februar stieg die Zahl der Arbeiter innerhalb weniger Wochen von mehr als 1000 auf 2500. Diese hier nie zuvor gesehenen Arbeitermassen wurden in Calbe, Schönebeck, Salze, Frohse, den umliegenden Dörfern und verschiedenen Gasthäusern untergebracht. Von ihrem Arbeitslohn zahlte man ihnen immer nur einen geringen Teil aus, damit sie auch bis zum Schluss beim Kanalbau blieben.
Im März gingen die Arbeiten zügig voran, und am 1. April fand ein Ortstermin aller Hauptverantwortlichen mit dem Alten Dessauer in Calbe statt, um den Kanalverlauf bei möglichst geringem Häuserverlust festzulegen. Das Kanal-Bett sollte westlich neben der heutigen Arnstedt- und Magdeburger Straße entlangführen. Beim erneuten Ortstermin der Verantwortlichen am 2. Mai in der Bernburger Vorstadt trennten nur noch wenige Meter das Kanalbett von der Saale. Ein Teil des Laurentiusfriedhofs und zwei Häuser an der Bernburger Straße waren dabei geopfert worden. Nachdem nun die Hauptarbeiten beendet waren, wurden die Arbeiter großenteils, bis auf 400, die an den Wasserpumpen und Rammen bleiben mussten, entlassen. Der Ausbau der Schleusen und die Durchstiche bei Frohse und Calbe wurden erwartet.
Doch am 28. Juli hieß der Befehl: Arbeiten am Kanal bis auf weiteres einstellen und alle Arbeiter entlassen. Die ein Jahr zuvor ausgezahlten 50 000 Taler waren bis auf 149 Taler verbraucht worden. Der König gab zerknirscht mit den "preußisch" knappen Worten auf: "Soll cessiren [aufhören, Schluss machen], schade daß das Geld soll in Dreck geschmissen werden." (Dietrich, Ruhestätten, S. 21).
Wahrscheinlich trugen diplomatische Interventionen und hohe Entschädigungsforderungen des Fürsten von Anhalt-Zerbst für die Nutzung seiner Mühlinger Enklave (s. oben) dazu bei. Es waren aber wohl hauptsächlich die massiven wirtschaftlichen Drohungen Augusts des Starken, des mächtigen kursächsischen Herrschers, gewesen, die Friedrich Wilhelm I. in die Knie gezwungen hatten. Zum Abbruch trug sicher auch die Berechnung der erheblichen Erhaltungskosten des langen Kanals (17km) bei.
1799 wurde der Plan des Kanals erneut von der Magdeburgischen Kammer aufgegriffen, was bei Friedrich Wilhelm III. von Preußen begeisterte Zustimmung fand, jedoch durch die antifranzösischen Koalitionskriege wieder beiseite geschoben werden musste. Einen letzten Anlauf unternahm man 1810 und plante Kosten in Höhe von 2Millionen Talern ein. Da war es das negative Gutachten des Schönebecker Salinendirektors, das die Magdeburger Regierung von einem solchen Kanal endgültig Abstand nehmen ließ.
Allmählich beseitigte man wieder die Kanalspuren. Das unebene Kirchhofgelände wurde einigermaßen planiert. Die Bewohner der Alten und der Neuen Sorge füllten den Graben und legten neue Gärten an.
Der Landgraben (heute noch im Volksmund: "der Kanal") an der heutigen Straße nach Schönebeck und der Schönebecker Solgraben sind übrigens Relikte dieser Ausschachtungsarbeiten für den geplanten Saale-Elbe-Kanal.
Ebenso wie die Ämter (Schloss und Gottesgnaden) verpachteten die preußischen Könige als Rechtsnachfolger der Erzbischöfe bzw. Administratoren und des säkularisierten Klosters auch die Mühle, die Salpeterhütte, die Fischerei u. a. Das Rittergut wurde sogar verkauft.
1683 pachtete ein Neugatterslebener Müller die Calbesche Mühle mit 8 Gängen einschließlich der Walk- und Sägemühle zusammen mit den Lachsreusen für 500 Taler jährlich. Ersatzmühlsteine sollten aus den Steinbrüchen in Blankenheim, Rothenburg und Hettstedt frei herantransportiert werden. Auch die Anfahrt des zu sägenden Holzes aus dem Lödderitzer Wald sollte frei sein. Frei durften nur die Beamten der zwei Ämter Getreide für ihren Haushaltsbedarf mahlen lassen.
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Steintafel mit Hinweis auf den Mühlen-Erbpächter Andreas Christoph Donner 1797 |
Die Untertanen der zwei Ämter, also die Dorfbewohner in einem Umkreis mit einem Radius von ca. 15 km, wurden verpflichtet, in der Calbeschen Mühle mahlen zu lassen. Um den bei den Müllern in der Vergangenheit so beliebten Betrügereien vorzubeugen, richtete die Stadt eine Mehlwaage mit einem vereidigten Waagemeister ein. Die Maße, kupferne Metzen und Scheffel, waren mit dem Stadtwappen und einem C versehen. Als Calbe bereits eine bedeutende Tuchmacherstadt geworden war (s. unten), befahl König Friedrich Wilhelm I. 1723 den Bau einer weiteren Walkmühle und einer Ölpresse, zu dem die Stadt die Hälfte der Kosten (1614 Taler) beisteuern sollte. Der Magistrat antwortete, dass man erst einmal die Breite, wohl auch wegen des Militärs (s. Teil 2), pflastern müsse. Der König zog seinen Befehl zurück. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist die Walkmühle für grobes Tuch, für Fries, neben der Getreidemühle dennoch gebaut worden, ebenso eine Öl-, eine Graupen- und eine neue Sägemühle.
Auch die Salpeterhütte in der Bernburger Vorstadt (vgl. Abschnitt 3), die bis 1680 dem Administrator August, Herzog von Sachsen-Weißenfels, gehört hatte, vor dem Dreißigjährigen Krieg aber städtisches Bürgergut gewesen war, kam unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft zur allgemeinen Verpachtung. Für eine Pacht von 200 Talern jährlich nutzten Hofrat Steinhäuser, Kommerzienrat Guischard und Geheimer Kriegsrat Krug von Nidda das Gut, das nun mit einer niederen Gerichtsbarkeit über die Hüttenarbeiter ausgestattet war. 1748 erließ der preußische König Friedrich II. wegen seines großen Schießpulverbedarfes den Befehl, dass die Salpeterhüttenpächter verpflichtet seien, Salpeter nicht nur an hütteneigenen, sondern an allen Mauern der Stadt, auch an und in den Häusern der Bürger und Vorstadtbewohner, abkratzen zu lassen, was natürlich zu Empörungen führte. Eigens zur Salpetergewinnung sollten Salpeterwände errichtet werden. 1767 wurde das gesamte Grundstück, das mit seinen Obstgärten inzwischen bis in die heutige Große Deichstraße hinein reichte, an Kriegs- und Domänenrat Schlutius verpachtet. Allerdings musste sich dieser verpflichten, jährlich 1000 Zentner Salpeter, den Zentner für einen Preis von 15 Talern, nach Berlin zu liefern. 1794 wurde die Salpetersiederei in die Verwaltung des Bergamtes Rothenburg bei Könnern eingegliedert.
Ein besonderes Problem stellte für die preußischen Könige die Verpachtung der Fischerei (vgl. Abschnitte 3 und 4) und damit die Auflösung der traditionellen Nicolai-Brüderschaft dar.
Die Innungsstatuten der Nicolai-Brüderschaft waren am 4. Juni 1687 vom neuen brandenburgisch-preußischen Landesherrn, dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm, und am 1. August 1724 auch vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. bestätigt worden. Der Soldatenkönig hatte aber von den Fischern für diese Gefälligkeit 50 Taler in seine "Rekrutenkasse" gefordert. Die Fischer antworteten, dass sie zu arm seien, um eine solch hohe Summe aufzubringen, und boten dem "Soldatenkönig" stattdessen 25 Taler an. Und Friedrich Wilhelm gab sich nach einiger Zeit zufrieden. Mit dieser Bestätigung war die Nicolai-Brüderschaft eine königlich-privilegierte Innung geworden. Die Brüderschaft trotzte dem König Friedrich Wilhelm I. sogar eine Senkung der Erbpacht von 200 auf 100 Taler ab. Die Fischer hatten in einem Schreiben an den König erklärt, dass die Fischer-Brüder auf keinen Fall mehr als 100 Taler aufbringen zu könnten. Wütend schrieb Friedrich Wilhelm I. die Fischerei zur allgemeinen Verpachtung aus. Wohl aus Respekt gegenüber den Nicolai-Brüdern und aus Furcht vor einer Ächtung meldeten sich keine neuen Pächter. Da gab der König klein bei und war schließlich am 28. März 1713 mit den 100 Talern Erbpacht-Gebühren einverstanden (vgl. Hertel, S. 257). Später ist die Pacht-Taxe sogar noch auf 60 Taler gesenkt worden. Die kleine Fischergemeinschaft hatte ihre obsolete Brüderschaft, die in einer Zeit des Kameralismus und aufkommenden modernen Kapitalismus anachronistisch geworden war, gerettet.
Als 1684 das Ehepaar von Schlegel, einzige Erben des traditionsreichen Rittergutes, kinderlos starb, fiel das Rittergut an den kurbrandenburgischen Kurfürsten. 1685 erwarb der Syndikus Johann Friedrich Reichenbach das Rittergut "erbkauffsweise samt allen Pertinentien [Zugehörigkeiten] und zugehörigen Gerechtigkeiten, Aeckern, Wiesen und Garten" (Hävecker, S. 80). Nun besaß der in den Adelsstand erhobene von Reichenbach sowohl das beachtliche Rittergut als auch den stolzen Lemmerhof in der Nähe des Brumbyer Tores (vgl. Station 18). Er hatte 1666 in Leipzig studiert, wurde am 29.4.1675 in Calbe als Syndikus vereidigt und hier 1708 von der königlich-preußischen Regierung als Bürgermeister eingesetzt.
Nachdem 1694 das Rittergutshaus der Reichenbachs in der Ritterstraße 1 durch eine Feuersbrunst vernichtet worden war, blieb die Stelle erst einmal 19 Jahre wüst. Die Stadt hatte ja darauf keinen Einfluss, und die wohlhabende Familie Reichenbach, die andere Häuser besaß, war auf das alte Gutshaus nicht angewiesen. Erst nach dem Tode ihres Mannes (1710) ließ die Witwe Reichenbach 1715 das Rittergutshaus im barocken Stil wieder aufbauen. Die lateinische Inschrift am Tor lautete: "Mit Gottes gnädiger Güte, dem allein alles, was man empfängt, zuzuschreiben ist, hat dieses Haus, das du hier errichtet siehst, und das ehedem durch eine Feuersbrunst vernichtet war, die Witwe Anna Katharina Reichenbachin geb. Fiedlern 1715 wieder aufbauen lassen, nachdem ihr Gemahl Johann Friedrich Reichenbach, kurfürstlicher [brandenburgischer] und bernburgisch-anhaltinischer Rat, Landrichter über Rosenburg, Steuerdirektor und von hiesiger Stadt Syndicus und Bürgermeister, fünf Jahre vorher verschieden war."
Rittergutsbesitzer hatten auch in preußischer Zeit außer anderen Obrigkeitsrechten die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizeistrafgewalt über die untertänigen Bauern inne. Darum gab es auch an der früheren kleinen Eingangspforte zum Hof des Gutes ein Halseisen wie am Markt oder am Schlosstor, an das straffällige Hintersassen des Rittergutes angeschlossen wurden (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 14). Diese Stelle nannte man den Pranger des Rittergutes.
1752 pachtete Andreas Franke, wohnhaft in der Poststraße, das Rittergut von den Reichenbachschen Erben. 1785 besaß das eigenständige Rittergut etwa ein Zehntel des Viehbestandes der Stadt Calbe (44 Rinder, 200 Schafe, 8 Pferde) und ca. 30 Grundzinshauser nicht nur in Calbe und den Vorstädten, sondern u. a. auch in Staßfurt, Bernburg und Zens (Kinderling, Eine Ortsbeschreibung ...). Zum Rittergut gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts 345 Morgen Acker, die überall zwischen den Bürgeräckern verstreut, aber großenteils nahe bei der Stadt lagen. Sie bestanden jeweils aus zwei, vier und zehn bis 15 Morgen großen Flächen. Schließlich verkauften die Reichenbachschen Erben, die weit entfernt wohnten, das Rittergut an einen Schwiegersohn Frankes, den Färbermeister Schmidt, der das stark verschuldete Gut wiederum an einen Baron von Stedingk verkaufte. Als 1814 der Baron 80 Prozent des Grundes und Bodens (281 Morgen) an verschiedene Käufer veräußerte, war das Ende des Rittergutes, nicht aber des Gebäudes, eingeleitet worden.
Um die städtische Produktion anzukurbeln, hatte Friedrich Wilhelm I. in den 1720er und 30er Jahren Dorfhandwerker der Bekleidungsgewerbe mit Vergünstigungen animiert, nach Calbe zu ziehen. Zähneknirschend musste die Bürgerschaft auf die sonst üblichen Abgaben zum Bürgermahl und an die Innungen verzichten.
Zum Ausbau der neuen Residenz Potsdam hatte das Herzogtum Magdeburg 12 415 Taler, Calbe davon 300 Taler aufzubringen. Wie eine große Siedler-Werbeaktion des Soldatenkönigs für Potsdam in Calbe verlief, ist nicht bekannt.
Die Zeit Calbes unter den preußischen Königen ist verbunden mit einer Blütezeit der Tuch-, speziell der Friesproduktion.
Tuchmacher wurden damals Handwerker und Arbeiter genannt, die ein wollenes, aus Streichgarn erzeugtes Gewebe herstellten, dessen Oberfläche durch Walken und Scheren samtig weich geworden war. Walken erfolgte durch Drücken und Kneten unter Einwirkung von Wärme und Flüssigkeiten in Walkmühlen (vgl. oben). Das Tuchscheren, also das Kurzschneiden der Wollflusen auf weniger als einen Millimeter, geschah mit ca. 20 kg schweren Scheren, die von Hand bedient wurden. Meist wurde anschließend das Tuch durch spezielle Techniken gefärbt. Am Anfang der Tuchherstellung stand eine große Anzahl von Lehrjungen, Gesellen, Kindern und Frauen, die die Wolle vor dem vom Meister konzipierten (gezettelten) Webstück waschen, kardieren (grob kämmen), kämmen und spinnen mussten. Die fertigen Tuche eigneten sich vorzüglich zum Schneidern von Uniformen, an denen die preußischen Monarchen für ihr stehendes Heer einen großen Bedarf hatten, weshalb auch Schneider per königlichen Befehl nach Calbe beordert wurden. Besonders stark gewalktes lockeres, ungeschorenes Tuch wurde Fries genannt und für die Herstellung von Lazarett-, Pferde- und Biwak-Decken benötigt. Wegen des Fehlens von sachkundigen Scherern und der zunächst geringen Qualität der Wolle im Magdeburger Land wurden in Calbe zu Beginn des 18. Jahrhunderts fast nur Friese hergestellt.
Den Beginn des großen Aufschwungs der Calber Tuchproduktion bestimmte das Privilegium des Großen Kurfürsten vom 23. Dezember 1687 für 7 nach Calbe eingewanderte Pfälzer Tuchmacherfamilien. Die Schutzbriefe und Vergünstigungen zogen immer mehr Tuchmacher in die Stadt. 1733/34 waren unter 58 Neubürgern 25 Tuchmacher, unter ihnen der Stammvater der legendären Calbeschen Tuchfabrikanten-Familie Nicolai. Den königlichen Privilegienbrief erhielten die Tuchmacher der Stadt von Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1738. 1746 war ein erster Boom des Tuchgewerbes zu verzeichnen: 123 Meister stellten zusammen mit 140 Gesellen jährlich 8000 bis 9000 Stück Tuchprodukte, fast nur Friese (99,9%), her, das Stück zu 10 Talern (vgl. Hertel, S. 90). 1779 gab es in Calbe 134 Tuchmacher und 386 Spinner(innen), die hauptsächlich Friese im Wert von 65 756 Talern herstellten. Calbe lag in Bezug auf die Anzahl der im Tuchmachgewerbe Tätigen an der Spitze aller Städte im Magdeburger Land. 1754 hatte sich der Begriff Tuchmacherstraße für die alte Öl- bzw. Judenstraße durchgesetzt.
Je stärker die Tuchproduktion in Calbe aufblühte, desto mehr geriet der Wollhandel in die Hände von spekulierenden Kaufleuten. Trotz königlicher Verordnungen von 1747 und 1774 zum Schutz der Tuchproduzenten, die die Wollausfuhr und die Spekulation der Kaufleute verboten, kam die Tucherzeugung durch Verteuerung der Wolle und durch Verlag seitens der Händler zeitweilig ins Stocken. Krisen schüttelten die Branche, die erste schwere war die von 1740-1743. Die Geister des Kapitalismus, die von den preußischen Königen gerufen worden waren, zeigten nun auch ihre hässlichen Seiten. 1740 waren von 174 Tuchmachern 46 arbeitslos (26,4%). Das bedeutete damals Not und Elend für Leute, die als Weber, Walker und Scherer oft nicht gerade zum wohlhabenderen Handwerkertum gehörten. Auch die vielen Zuarbeiter, z. B. die Spinnerinnen, wurden dann brotlos. Um ihre Beschäftigung zu sichern, zahlten einige Spinnerinnen von ihrem ohnehin nicht üppigen Lohn Schutzgelder, und Tuchmacher verkauften Wolle, obwohl das verboten war (1714). Auf den Leipziger Messen zu Beginn der 1740er Jahre erreichten die Calbeschen Tuchmacher nur noch die Hälfte ihres bisherigen Absatzes, und die Tuchproduktion ging zeitweise stark zurück. 1770 würgte die Preisschere die Calbesche Tuchproduktion. Da das Gewerbe stark von der Armeeausstattung abhängig war, wirkten sich auch ausbleibende Kriege verheerend auf die Wirtschaftslage aus. Als die Meister in Erwartung des Bayrischen Erbfolgekrieges 1778 (vgl. Teil. 2 und Station 18) zu viel produziert hatten, und beim Ausbleiben der großen Schlachten auf ihren Waren sitzen blieben oder sie verschleudern mussten, führte das zum Ruin vieler Meister (vgl. Hertel, ebenda). Eine abstruse Situation: Während die einfachen Soldaten sich freuten, dass der Krieg nahezu friedlich im Sande verlaufen war, brachte das vielen Tuchmachern Verlust und Bankrott.
Staatshilfe war vonnöten, um das Tuchmachergewerbe in Calbe am Leben zu erhalten. Zu Beginn des Jahres 1786 schickten die Calber Tuchmacher an den zuständigen Kriegs- und Domänenrat Avenarius in Magdeburg einen Brief mit der Bitte um Rettung ihrer Existenzen. Darin hieß es, dass etwa zwei Drittel der 122 Meister als Knechte der Kaufleute anzusehen seien, „da sie gegen die Vorschüsse zu ihrem Wollankauf die fabrizierten Friese um solche Preise abliefern mußten, daß sie kaum das trockene Brot dabei verdienen und jährlich an 100 Taler verlieren, welche sie dann borgen und in Armut geraten mußten, so daß sie schließlich die Profession gar nicht mehr betreiben konnten.“ (vgl. Hertel, ebenda) Avenarius leitete den Hilferuf schleunigst nach Potsdam weiter, und am 17. Mai 1786 bewilligte der schwer kranke Friedrich II. 6000 Taler zum Wollkauf.
Um die Calber Tuchmacher von den Spekulationen und dem Verlagssystem der Kaufleute zu befreien, wurde 1792 ein staatliches königliches Wollmagazin vor dem Brumbyer Tor (heute: Friedensplatz/Magazinstraße) errichtet. Ein Ratmann und ein Obermeister fungierten als Verwalter. Durch den Aufkauf der Wolle seitens des Staates und das Verhindern des Vorkaufs durch die Händler bzw. deren Verlagspraktiken konnten die Meister nun mit Gewinn auf eigene Rechnung arbeiten. Auch die neue Erlaubnis (1789), mit einem amtlichen Genehmigungsschein die Wolle selbst in den Dörfern einkaufen zu dürfen, führte zu einem Aufschwung in der Friesproduktion. Aber schon 1795 gab es eine erneute Krise, bei der 27% der Tuchmacher arbeitslos wurden. Als man merkte, dass durch staatlichen Protektionismus die Sache nur verschlimmert wurde, gab Friedrich Wilhelm II. den Wollhandel 1802 gänzlich frei. Nun konnte das kapitalistische System voll greifen. Die Wollproduktion stieg zwar in den nächsten Jahren an, aber eine heftige Konkurrenz der Produzenten untereinander und auf dem Binnenmarkt führte zu einem verstärkten Ruin vieler Tuchmacher, die man später als Lohnarbeiter in den entstehenden Fabriken wieder fand. Die innovativsten Tuch-Produzenten aber, wie die Familien Ritter, Grobe (seit 1780) und Nicolai, wurden dabei wirtschaftlich immer leistungsfähiger und reicher. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzten die staatlichen Stellen mehr auf eine Steigerung der Produktion durch Verbesserung der Wollqualität, d. h. durch Züchtung edlerer Schafrassen.
Den preußischen Königen kam es ganz im Sinn des Kameralismus (s. oben) darauf an, so viel wie möglich im Land selbst zu erzeugen und so viel wie möglich gute Produkte auszuführen. Deshalb verboten sie beispielsweise die Einfuhr von Holz, und der Große Kurfürst befahl 1683, dass jedes Calbesche Brautpaar nach der Trauung zwei Bäume zu pflanzen hatte. Die Salpetersiederei in Calbe und die Salinen in Salze und Staßfurt brauchten viel Brennmaterial. Zunächst wurde der gesamte Schwarzer Busch 1781 gerodet, dann bezog man verstärkt Holz aus dem Lödderitzer Forst. Versuchsweise wurde 1785 auf dem Wartenberg –allerdings mit enttäuschendem Ergebnis- nach Kohle gegraben. Dabei fand man viele Urnen aus vorgeschichtlicher Zeit (s. Abschnitt 1).
Die allgemeinen Einfuhrverbote und die Schutzzölle wirkten allerdings für den Kleinhandel in Calbe recht schädigend, da die Stadt nah an den anhaltinischen (Nienburg, Kleinmühlingen) und kursächsischen (Barby) Grenzen lag. 1769 war der Calber Marktverkehr um 50% zurückgegangen. Die „ausländischen“ Händler wollten „sich den starken Visitationen durch die Accisebedienten nicht unterwerfen“ und blieben deshalb fort, meldete der Stadtkämmerer.
Herausragende Bedeutung hatte auch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion in Preußen. Im 18. Jahrhundert wurde auf den Stadt-Feldern weiterhin vorwiegend Getreide angebaut. Das für Calbe in späteren Zeiten so charakteristische Gemüse stand noch nicht im Mittelpunkt, wurde aber schon, besonders bei den Vorstädtern, in den Gärten gezüchtet, womit jene auch hausieren gingen (1723). Aber schon 1796 erhob ein Kammerrat Beschwerde darüber, dass die Calbenser auf den Brachen der ehemaligen Dreifelderwirtschaft statt Getreide Bohnen, Kartoffeln und anderes Gemüse anbauten.
Nach dem für Preußen desaströsen Siebenjährigen Krieg (vgl. Teil 2 und Station 18) hatte Friedrich II. das „Retablissement“, den raschen Wiederaufbau, angeordnet und alle Reserven dafür mobilisiert. Die Chemie hatte sich bereits als Wissenschaft gemausert und von ihrer „Mutter“, der okkulten Alchimie gelöst. Verbesserte Düngungsmethoden machten es möglich, allmählich auch die Brachen zu bebauen und von der traditionellen Dreifelderwirtschaft abzugehen. 1785 wurde in Calbe Dünger verkauft, und der Magistrat stellte fest, dass das Weideland immer knapper geworden war. Auch der Übergang zur Stallfütterung trug dazu bei, dass die extensive Weidewirtschaft zugunsten einer intensiveren Bebauung wich. Die noch 1688 nachweislich in Calbe genutzte Allmende, der Bürgerthie wie auch anderes allgemeines Weideland, musste deshalb ebenfalls als Ackerland zugänglich gemacht werden. Die jährliche Viehdrift über die Saale war zwar eine schöne, uralte Tradition, brachte aber viele Beschwerlichkeiten und Gefahren mit sich. 1720 waren z. B. vier Mägde bei der Überfahrt ertrunken. Solche Überquerungen des Flusses mit Kähnen waren in den 5 Weidemonaten zweimal täglich zum Melken der Kühe erforderlich. Diese Gefährdungen waren aber wohl nicht der Grund für die allmähliche Beseitigung der Allmende um Calbe, eher wohl die Bemühungen des Königs im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Reorganisation. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Thie nicht mehr als Viehweide und seit der Wende zum 19. Jahrhundert schon teilweise als Ackerland genutzt. 1771 erging an die Calbenser gegen die Einwände des Amtmannes die königliche Verfügung, die Brachen zu nutzen, wenn feuchte Böden um Calbe wie der Solbrunnen und das „gelobte Land“ in nassen Frühjahren nicht bestellbar seien. Auf den Übergang zur Stallfütterung des Viehs weist der Anbau von Rüben um Calbe und die Ausfuhr von Rübensaat im Jahre 1770 hin. Rüben, sowohl Kohlrüben als auch zuckerhaltige Runkelrüben, waren im Brandenburgischen schon vor den Kartoffeln angebaut worden. Von der durch den Chemiker Andreas Sigismund Marggraf 1747 entdeckten Kristallzuckergewinnung aus der Runkelrübe wollte der König nichts wissen. So blieb die Rübe bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts überwiegend eine Futterpflanze.
Die große Hungersnot im Reich, hervorgerufen durch die Missernten 1770 – 72 führte auch in Calbe, hier noch verstärkt durch zwei Hochwasser, zu einer Katastrophe. Die Menschen aßen vor Hunger Unkräuter wie die Wicke und fingen Fische, die in Pfützen auf den Feldern schwammen. 10 Prozent („über 300“) der Bewohner von Calbe starben 1772 an Typhus (vgl. Einwohnerzahlen Abb. unten). In Calbe dauerte das Desaster sogar noch bis 1773, als Mai-Schnee zur Vernichtung eines Teiles der Getreideernte beitrug. Erneut starben allein in der Stephani-Gemeinde 226 Menschen an Typhus. Die Missernten und Hungersnöte trugen dazu bei, dass Friedrich II. noch stärker auf den Kartoffelanbau setzte und die Getreidezüchter mit den Worten anspornte: "Der größte Feldherr ist derjenige, der zwei Körner wachsen läßt, wo bisher nur ein Korn wuchs".
Nach der Anpflanzung von Salweiden, die der Soldatenkönig für Calbe an allen morastigen Stellen, z. B. am versumpften Bett seines gescheiterten Kanals (vgl. oben) sowie an der Schlöte und am Solbrunnen, zur Verbesserung des Bodens angeordnet hatte (1719/1727), war Friedrich II. von der Idee besessen, um die Stadt herum weiße Maulbeerbäume zur Seidenraupenzucht anzupflanzen. Da die Raupe, welche die im Rokoko so beliebte Seide produzierte, sich ausschließlich von Maulbeerblättern ernährte, wurden um Calbe große Plantagen dieses subtropischen Baumes angelegt. 1750 wurde von der Regierung eine gute Belohnung für den Anbau dieser Pflanzen ausgesetzt, denn Friedrich der Große wollte Preußen in Sachen Seide zum Selbstversorger machen. Überall in Preußen, vor allem an Straßenrändern und anderen freien Flecken ließ der Monarch die exotische Pflanze anbauen. 1770 betrieb der hugenottische Kolonist (vgl. Teil 2) Jean Jeannavelle neben seinem Strumpfwirker-Gewerbe eine Seidenraupenzucht, wofür er eine Maulbeerplantage von 2,5 Morgen angelegt hatte. Die vom Magistrat an den Gärtner Steinhäuser verpachtete Maulbeerplantage auf der Wunderburg war wenig erfolgreich, 1771 verkümmerte eine Reihe von Bäumen. 1785 waren 14 Morgen um Calbe mit Maulbeerbäumen bepflanzt. Trotz geringer Erfolge wurden immer wieder neue Versuche gestartet, und noch 1804 war von einer Maulbeerplantage auf der Alten Sorge links vor dem Brumbyer Tor (heute: Westseite der Magdeburger Straße) die Rede. Obwohl die Versuche bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts liefen, erwies sich die damals mit zwei Millionen Talern geförderte königliche Initiative als Fehlschlag. Sowohl der Weiden- als auch der Maulbeerbaum-Anbau waren wohl bei einigen Calbensern nicht beliebt, denn wiederholt beschwerten sich Plantagenbesitzer über das mutwillige Ausreißen von Setzlingen.
Ausgelöst durch die Kontinentalsperre Napoleons und das damit verbundene Fehlen des in den deutschen Ländern so beliebten Kaffees kam es in Preußen zur Herausbildung eines neuen Produktionszweiges. 1807 richtete Amtmann Schoche in der Schlossvorstadt eine Zichoriendarre ein. Dort wurden die Wurzeln der bei uns an Wegrändern wachsenden Wegwarte oder Kaffeezichorie getrocknet und geröstet, um gemahlen als Kaffeeersatz zu dienen. Als Surrogat und Streckungsmittel wurde die Pflanze in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert verwendet. Durch die für die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten unerschwinglich hohen Kaffeepreise, besonders aber durch die Kontinentalsperre nahm die Zichorienverarbeitung im 19. und darüber hinaus bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland einen großen Aufschwung.
Außer dem mit hohen Verbrauchersteuern belegten, aus den englischen Kolonien stammenden Kaffee war im 18. Jahrhundert ein weiteres Genussmittel immer beliebter geworden: der Tabak. Seit 1730 wurde in Calbe verboten, mit brennender Tabakspfeife über die Straße zu gehen, was besonders einige Knechte betraf. Sogar die Lehrer erhielten 1731 eine Verwarnung, weil sie sich während des Georgi-Schulfeiertages (25. April), an dem sie mit den Kindern singend und Gaben erbettelnd durch die Stadt zogen, „wider den Anstand in Gegenwart der Schüler im Ratsgasthofe hingesetzt und Tobak geraucht haben“. Die Tabakakzise war eine wichtige Einnahmequelle für den preußischen Staat geworden. 1769 nötigte die General-Tabakadministration zwei Kaufleute in Calbe gegen ihren Willen, den vom Staat beherrschten Tabakhandel (Tabakregie) im Ort zu übernehmen. 1797 wurde die erste Tabagie im Hohendorfer Busch errichtet, weitere folgten. Tabagies waren die ersten öffentlichen Gaststätten und eine gute Einnahmequelle für den Staat. Hier wurde neben Speise und Trank eine Tonpfeife nebst einer Prise Tabak gegen eine Gebühr von wenigen Pfennigen gereicht. So erfreuten sich die Tabagies bald eines regen Zuspruchs des Publikums aus den unteren Schichten.
Trotz der im 18. Jahrhundert gehäuft aufgetretenen, zum Teil verheerenden Hochwasser (vgl. Station 21) und trotz mehrerer Seuchenjahre (1750/1772/1773) ging es unter den preußischen Königen in Calbe wirtschaftlich stark bergauf. Gegenüber dem Mittelalter und der frühen Neuzeit vervierfachte sich in dieser Zeit die Einwohnerzahl (s. Abb.).
Als die Zahl der Einwohner rasch wuchs, wurde die Stadt zunächst an der Süd- und Nordseite erweitert. Entlang der Neuen Straße (Neustadt) baute man um 1700 eine Reihe Häuser, die aber nicht zur Vorstadt, sondern in den Verwaltungsbereich der Stadt gehörten. Allmählich wurden die Außenmauern abgetragen und oft gleich als Baumaterial verwandt. Die Innenmauern fanden in einigen Fällen Verwendung als Häuserrückwand. Das gleiche geschah nur wenige Jahre später zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf der Nordseite an der Koloniestraße (Grabenstraße). Eine weitere Möglichkeit der Stadterweiterung wurde an der Westseite genutzt. 1756 gab der Magistrat den ehemaligen Stadtgraben in südlicher Richtung vor dem Brumbyer Tor als Baugelände für Neusiedler frei. 1770 hatten hier bereits 30 Familien ihr Haus gebaut. Nach Süden zu entstand vor dem Westtor in den 1770er/80er Jahren ebenfalls ein Neubaugebiet. Die beiden Siedlungen, die auch zur Stadt gehörten, nannten die Calbenser die Alte (nördlich) und die Neue Sorge (südlich). In etwa entsprachen sie Teilen der Arnstedt- und der Magdeburger Straße. Der Begriff „Sorge“ hat sich aus dem mittel- und frühneuhochdeutschen Wort „Zarge“ herausgebildet und bedeutet „Rand“, in dem Falle „Stadtrand“.
Ein besonderes infrastrukturelles Problem waren die Stadtbrände. Am 16. März 1683 brach durch Unachtsamkeit einer Magd beim Umgang mit Asche im Haus der wohlhabenden Witwe Bünger in der Breite ein Brand aus, der sich in kurzer Zeit über die halbe Stadt ausbreitete. Soldaten hatten Alarm geschlagen, weil der Turmwächter nicht auf seinem Posten war und ein Ersatzmann fehlte. Bei diesem Brand wurden innerhalb der Stadt 84 Häuser mitsamt Scheunen und allem Zubehör und in der Schlossvorstadt 25 Häuser total vernichtet. 1695 meldete der Rat der kurfürstlichen Regierung den Wiederaufbau. Aber bereits am 23. Oktober 1713 fielen 47 Wohnhäuser, 44 Scheunen und viele Nebengebäude einem Brand zum Opfer, der in der Ölstraße (südlicher Teil der späteren Tuchmacherstraße) ausgebrochen war und der vor allem die Schlossstraße heimsuchte.
Um wertvolle ökonomische Potenzen nicht den Flammengewalten zu opfern, sorgten nun preußische Beamte mit großer Strenge für die Einhaltung der Brandschutzbestimmungen. Die Holzbauweise der Häuser wurde allmählich verdrängt und die Menschen durch Anordnungen und Kontrollen zum sorgfältigeren Umgang mit dem Feuer angehalten. 1720 wurden hölzerne Schornsteine verboten. Neue Kenntnisse in neuen Wissenschaftszweigen wie beispielsweise der Physik machte auch eine effektivere Feuerbekämpfung möglich. Seit 1745 wurde für den Einsatz bei Bränden eine Wasserpumpe (Spritze) benutzt. Das Gebäude zur Aufbewahrung der Pumpe war das Spritzenhaus an der St.-Stephani-Kirche. 1795 erging der Befehl, 36 Sturmfässer mit stets sauberem Wasser in der Stadt aufzustellen.
Auch das in den 1680er Jahren neu gebaute städtische Brauhaus profitierte von der neuen Pumpentechnik. In diesem Gemeinschafts-Brauhaus konnten nun die Brauberechtigten mit besserer Technologie brauen. Wo jetzt das "allgemeine Brauhaus" stand, war im Mittelalter das Brauwasser mit großer Mühe und viel Unkosten aus der Saale befördert worden. Besonders zur Winterzeit war das ein gefährliches Unterfangen, als mit Pferden und Wasser-Kufen das kostbare Brauwasser herangeholt werden musste. Nun wurde das Saalewasser mittels einer Pumpe und einem Rohrsystem in die Braupfanne geleitet. Das Brauhaus besaß zwei Pfannen, verschiedene Bottiche und Kühlfässer. Es konnte sowohl normales Gebrauchs-Bier ("Cälberei") als auch "Breyhan", eine Starkbier-Variante hergestellt werden.
Ein aus dem Mittelalter stammendes Wahrzeichen der Stadt, das Schloss, hatte in der Preußenzeit seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Es gab keine erzbischöflichen Landesherren bzw. Administratoren und keine ständischen Landtage mehr. Damit war die ehemalige „Veste Calbe“ zum Sitz der Amtsverwaltung und zur Herberge für selten durchreisende Fürsten degradiert worden; der Große Kurfürst logierte im Schloss Calbe dreimal und sein Sohn Friedrich I. zweimal. Die Folge war, dass man für die Instandhaltung des barocken Gebäudes mit den 8 Türmen und vielen Erkern nicht mehr die gleiche Sorgfalt wie früher aufwendete, und sich darauf beschränkte, einige wenige wichtige Teile notdürftig zu erhalten. Als 1704 das Schloss in Erbpacht gegeben wurde, trug man einige Erker und Türme wegen Baufälligkeit ab. 1708 fielen auf königlichen Befehl die letzten Erker und alles wurde unter ein Dach gebracht. Nur ein Turm blieb stehen, dessen Höhe in der Folgezeit auch reduziert wurde. In dieser unschönen schmucklosen Kastenform blieb das Schloss Calbe bis zu seinem Ende 1945 erhalten.
Am Neuen Markt (heute: Marktplatz) gab es 1682 zwei Gasthöfe, die dem Rat gehörten: der Ratskeller (im Rathaus), der Ratswage-Keller (daneben, Markt 20). Der „Braune Hirsch“ war im Besitz des Bürgermeisters. Nur im Ratskeller durften auch Wein und fremdes Bier ausgeschenkt werden. Der Ratswage-Keller hatte nur Calbesches Bier (Cälberei) zu führen. Das Haus Markt 20, in dem sich die Ratswage und der Bier-Keller befanden, war ein ehemaliges Freihaus. 1696 tauschte Handwerksmeister Danheil mit dem Rat sein vor dem Rathaus stehendes, für 300 Taler erworbenes Haus gegen das Ratswagegebäude. Er durfte nun auch den Ausschank von Cälberei für eine Akzise weiter betreiben. Der Tausch wurde deshalb betrieben, weil das Danheilsche Haus vor dem Rathaus sehr störend wirkte und abgerissen werden sollte. Das geschah jedoch erst einige Jahre später, weil der Rat wegen Geldnot (Bau des „Roten Adlers“ auf kurfürstlichen Befehl 1697) das Gebäude auf dem Marktplatz noch einmal an Magister Johann Heinrich Hävecker, den späteren ersten Ortschronisten, verkaufen musste.
Im Jahr 1696 musste auch das Rathaus von Grund auf renoviert werden. Der Zimmermeister Bormann erhielt vom Rat den Auftrag, den maroden Bau grundlegend zu sanieren. Man erneuerte die Wände und legte anstelle des alten Schieferdaches Dachziegel auf. Die zum Eingang führende Treppe wurde aus Sandstein hergestellt, mit einem Geländer versehen und über den Keller-Eingang ein Altan gebaut. Eine Erneuerung der Ratsstube erfolgte 1713. Neben dem Bildnis des richtenden Königs Salomo hingen die Bilder des Königs, der Bürgermeister, der Syndici, Kämmerer und Ratmänner. Mitten in der Stube hing ein Kronleuchter aus Hirschgeweih mit den Wappen früherer Regenten. Schränke mit Akten, Büchern und Urkunden befanden sich an den Wänden. Vor dem Rathaus bzw. Ratskeller stand eine Linde mit Bänken darunter (vgl. Hertel, S.117f.). Die Linde war ein Symbol aus germanischen Zeiten, deshalb wurde auch jegliches ungebührliches Benehmen unter ihr bestraft.
Gleich hinter dem Rathaus steht der Wachturm, der schon früh als Gefängnis für Schwerverbrecher diente und bis heute im Volksmund der Hexenturm heißt. Als er 1775 als Färbereimanufaktur eingerichtet und der obere Teil abgerissen werden sollte, entschied sich der Magistrat für seine Erhaltung, weil dieser Turm noch in sehr gutem Zustand und eine weit sichtbare Zierde der Stadt sei, seine Wetterfahne der Wettervorhersage und seine Position der Gefahrenerkennung diene und weil der Turm als Archiv fungieren müsse. Dieser Entscheid war gut und richtig.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg war das Calber Schützenwesen zum Erliegen gekommen. Die neue Staatszugehörigkeit zu Brandenburg-Preußen und ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung machten den Bürgern Mut, den Schützenverein wieder ins Leben zu rufen. Am 9. Mai 1684 baten die Bürger von Calbe den Großen Kurfürsten, Waffenübungen, Scheiben- und Vogelschießen anstellen zu dürfen. Als sie jedoch darum baten, dass der Fürst ihnen eine gewisse Summe aus den städtischen Akzise-Einnahmen für die „Exercitia“ bewillige, wurde ihr Ansinnen abgelehnt. Erst unter seinem Sohn, dem späteren König Friedrich I., der Calbe von seinen Besuchen besonders wegen des guten Bieres in erfreulicher Erinnerung hatte, wurde dem Stadtkämmerer 1693 bewilligt, 30 Taler für die Bürgerschützen aus der Akzisekasse zu nehmen, wovon 15 Taler für die Errichtung einer Schützenbaracke und 15 Taler für Preise verwendet wurden. Die Statuten gab sich die neue Schützengesellschaft am 25. Mai 1694. Bei der Erneuerung der Statuten 1698 schafften sich die Schützen eine Fahne an. Schützenübungen und Schützenfeste bewegten sich jetzt in militärischen Formen. Vom 24. Juni (Johannistag) bis 29. September (Michaelistag) fanden nun regelmäßig montags um 13 Uhr Preisschießen statt. 1700/01 wurde die Baracke durch ein Schützenhaus aus Holzbohlen mit steinernem Fundament ersetzt. Es stand auf der südlichen Seite vor dem Brumbyer Tor. Der ehemalige Stadtgraben war zum Schießgraben umfunktioniert worden. Der aus der Akzisekasse gezahlte Zuschuss war auf 20 Taler jährlich reduziert worden (vgl. Hertel, S. 94f.). Das letzte Preisschießen fand 1712 statt (vgl. Reccius, S. 74). 14 Jahre bestand die inaktive Schützengesellschaft unter dem Soldatenkönig noch, dann löste sie sich 1727 auf. Waren behördliche Schikanen unter einem König, der mehr Interesse an einem stehenden Heer als an einem Verein bürgerlicher Selbstbestätigung hatte, der Grund dafür? Das Schützenhaus kaufte 1727 ein Bürger und baute es zu einem Wohnhaus auf der Alten Sorge aus. Erst unter Friedrich II. entstand erneut eine Schützengesellschaft. 1742, nach dem in Calbe mit einem großem Fest gefeierten siegreichen Ende des ersten Schlesischen Krieges (vgl. Teil 2), erließ Bürgermeister Haacke einen Aufruf zum Preisschießen, der zur Gründung des neuen Vereins mit zwei Schützenkompanien führte, der auch wieder ganz militärisch ausgerichtet war. Die Schießübungen und –wettbewerbe fanden wie früher im Schießgraben vor dem Brumbyer Tor statt. Friedrich gewährte keinen Zuschuss aus der Akzisekasse mehr, und die Bürger mussten ihre Preisschießen selbst finanzieren. Der König erlaubte ihnen aber ganz im kameralistischen Sinne, einen Viehmarkt abzuhalten und sich aus dessen Ertrag Preise anzuschaffen. Der neue Viehmarkt wurde jährlich zu Mariä Geburt (8. September) innerhalb der Stadt auf der Breite durchführt (vgl. Hertel, S. 95). Aber als der Calber Verein 1770 und 74 wegen Privilegierungen - besonders für junge Bürgerschützen - beim Magistrat vorstellig wurde, lehnte dieser alle Anträge ab (vgl. Reccius, S. 78f.). Die preußische Schützengesellschaft fand ihr Ende in der Zeit der napoleonischen Besatzung.
Im 18. Jahrhundert kam es in Calbe wie auch in anderen preußischen Städten, bedingt durch Merkantilismus, Aufklärung und wissenschaftliche Weltsicht, zu einem bedeutenden Aufschwung in der medizinischen Versorgung und im Schulwesen. Zwar gab es immer noch Quacksalber und Kräuterweiblein, aber diese wurden allmählich durch eine seriöse Ärzte- und Apothekerschaft zurückgedrängt. 1712 erhielt in Calbe ein Wunderdoktor Apel, der auf dem Markt seine Mittel anpries und dabei von einem Possenreißer aus Werbungsgründen unterstützt wurde, eine Strafe von 2 1/2 Talern. Die Ärzte, die an mehrfach neu entstandenen Universitäten eine akademische Ausbildung mit ordentlichem Abschluss erwerben mussten, wurden in den Städten zur Förderung der Volksgesundheit eingesetzt. Einen solchen Allgemeinmediziner nannte man Stadtphysikus. Seit 1716 tauchten in Calbe nur noch als Dr. oder Lic. med. promovierte Stadtphysici auf, unter ihnen auch ein Sohn des Nachrichters (Henkers) Kahlo. Der erste promovierte Physikus war Postarzt, also ein für die staatsmonopolistische Post (vgl. Teil 1) gegen Gehalt tätiger Arzt (vgl. Hertel, S. 97f.).
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Amputation des Unterarmes im 18. Jh., nach: Heister, Lorenz, Chirurgie, Nürnberg 1724 |
Daneben gab es noch den Beruf des Chirurgus, der (vorerst) keinen Universitätsabschluss, dafür aber ein Handwerkerdiplom haben musste. Seine Tätigkeit umfasste Zähneziehen, Unfallchirurgie und operative Eingriffe wie Amputationen und Geschwulstentfernen. Eröffnungen des Bauch- oder gar des Brustraumes waren beim damaligen Stand der medizinischen Technik auch den Chirurgen nicht möglich. Der Stand der Chirurgen stammte vom Beruf der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bader her. Noch 1782 musste ein Chirurgus eine Prüfung beim Stadtphysikus ablegen, um seine Befähigung nachzuweisen.
Die Calber Physici, von denen es manch einer sogar bis zum Bürgermeister brachte (z. B. 1742 Dr. Karl Haacke), mussten auch gegen ein Salär von jährlich 40 Talern, die aus der Stadtkasse, den Kirchenspenden und den Armenstiftungen genommen wurden, als städtische Armenärzte tätig sein. Die Armen der Stadt durften nach der Armenordung von 1703 nur in ihrer Kommune betteln. Dazu gab man ihnen eine Blechmarke mit dem Stadtwappen, damit sie sich als „interne“ Bettelarmut ausweisen konnten. Fremden war das Betteln in Calbe untersagt (vgl. ebenda, S. 77). Um Seuchen keinen Angriffspunkt zu bieten, mussten die anfälligen Stadtarmen medizinisch solide versorgt werden; deshalb waren staatliche Armenärzte von so großer Wichtigkeit. 1731 wurde im Hospital auf Grund erweiterter hygienischer Erkenntnisse eine Isolierstation eingerichtet.
Auch das städtische Apothekenwesen nahm in jener Zeit einen Aufschwung. 1689 achtete der Rat der Stadt Calbe, wie wir aus einem Vertrag wissen, darauf, dass eine ärztliche Aufsicht über die Rats-Apotheke Bernburger Straße 94 gegeben war. Der Stadtphysikus sollte den Apotheker daran erinnern, dass er stets die notwendigen und richtigen Arzneimittel vorrätig habe und die nicht mehr brauchbaren vernichte. Außerdem war der Arzt verpflichtet, die Apothekerlehrlinge und -gesellen gebührend zu examinieren, ob sie "genügend Wissenschaft" für ihre verantwortungsvolle Tätigkeit besaßen. 1698 berichtete der Stadtphysikus dem Rat, er habe die Apotheke „visitiert und alle Arzneien wie auch andere Sachen in gutem Stande befunden".
Im Jahr 1700 rückte ein Apotheker in den Rat auf, betrieb aber weiterhin sein Gewerbe. 1707 eröffnete ein anderer eine zweite Apotheke in der Querstraße (heute: Wilhelm-Loewe-Straße) Nr. 44 mit einer Konzession der Königlich-Preußischen Kriegs- und Domänenkammer zu Magdeburg. Dieses Grundstück befand sich gleich neben dem alten Schulhaus (vgl. unten). 1719 wurde die Rats-Apotheke, welche (wie auch die andere) Hauseigentum des jeweiligen Apothekers war, durch Umzug von der Bernburger in die Schlossstraße 111 verlegt. Nun lagen die beiden Apotheken nah beieinander. Als der Besitzer die königlich-preußische Apotheke 1741 schloss und das Privileg an seinen Kontrahenten verkaufte, stand die königlich-privilegierte Ratsapotheke konkurrenzlos da. Sie wurde 1760 in das Gebäude Markt Nr. 5 verlegt, wo sie sich heute noch als Stadt-Apotheke befindet. 1807 setzte Napoleon im Königreich Westfalen (s. unten) alle königlich-preußischen Privilegien außer Kraft. Seitdem wurde auch die Apotheke in Calbe als Einrichtung mit Realkonzession behandelt und „gehandelt".
Schon seit dem 16. Jahrhundert hatte sich nicht nur in Calbe, sondern auch in ganz Mitteleuropa eine merkwürdige Hygiene-Auffassung herausgebildet: Schmutz schütze vor Krankheiten. Noch im 17. Jahrhundert fiel ein gebildeter Mann wie der Licentiat Christoph Deutschbein aus Calbe (s. Abschnitt 5) durch sein schmutziges Äußeres auf (vgl. Kinderling, Nachricht von Christoph Deutschbeins milden Stiftungen …, a. a. O., S. 443). Dieser reiche und wohltätige Mann war nicht etwa in die Asozialität abgeglitten, sondern stand lediglich auf der Höhe des medizinischen Erkenntnisstandes seiner Zeit, nach dem eine Schmutzschicht auf Körper, Kleidung und Bettwäsche vor Krankheitserregern schützen sollte. Als besonders gefährlich wurde Wasser angesehen, und die „Reinigung“ geschah durch vorsichtiges Abstauben der von Kleidung unbedeckten Teile des Körpers (vgl. Geschichte der Hygiene [Institut Pasteur]– http://www.hygiene-educ.com/de/histoire/sci_data/temps.htm). Da konnten die Gelehrten nur über die „Dummheit“ der einfachen Menschen erhaben staunen, die sich doch tatsächlich manchmal wuschen.
Die St.-Stephani-Kirche war gleich nach dem Dreißigjährigen Krieg durch beachtliche finanzielle Anstrengungen der Bürger renoviert worden (vgl. Abschnitt 4). Im 18. Jahrhundert mussten noch einige turnusmäßige Sanierungsarbeiten vorgenommen werden, wie z. B. die Ausbesserung des Ganges zwischen den Türmen 1723. Die Turmbläser hatten ihn nicht mehr gefahrlos betreten können. 1720 wurde die Orgel, die aus der Zeit um 1460 stammte und schon viermal renoviert und erweitert worden war, bedeutend vergrößert (vgl. Hertel, S. 142). Als ein Küster 1732 bat, das Gewölbe der Kirche so, wie das schon sein Vorgänger getan hatte, als Lager für Holz, Bier und Lebensmittel nutzen zu dürfen, wurde das vom Magistrat strikt verboten, weil die Ratten sich inzwischen gut ernährt und die Bedienung der Orgel u. a. mit ihren Vorratslagern und Nestern gestört hatten. 1784 musste die über 300 Jahre alte Orgel generalüberholt werden, und dafür spendete die Bürgerschaft 400 Taler.
Mit den Renovierungsarbeiten in und an der St. Laurentii-Kirche konnte erst kurze Zeit vor 1700 begonnen werden. Dazu wurde auf des Kurfürsten Befehl eine Geldsammlung im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt durchgeführt (vgl. Hävecker, S. 48). 1699 gab ein Schulmeister zu Protokoll, dass man Holz aus der Kirche des inzwischen wüsten Dorfes Hohendorf zum Auf- und Ausbau der Vorstadt-Kirche benutzt habe (vgl. Hertel, Die Wüstungen..., a. a. O., S. 171). Diese Arbeiten zogen sich bis etwa 1711 hin. Wie aus den alten Bauunterlagen hervorgeht, wurde dabei die Kirche nach Osten und Westen erweitert. Wenn die Erweiterung auch nach Osten geschah, wie u. a. an den Nähten zu erkennen ist, muss zwangsläufig die Rundapsis neu aufgebaut worden sein. Dabei hat sie außerdem eine Erhöhung erfahren, was an den unterschiedlichen Steinen erkennbar ist. Ob die Apsis davor in dieser Form überhaupt existiert hat oder ob sie einer architektonischen Laune der Erneuerer entsprang, bleibt eine offene Frage. In dieser Zeit am Anfang des 18. Jahrhunderts wurde das romanische Bild der Kirche beseitigt. Man trug den Turm ab, ersetzte ihn durch einen kleinen barocken Fachwerk-Dachreiter, der die Glocken aufnahm, und die romanischen Rundbogen wurden in gotische Spitzen umgewandelt (vgl. Dietrich, Gang, S. 15). Die unter Friedrich I. begonnene und unter Friedrich Wilhelm I. abgeschlossene Erweiterung und Veränderung der St.-Laurentii-Kirche wurde u. a. vorgenommen, weil die Bevölkerungszahl der Vorstädte ein halbes Jahrhundert nach dem verheerenden Krieg gegenüber dem Vorkriegsstand um etwa 50 Prozent angewachsen war. Die Nicolai-Fischer-Brüderschaft (vgl. Teil 1) hatte, nachdem die Hohendorfer St.-Nicolai-Kirche wüst geworden war, bis zum Ende ihres Bestehens 1945 einen Altar in der Lorenzkirche und war ins Kirchengebet eingeschlossen. Nach der Zugehörigkeit Calbes zu Brandenburg-Preußen machten die neuen Herrscher auch von ihrem erworbenen Patronatsrecht Gebrauch und bestimmten vier Kandidaten für das Amt des Vorstadtpfarrers, von denen der Rat einen auswählen konnte. Die Pfarrer der St.-Laurentii-Kirche hatten zusätzlich die Seelsorge auch in der Schlossvorstadt (vgl. Station 13) und den Gottesdienst im Filial (der Tochterkirche) Trabitz mit zu übernehmen.
Zu den bekanntesten und bedeutendsten Calbeschen Pfarrern gehörte Johann Heinrich Hävecker, der am 20.8.1640 in Calbe an der Saale als Sohn des Brumbyer Pfarrers Mag. Heinrich Hävecker und der Kaufmannstochter Anna Maria Wilcke geboren wurde. Er studierte an den Universitäten in Helmstedt und Wittenberg, wo er 1663 den Magistergrad erwarb und danach selbst Vorlesungen hielt. Aus der Ehe mit einer Tochter des bedeutenden Pietisten Christian Scriver, einem Freund Jacob Speners, gingen drei Söhne hervor, die Pfarrer bzw. Bürgermeister in Aken und Calbe wurden. 1665 wurde Johann Heinrich Hävecker Schulrektor in Calbe, 1681 Diakon und 1693 Pastor primarius sowie Kirchen-Inspektor des Holzkreises mit 40 Kirchen und den dazu gehörenden Schulen. Die bei seinen vielen Inspektionsreisen gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse kamen J. H. Hävecker bei der Abfassung der schon im 18. Jahrhundert wiederholt aufgelegten Schrift "Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Aken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..." (1720) zu Gute. Die Mehrzahl seiner Schriften war der pietistischen Erbauung gewidmet (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 11, S. 113), ein mehrfach aufgelegter Katechismus, christliche Erbauungsliteratur, Arbeiten zur Theorie der Predigt und Kirchenlieder waren darunter. Hävecker war Übersetzer aus dem Englischen und der Herausgeber von Schriften seines Schwiegervaters, des pietistischen Theologen Christian Scriver (vgl. Pabst, Bd. 16, S. 15ff.). Der schon zu Lebzeiten viel beachtete Pietist Hävecker starb 1722 in Calbe.
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Johann Heinrich Hävecker (1640 - 22.7.1722) |
Der Pietismus war eine um 1650 entstandene religiöse Bewegung des deutschen Protestantismus, in deren Mittelpunkt Verinnerlichung, persönliche Bekehrung und die Umsetzung des Glaubens im täglichen Leben standen. Die Pietisten blieben Mitglieder der evangelischen Kirche, versuchten jedoch diese durch ihre Frömmigkeit (Pietät) zu reformieren und der nach einem Jahrhundert zur Büchergelehrsamkeit (Orthodoxie) erstarrten lutherischen Lehre entgegen zu wirken. Der Pietismus entstand zwar auch als Gegenkonzept zur philosophischen, philologischen und naturwissenschaftlichen Aufklärung, befand sich aber letztlich mit dieser auch in einer fruchtbaren Wechselbeziehung. Die Auswirkungen des Pietismus, der vom englischen Puritanismus beeinflusst wurde, reichten u. a. in der Literatur von der Aufklärung über den Sturm und Drang bis in die Klassik und Romantik. Der Pietismus hat das protestantisch-kirchliche Leben (Gottesdienst, Bibelstunden, Katechismusunterricht, neue Lieder, Erbauungsliteratur, Konfirmation, Armenfürsorge, Innere und Äußere Mission u. a.) entscheidend beflügelt. Der Pietismus hat mitgeholfen, preußische Tugenden wie Treue, Standhaftigkeit, Gesetzlichkeit, Fleiß, Pünktlichkeit und Strebsamkeit zu vertiefen, trat aber auch für Entsagung, Demut und Dulden ein. Besonders fatal für die Entwicklung des Moralbewusstseins war die Propagierung von Prüderie und Lustfeindlichkeit, konträr zum ursprünglichen barocken Empfinden. Man hatte sich schmucklos und schlicht in dunklen Farben zu kleiden sowie sich ernst und gesittet zu benehmen. Frohsinn, Feste, Schabernack, alte derbe Bräuche und Tanzvergnügen wurden verboten. Die vielen, oft noch aus uralten Zeiten stammenden Brauchtümer, wie z. B. die Frühjahrs-Prozession um die Feldmark mit anschließender Segnung mit anschließenden ausgiebigen Gelagen oder die Feiern auf der Wunderburg durften nun nicht mehr stattfinden. Auch wurden in Calbe jegliche Prachtentfaltung bei Beerdigungen (1719), „Üppigkeit und Gelage“ (1720), der spektakuläre Umzug mit dem Meisterochsen der Fleischer (1727) sowie aufreizender Kopfputz und wertvolle Tücher der Frauen (1722) untersagt. Die Calbenser hielten sich jedoch nicht immer daran, und empfindliche Strafen folgten prompt. Besonders schmerzlich war für die Calbenser, die wie alle Menschen des Mittelalters und Barocks gern intensiv und üppig feierten, um 1700 die Abschaffung der seit dem Mittelalter auf dem Rathaus-Tanzboden stattfindenden Feste, an denen die gesamte Stadt teilnahm und die man Kälbertänze nannte. Wer nicht zum Abendmahl ging, musste die Stadt verlassen (1682), und uneheliche Kinder durften (wie die Juden) kein Handwerk erlernen (1722).
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Pietismus mehr und mehr durch die Bewegung der Aufklärung zurück gedrängt. Gegen Ende des Jahrhunderts begann man auch in Calbe, den Pietismus zu überwinden und sich zaghaft der Aufklärungs-Bewegung anzuschließen. Gegen Spott und Widerstand der natürlich immer noch vorhandenen strengen Moralisten wurde ein Liebhabertheater ins Leben gerufen, das mit großem Erfolg im Jahr 5 – 6 Vorstellungen gab. Als erstes Stück wurde im September 1790 das Lustspiel “Der Schatz“ von Lessing aufgeführt.
Einer der bedeutendsten Pietisten und Pädagogen, August Hermann Francke, war höchstwahrscheinlich 1702 nach Calbe gekommen und hatte in der Heilig-Geist-Kirche gepredigt (vgl. Rocke, S. 116). Allerdings ist diese Predigt bislang nicht aktenmäßig und durch zeitgenössische Zeugnisse belegbar. Warum Hävecker in seiner berühmten Chronik dieses Ereignis nicht erwähnte, ist unklar. War Francke ein unliebsamer Konkurrent oder hatte der alte Mann (- bei der Niederschrift war Hävecker über 80 Jahre alt -) dieses Ereignis ganz einfach vergessen?
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Jakob Friedrich Reimmann (1668 - 1743) |
Auch ein Pionier der aufblühenden Aufklärung, Jakob Friedrich Reimmann (1668 - 1743), war mit Calbe und der Familie Hävecker verbunden. Der später berühmte, aus ärmlichen Verhältnissen stammende und durch enormes Selbststudium zu Gelehrten-Ansehen gelangte Reimann musste sich mit 22 Jahren als Hauslehrer bei der Familie des Oberamtmanns Hanstein in Calbe verdingen. Seiner Lesewut kam ein Mann entgegen, von dem man das nicht erwartet hätte, der Ratsherr und spätere Bürgermeister Christian Friedrich Deutschbein (Teutschbein). Dieser wohl reichste Mann Calbes war auch philologisch interessiert und besaß eine Bibliothek, aus der er dem wissenshungrigen Habenichts wertvolle Bücher, einige sogar in arabischer Sprache, auslieh. Auch in dem Diakon Hävecker (s. oben) hatte er einen väterlichen Freund und in dessen Familie warmherzige Aufnahme gefunden. Besonders war der 23jährige der 17jährigen Nichte Häveckers im nahe gelegenen Brumby zugetan. Deshalb zögerte Reimmann nun sogar, lukrativere Angebote in anderen Städten anzunehmen. Als er 1692 doch noch eine Berufung als Schulrektor in Osterwieck (Harz) annahm, hätte ihn sein mangelndes Selbstwertgefühl beinahe in eine Krise gestürzt. Doch der Freund Johann Heinrich Hävecker reiste schleunigst in den Harz hinterher. Bald brachte er das Gespräch aufs Heiraten. Der niedergeschlagene Reimmann warf ein, dass ihm bei seiner schlechten Besoldung kein vernünftiger Mensch seine Tochter anvertrauen würde. Doch Hävecker gab ihm zu verstehen, dass die Häveckers mit der Heirat einverstanden waren. Die Verlobung wurde zu Reimmanns Freude sofort arrangiert, und am 14.2.1693 fand in der Kirche Brumby im Beisein der Familie Hävecker und der Familie Reimmann die Hochzeit "mit Jungfer Anna Margaretha, Herrn Magister Conradi Hävecker, Pastoris eheliche Tochter, nach 3maligem ordentlichen Aufgebot öffentlich" statt. Damit begann eine schicksalsreiche und glückliche Ehe. Jakob Friedrich begann bedeutende Werke zu veröffentlichen. 1702 ernannte der preußische König Friedrich I. den ungemein fleißigen und begabten Gelehrten zum Inspektor im Fürstentum Halberstadt. Gottfried Wilhelm Leibniz war auf Reimmanns Werke aufmerksam geworden und besuchte ihn mehrmals. Damit begann eine lebenslang dauernde Freundschaft, die mit einem "starken Briefwechsel" verbunden war. Als er 1717 den Posten des Stadtsuperintendenten in Hildesheim annahm, hatte wohl die materielle Dürftigkeit bei Reimmanns ein Ende. Jakob Friedrich Reimmann konnte sich noch intensiver seinen Studien widmen. Seine von den Zeitgenossen bewunderte enorme Bildung und sein wissenschaftlicher Fleiß hatten jedoch auch ihre gesundheitlichen Schattenseiten. Der 1716 verstorbene Freund Leibniz hatte wiederholt gewarnt: "Wenn wir weniger täten, könnten wir mehr tun." 1735 kam eine Lungenkrankheit wieder verstärkt zum Ausbruch, aber erst 3 Tage vor seinem Tod legte der erschöpfte Mann die Schreibfeder nieder. Er starb 1743 an Auszehrung infolge einer Alterstuberkulose. Mit seinen bedeutenden Werken zur Literatur-, Atheismus- und Philosophiegeschichte sowie zur Systematisierung des Gedankengutes war er ein Wegbereiter der späteren Germanistik und der vergleichenden Systematik in den Geisteswissenschaften (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 27, S. 716).
Sein väterlicher Freund und Verwandter in Calbe, Johann Heinrich Hävecker war zwei Jahre nach dem Erscheinen seiner Chronik im Juli 1722 gestorben.
Ein anderer bedeutender Vertreter der Aufklärung war der Calber Pfarrer, Liederdichter, Sprachforscher und Quellen-Sammler Johann Friedrich August Kinderling, geboren 1743 in Magdeburg, gestorben am 28. 8.1807 in Calbe. Er war zum Magister phil. promoviert worden und seit 1768 als Lehrer, zwei Jahre später als Rektor in Kloster Berge (heute Stadtteil von Magdeburg), seit 1771 als Prediger in Schwarz und seit 1774 als Diakon und nachfolgend als Pastor in Calbe tätig. Besonders hat sich Kinderling um die Erforschung der deutschen Sprache verdient gemacht. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten „Über die Reinigkeit der deutschen Sprache und die Beförderungsmittel derselben mit einer Musterung der fremden Wörter und anderen Wörterverzeichnissen“ (Berlin 1795) und „Geschichte der niedersächsischen oder sogenannten plattdeutschen Sprache, vornehmlich bis auf Luthers Zeiten, nebst einer Musterung der vornehmsten Denkmale dieser Mundart“ (Magdeburg 1800) erhielt er von der königlichen preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin einen zweiten und von der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen einen ersten Preis. Seine zahlreichen Schriften zur Geschichte der deutschen Sprache, besonders der Sprache im Mittelalter, waren Standardwerke in der Fachwelt der Aufklärungszeit und wirkten wie die Reimmanns auf die wenig später entstehende germanistische Wissenschaft. Kinderling hatte auch Kirchenlieder im Stil der literarischen Aufklärung verfasst. Als 1780 eine Welle der Empörung durch das Land ging, weil Friedrich II. die Einführung des so genannten Berliner Gesangbuches mit neuen aufklärerischen Liedtexten angeregt hatte, trat Kinderling in verschiedenen Schriften für die Notwendigkeit ein, „die alten Kirchengesänge zu verbessern“ (vgl. ebenda, Bd. 15, S. 754).
Die brandenburgisch-preußischen Herrscher betrieben nach dem Dreißigjährigen Krieg, der ihr ohnehin nicht gerade dicht besiedeltes Land stark entvölkert hatte, eine Politik der planmäßigen Besiedlung, die Peuplierung genannt wurde. So suchten der Große Kurfürst und seine Nachfolger stets nach Menschen, möglichst mit wirtschaftlichen Kompetenzen, die gewillt waren, in ihr Land zu ziehen. Glaubensdinge mussten dabei ganz im Sinn des merkantilistischen Zieles und der Aufklärung im Hintergrund bleiben. Solche Menschen fanden sie u. a. in den französischen und pfälzischen Calvinisten und in den Juden.
Im katholischen Frankreich wurden die calvinistisch-protestantischen Hugenotten seit Beginn der Reformation brutal verfolgt. Als durch das Edikt von Fontainebleau Ludwigs XIV. am 18.10.1685 das tolerante Edikt von Nantes (von 1598) wieder aufgehoben wurde und die französischen reformierten Protestanten erneut verfolgt wurden, erließ der Große Kurfürst am 8.11.1685 in Preußen das Potsdamer Toleranzedikt, in dem allen preußischen Untertanen Glaubensfreiheit und fremden Einwanderern mit wichtigen Berufen eine Reihe von Fördermaßnahmen und Vergünstigungen zugesichert wurden. Bald darauf wurden 20 000 hugenottische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und der Pfalz in weiten Teilen Preußens, auch in Calbe, angesiedelt.
Nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus der Pfalz kamen Flüchtlinge. In das an Frankreich grenzende Kurfürstentum Pfalz hatten sich im 17. Jahrhundert viele Hugenotten geflüchtet, weil Karl Ludwig, der Sohn des "Winterkönigs von Böhmen", im Westfälischen Frieden 1648/49 die Pfalz erhielt und sie mit religiöser Toleranz und geistiger Aufgeschlossenheit regierte. Hugenotten wurden mit Privilegien ausgestattet und brachten das Kurfürstentum rasch zur kulturellen und wirtschaftlichen Blüte. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688 bis 1697 jedoch erhob Ludwig XIV. von Frankreich Anspruch auf das prosperierende Gebiet. Bald sah sich der Sonnenkönig aber einer Großen Allianz von Kaiserreich, England, Spanien, Niederlanden und Savoyen gegenüber. Auf seinem Rückzug wandte er in der Pfalz die "Taktik der verbrannten Erde" an, um vom frühkapitalistisch blühenden Land auch seinen Gegnern nichts zurückzulassen. Die Urheber des Wohlstandes flohen in Scharen. Die "Pfälzer" fanden in Brandenburg-Preußen eine neue Heimat. (Übrigens: Auch der Gründervater der späteren Magdeburger Grusonwerke, Abraham Gruson, war ein Pfälzer Emigrant.)
Die französischen Auswanderer brachten das entsprechende technische Know-how mit, und nicht nur das, sie übermittelten auch eine sublime Lebensart, welche die Preußen noch nicht kannten.
1687 wurden auf Anordnung des Großen Kurfürsten (Privilegium vom 23.12.) in Calbe sieben pfälzische Tuchmacher angesiedelt. 1709 kamen die ersten französischen Refugiés hierher. 1732 existierten 19 französische und 44 pfälzische Familien in der Stadt. Diese ersten Aussiedler der Neuzeit in Calbe wurden in einer eigenen "Kolonie" am inzwischen zugeschütteten nördlichen Stadtgraben (der heutigen Grabenstraße, früher "Koloniestraße") (vgl. Station 10) angesiedelt und bestimmten fortan die Geschicke der Stadt maßgeblich mit. 1716 umfasste die „französische Kolonie“ 63 Personen. Die Neusiedler waren hier vorwiegend als Tuchmacher (vgl. Teil 1) tätig. Der 1723 nach Calbe gekommene junge Refugiè und Tuchfärbermeister Jean Tournier trug wesentlich zur Steigerung der Calbeschen Tuchproduktion bei.
Ihren reformierten Glauben durften die Neubürger später in der ehemaligen Schlosskapelle ausüben. Bis deren Zerstörungen beseitigt worden waren, mussten sie zunächst einmal in die Heilig-Geist-Kirche ausweichen. Spannungen und Streitigkeiten zwischen den reformierten Einwanderern und den alteingesessenen lutherischen Calbensern waren zwar nicht im Sinne der preußischen Herrscher, sie waren jedoch Indikatoren für eine tiefer sitzende ökonomische Rivalität. U. a. gab es in Calbe entehrende Auflagen für Reformierte: So durften z. B. die calvinistischen Verstorbenen nicht tagsüber mit den lutherischen Toten, sondern nur nachts beerdigt werden. Um zermürbende Streitigkeiten zu verhindern, bestimmte 1711 ein königliches Reglement, dass die Trauzeremonie bei Eheschließungen zwischen Lutheranern und Reformierten dem Bekenntnis des Mannes folgen musste. Töchter folgten dem Glauben der Mutter, Söhne dem des Vaters (vgl. Hertel, S. 158). Die hugenottischen Einwanderer, die etwa ein Zehntel der Calbe'schen Bevölkerung im 18.Jahrhundert ausmachten, sind aber bald mit dieser "Ur"bevölkerung verschmolzen, manchmal trifft man noch auf ihre (oftmals eingedeutschten) Familiennamen. Um 1900 gab es nur noch eine kleine reformierte Gemeinde in der Schlosskirche (vgl. ebenda), und im 20. Jahrhundert verschwand sie ganz.
Die Lebensgeschichte
des bedeutendsten calbischen Hugenotten Jean Tournier:
Der 1664 geborene Vater, der auch Jean hieß, stammte aus Beaurepaire (zwischen
Lyon und Grenoble) im Dauphiné (heute Isère). Er schloss sich dem
„Exulanten“-Strom der etwa 50.000 Hugenotten von 1685 an, von denen sich 20.000
nach Brandenburg-Preußen wandten, weil der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm am
29. Oktober das Toleranz-Edikt von Potsdam erlassen hatte, das den französischen
Glaubensbrüdern Sicherheit und Förderung durch Privilegien zusicherte.
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Exulanten-Strom (Jan Luyken 1696) |
Ende 1685 oder Anfang
1686 kam der 21-jährige Jean Tournier nach Dessau. Wenig später heiratete der
Maitre Teinturier (Färbermeister) hier die Dessauerin Irene Marie Anthonis.
Am 23.01.1698 wurde in Dessau der Sohn Johann (Jean) geboren. Um 1700
siedelte die Familie nach Halle/Saale über. Dort wurden die Kinder Pierre
(1703), Marthe llsbeau (1706), Esther (1708), Jeanne Marie (1710) und Jaque
(1713) geboren. Seit 1710 wurde Jean Tournier in den Akten auch als Marchand
(Kaufmann) bezeichnet, ein Zeichen dafür, dass ihm der für den weiteren
Aufschwung der Familie wichtige Sprung vom Spezial-Handwerker zum
Handelskapitalisten gelungen war.
Der älteste Sohn Johann (Jean), der bei seinem Vater das
Tuchfärberei-Handwerk - und wohl auch die Kaufmannsgeschäfte - erlernt hatte,
heiratete nach 1720 Anna Dorothea Rotter. Das Paar zog 1723 nach Calbe, wo 1726
das erste Kind geboren wurde. Hier begründete Johann Tournier eine Waid- und
Schönfärberei für Tuche, ein bis dahin in Calbe unbekanntes Spezialhandwerk.
1729, also nur ganz wenige Jahre nach seiner Ankunft in Calbe, wurde er bereits
als Handelsmann und Gerichtsassessor (später auch „Kolonie-Gerichtsassessor“)
bezeichnet. (Nach genealogischen Forschungsergebnissen von Herrn Roland
Hiller aus Edemissen, einem Nachfahren der französischen Familie Tournier)
Mit „Kolonie“ war die hugenottische Siedlung nördlich der heutigen Grabenstraße
mit ihrem eigenen Gotteshaus in der Schlosskapelle gemeint. Wie seine Titel
zeigen, hatte auch der junge Jean den Sprung in die kapitalkräftige Oberschicht
geschafft.
1737 begründete er mit Joachim Gerhard Ritter, einem Pastorensohn aus
Quedlinburg, eine Flanellmanufaktur mit dem Recht des Tuchverlages. Das heißt,
Ritter und Tournier durften Wolle und Rohtuche einkaufen, die Wolle an ärmere
Tuchmacher zum Weben, Walken und Scheren weitergeben und die Tuche nach
Verrechnung der Rohstoff-Auslagen gegen ein (nicht sehr erhebliches) Entgelt von
den Handwerkern wieder abkaufen (vgl. Reccius, Beiträge zur Geschichte der
Tuchmacherei..., S. 20).
Die Ärmeren unter den calbischen Webern - etwa 80 Prozent - waren so auf den Weg
ins Lohn-Proletariat geraten. Unruhen und Protestbriefe an die preußische
Regierung in Magdeburg zeigten, dass die Kaufleute nicht gerade zimperlich bei
der Jagd nach Profit mit den ärmeren ihrer Handwerks-"Kollegen" umgingen.
In der Ritter-Tournier-Manufaktur wurden Rohtuche veredelt, in erster Linie
gefärbt. Aus den Akten ist zu ersehen, wie die Handwerksmeister
realistischerweise auch eingestanden, dass die manufakturell erzeugten Tuche von
Tournier und Ritter qualitativ hochwertiger als ihre eigenen waren (vgl.
ebenda).
Tournier-Haus in Calbe, Markt Nr. 14 |
Jean Tournier wurde so reich, dass er sich am Markt (Nr. 14) eines der
prächtigsten Häuser in Calbe erbauen konnte, dahinter 1742 eine neue große
Färberei. Er "erwarb weiterhin noch vier Häuser und steckte Kapital in andere
Unternehmungen. Während des 7jährigen Krieges schoß er der Stadt 1000 Taler
[heute ein Millionen-Betrag - D.H.S.] zu der vom König befohlenen Zwangsanleihe
vor." (Ebenda).
1769 starb seine Frau Anna Dorothea.
Die 1729 in Calbe geborene Tochter Regina Charlotta heiratete 1746 Johann
Ursinus, einen Kaufmann aus Leipzig. (Nach genealogischen
Forschungsergebnissen von Herrn Roland Hiller aus Edemissen, einem Nachfahren
der französischen Familie Tournier)
1759 (oder 1769? - D.H.S.) setzte sich Jean Tournier zur Ruhe, wohnte später in
der Scheunenstraße 26, wie Einquartierungsnotizen aus der Zeit der
friderizianischen Kriege (vgl. Station 18) belegen (vgl. Reccius, Chronik..., a.
a. O., S. 80), und überschrieb das Geschäft, aus dem sich sein Kompagnon Ritter
bereits zurückgezogen hatte, seinem Enkel Johann Friedrich Ursinus. Dessen
Witwe, die Ritter-Tochter Wilhelmine Charlotte, verheiratete sich in zweiter Ehe
mit dem Kaufmann Bernhard Grobe aus Bernburg, der das Geschäft weiterführte und
1780 das großartige Tournier-Haus am Markt erwarb (vgl. ebenda).
1791 starb der Schönfärber und Tuchhändler Jean Tournier im Alter von 93 Jahren.
Er war hier in Calbe zu einem sehr reichen und angesehenen Mann geworden, der
von seinem Vermögen dem Pfarrer der reformierten Gemeinde ein Haus in der
Tuchmacherstraße/Ecke Grabenstraße geschenkt und in der Stadt eine Vielzahl von
bürgerlichen Funktionen innehatte (vgl. ebenda).
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Entwicklung Calbes im 18.
Jahrhundert zum herausragenden Tuchproduktionszentrum zu einem großen Teil
diesem bedeutenden Mann zu verdanken ist.
Eine scheinbare Gruft der Familie Tournier befand sich an
der Südmauer des Friedhofs gleich neben dem Ostausgang zur Bernburger Straße,
bevor sie, stark beschädigt, in den 1980er Jahren beseitigt wurde. Eine
Restaurierung fand deshalb nicht statt, weil es sich um eine "blinde" Grabanlage
handelte, d. h. es waren gar keine Särge vorhanden. Die Nachfahren wollten wohl
nur eine "Gedenkstätte" für ihren berühmten Ahnen Jean Tournier errichten, oder
sie betteten später die Gebeine der Toten an einen ihrer eigenen Wohnsitze um.
Wohin die Särge der Gründerfamilie gekommen sind, ist nicht zu ermitteln
gewesen.
Die Judenpeuplierung in Calbe blieb eher bescheiden. Beruhend auf der Aufklärung und dem darin essentiell enthaltenen Toleranzgedanken gab es zwar nicht mehr die Bosheiten und Verbrechen christlicher Menschen gegenüber Juden wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit, aber von Gleichstellung konnte in einer Zeit des Pietismus (s. oben) noch lange keine Rede sein. Der pietistische Protestantismus setzte eher auf Missionierung, das heißt in diesem Fall, auf die Bekehrung von Menschen jüdischen Glaubens zum Christentum; echte Toleranz lag dem Pietismus fern. 1706 war auf königlichen Befehl der Schutzjude Joseph aufgenommen worden, der aber nicht lange blieb. 1708 wurde in Calbe ein Jude namens Joseph Levi christlich getauft, um ihm das Los der Bettelei zu ersparen, wie es hieß. Der Konvertit wurde nach eigener Wahl Schneider; als Jude hätte er kein Handwerk erlernen dürfen. Nachdem er vom Magistrat eingekleidet worden war, hatte er sich auf Wanderschaft begeben. Zwei königliche Schutzjuden lassen sich seit 1718 bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Calbe nachweisen. Das Verhältnis zwischen Calbensern und Juden muss auch nicht gerade harmonisch gewesen sein. Immerhin drohte die königliche General-Tabak-Administration zwei Calbeschen Kaufleuten, die sich 1769 weigerten, weiterhin den staatlichen Tabaksvertrieb im Ort zu übernehmen, damit, zwei königlich privilegierte Juden damit zu beauftragen. Die Drohung wirkte. Erst mit der Französischen Revolution kam der Durchbruch, sie brachte auch für die jüdischen Mitmenschen die juristische, politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung - zumindest nach dem Gesetz (s. unten).
Von Anfang an hatten die Calber Bürger ein gespaltenes, teilweise auch gespanntes Verhältnis zum brandenburgisch-preußischen Militär.
Bereits 1677, also drei Jahre vor dem Ableben des Administrators und somit vor dem vereinbarten Zeitpunkt der Machtübernahme, hatte sich in Calbe kurfürstliches Militär einquartiert, und die Calbenser waren empört wegen der Errichtung eines Kompanie-Galgens auf ihrem Marktplatz. Auch 1683/84 lag für einige Zeit Militär in Calbe.
Für die Zeiten der Garnisonierungen hatten die Bürger "ihre" Soldaten in den Wohnungen aufzunehmen und zu beköstigen. Auf dem Alten und Neuen Markt wurde je ein Wachlokal eingerichtet, „Corps de garde“ genannt.
1722 lag das gesamte "Dessauer Regiment" (Infanterie-Regiment Nr. 3), die Muster-Militäreinheit unter dem Generalfeldmarschall Leopold Fürst von Anhalt-Dessau, 7 Wochen lang in Calbe (Regiment 1000-2000 Mann). Der "Alte Dessauer", ein Freund des "Soldatenkönigs" und der "Drillmeister" Preußens, hatte einige Neuerungen eingeführt, wie straffe Dienstreglementierung, Einführung des eisernen Ladestocks und Erhöhung der Feuerkraft, das Exerzieren und den Gleichschritt.
In Friedenszeiten gingen die jungen Burschen nach der 18monatigen Grundausbildung und der festgesetzten jährlichen Exerzier- und Garnisonszeit für einige Monate im Jahr nach Hause. In der Garnison blieb ein Drittel der Mannschaft. So waren demnach 1722 etwa 300 bis 600 Soldaten bei 600 Calbeschen Familien untergebracht.
Am 18. Oktober 1741, während des ersten Schlesischen Krieges, rückten 4 Kompanien (400–800 Mann) des "Regiments zu Fuß" (Nr. 9) von Leps in Calbe in die Winterquartiere. Das war ein Regiment, welches im zweiten und dritten Schlesischen Krieg traurige Berühmtheit wegen seiner hohen Verluste (jeweils 10 bis 50 % Tote und rund 20 bis 40 % Verwundete) erlangte.
Nach dem preußischen Sieg bei Chotusitz (tsch. Chotusice) am 17. 5. 1742 über die Österreicher feierte das erste Bataillon (Bataillon 500-1000 Mann) des Leps-Regimentes in Calbe mit großem Aufwand. Auf den Hohendorfer Wiesen vor der malerischen Waldkulisse bewirtete der Regimentskommandeur die Herren Offiziere auf das Herrlichste. Auf dem Anger nahe dem Sandhof wurde ein Feuerwerk abgebrannt mit Raketen und Feuerkugeln, die über die Saale rollten. Nachdem sich der Herr General in sein Quartier im Reichenbachschen Rittergut zurückgezogen hatte, brachten ihm die aufgekratzten Offiziere noch ein Ständchen, zogen dann aber weiter, um "anzügliche Arien unter Leierbegleitung" unter den Fenstern derjenigen Ratsmitglieder zu singen, mit denen sie auf Kriegsfuß standen. Das gab allerdings Ärger, aber am 18. Juni kam das zweite Bataillon von Aken, und kurz danach rückte das nun vollständige Regiment nach Westfalen ab. Doch die Ruhepause für die Bürger dauerte kaum länger als ein Jahr.
Im Oktober 1743 kam das zweite Bataillon des neu gegründeten Füsilierregiments Hessen-Darmstadt (Infanterieregiment Nr. 47) ins Quartier nach Calbe. Das Bataillon blieb bis 1753 in Calbe stationiert. Der Kommandeur des in Calbe stationierten Bataillons war Oberst Baron Bolstern von Boltenstern, sein Stellvertreter Major von Kleist. Außer den beiden hohen Stabsoffizieren waren auch 19 andere Offiziere ins Calber Quartier gekommen, weiterhin 48 Unteroffiziere, 48 Unteroffiziers-Ehefrauen, vier Feldscher (Militärmediziner), 16 Tambours (Militärmusiker), eine Tambour-Ehefrau, 546 Füsiliere (Infanteriesoldaten, nach frz. fusil = Gewehr) und 93 Soldaten-Ehefrauen (vgl. Hertel, S. 47).
Das Bataillon hatte also eine Stärke von 635 Mann. Über die Einquartierungen gab es, wie die Akten berichten, viel Wut unter der Bürgerschaft, die sie vorwiegend an den Behörden ausließ. Bald schon gab es eine Rüge des Kommandeurs, weil trotz des Alarms nicht ein einziger Bürger zur Verfolgung eines Deserteurs auf dem Marktplatz, wie befohlen, erschienen war. Dann kamen auch noch die ehrenrührigen Beschwerden des Obersten und seiner Offiziere hinzu, in Calbe würde ein schlechtes Bier gebraut, schlechtes Brot gebacken und es gebe zu wenig Fleisch. Das brachte den Rat so in Rage, dass sich einer der Sechsmänner gegenüber von Bolstern zu einer in den Akten notierten boshaften Bemerkung hinreißen ließ. Von Bolsterns Umgang mit Menschen scheint nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei seinen Soldaten auf Widerwillen gestoßen zu sein, denn wiederholt sind in den Akten Hinweise auf Gewalttätigkeiten und Desertionen zu finden.
Am 17. September 1747 kam der Erlass, die Hintertüren der Calbeschen Häuser verschlossen, alle Leitern angekettet zu halten und keine neuen Ausgänge anzulegen, um Desertionen zu erschweren.
Als ein Soldat 1744 mit drei anderen Kameraden bei der Flucht gestellt wurde und in seiner Verzweiflung einen ihn verfolgenden Unteroffizier durch einen Stich ins Bein so verletzte, dass dieser später verstarb, wurde er in Calbe auf dem Marktplatz in Anwesenheit des Bataillons gehenkt. Abends musste der Henker den Leichnam abnehmen und zum Galgenplatz, 800 Meter westlich vor dem Brumbyer Tor (vgl. Teil 1) auf einem Brett schleifen (- nicht fahren). Dort wurde die Leiche des noch im Tode gedemütigten Mannes ohne Grab unter dem Galgen verscharrt. Einem Unteroffizier mit 3 Mann gelang am Pfingsttag 1744 die Flucht.
Die Calbeschen Bürger mussten auf Befehl des Kommandeurs ohne Entschädigung ständig 4 Pferde zur Verfolgung von Deserteuren bereithalten. Soldaten, die für die Truppe Kutscherdienste zu versehen hatten, waren besonders desertionsverdächtig. Deshalb wurde ihnen ein Teil des Kopfes kahl geschoren. Bei Verdacht mussten sie die Kopfbedeckung abnehmen. 1758 suchte man einen Deserteur vom Regiment Alt-Braunschweig vergeblich bei seinen Eltern in Calbe; er war aus dem Lazarett in Torgau geflüchtet.
Die rivalisierenden Staaten versuchten wechselseitig, die Soldaten der Gegenseite zur Desertion zu bewegen, wobei potentielle Flüchtige mit materiellen Vergünstigungen gelockt wurden. 1756, zu Beginn des Siebenjährigen Krieges waren die Städte von hoher Stelle angewiesen worden, österreichischen und französischen Deserteuren "täglich zwei Groschen Zehrgeld aus öffentlichen Kassen" zu verabreichen.
Wie weit Gewalt auch bei der skrupellosen Jagd nach Soldaten im Spiel war, zeigt ein Calber Vernehmungsprotokoll von 1769. In Ratibor (Raciborz) hatte man den preußischen Infanterie-Soldaten Kröckel als Überläufer festgenommen. Der ehemalige preußische Unteroffizier, der invalide Sattler Johann Samuel Drenkmann, der ihn kannte und jetzt in Calbe lebte, gab zu Protokoll, "es treffe zu, daß die Östreicher den gefangenen preußischen Musketier Kröckel durch qualvolle Behandlung - Krummschließen u. dergl. - gezwungen hätten, kaiserliche Dienste anzunehmen."
Friedrich Wilhelm I. beendete die "wilden Rekrutierungen", die großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet hatten, indem er das 1733 Kantonierungssystem einführte, nach dem das ganze Land in Militärkantone eingeteilt wurde, aus denen sich die Regimenter zu rekrutieren hatten. Die Rekrutierungen betrafen ausschließlich Bauern- und Handwerksburschen. Die Kommandeure ließen in ihrem Kanton alle gesunden und gut gewachsenen Jungen registrieren, um sie dem jeweiligen Regiment zu verpflichten. Die Knaben trugen nun die Regimentsfarbe an ihren Hütchen, die sie als künftige Soldaten kennzeichnete.
Um die Jungen als potentielle Soldaten und die Mädchen als künftige Soldatenfrauen für militärischen Glanz zu begeistern, bekamen die Schulkinder bei Truppen-Durchmärschen, Paraden und Militär-Festen schulfrei. Nach der Konfirmation wurde die Jungmannschaft »enrolliert«, d. h. in die Stammlisten eingetragen. Benötigte der Kommandeur Ersatz, zog er so viele Enrollierte mit der vorgeschriebenen Größe ein, wie er brauchte. Übrigens: Das geflügelte Wort vom "unsicheren Kantonisten" stammt aus dieser Zeit, als es auch junge Burschen gab, die sich mit dem Gedanken trugen, nicht "bei der [Regiments-]Fahne" zu bleiben und sich rechtzeitig abzusetzen, also bereits als Enrollierte vor ihrem Militärdienst zu desertieren.
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Leib-Kürassier |
Calbe gehörte zum Kanton für das Infanterie-Regiment Nr. 5 (Regiment zu Fuß) [1655 - 1806], dem berühmt-berüchtigten "Leibregiment des Königs". So hatten denn auch die jungen Männer aus Calbe neben denen aus Magdeburg, Staßfurt, Aken, Egeln, Görtzke, Loburg, Luckenwalde sowie den Bauernburschen aus den Kreisen Jerichow I und II, Luckenwalde und aus dem Holzkreis 1 des Herzogtums Magdeburg die zweifelhafte Ehre, für ihre hohen Verluste in den inzwischen in die Kriegsliteratur eingegangenen Schlachten von Hohenfriedeberg (Dobromierz), Lobositz (Lobosice) und Kunersdorf (bei Fürstenberg) sowie an der Katzbach bei Liegnitz (Legnica) die Lieblinge Friedrichs II. zu sein. Die Verluste dieses Leibregiments auf den Süptitzer Höhen bei Torgau waren so hoch, dass der König jegliche Bekanntgabe verbot.
Allerdings war es auch möglich, sich - im Interesse einer prosperierenden Wirtschaft - vom Militärdienst freistellen zu lassen. Als ein Fleischermeister 1789 starb, war sein Sohn noch in der Lehre. Der junge Mann führte 7 Jahre lang das Geschäft für seine Mutter als Geselle, weshalb er als Kantonist seines Regiments gestrichen wurde. Auch Loskauf war möglich. 1731 ließ in Landgerichtsschöffe sein Mündel für 20 Taler aus der Regiments-Stammrolle (s. oben) streichen. Kantonierung galt nur für die unteren Volksschichten. 1773 beanspruchten die Mitglieder der Kaufmanns-Innung Freiheit von der Enrollierung ihrer Söhne, weil sie ein entsprechendes Vermögen aufzuweisen hatten.
Von 1753 bis zum Zusammenbruch Preußens 1806 war in Calbe eine Eskadron (160 Mann) mit 2 Kompanien des Kürassierregiments Nr. 3 (5 Eskadronen bzw. 10 Kompanien) stationiert, das seit 1656 als "Leib-Kürassierregiment" galt. Kürassiere nannte man die schwere Reiterei mit Brustpanzer (Kürass). Sie waren mit Palasch und Karabiner bewaffnet (s. Abb.). Als Palasch bezeichnete man eine zweischneidige, gerade Hieb- und Stichwaffe, auch Kürassierdegen genannt. Jede Kürassier-Eskadron hatte zwei Trompeter, zwei Waffenschmiede und einen Feldscher (Feldchirurg).
Die Kantonisten des Kürassier-Regiments kamen aus den Kreisen Aschersleben, Oschersleben und dem östlichen Teil des so genannten Holzkreises mit den Städten Schönebeck/E. (mit Frohse und Salze), Mansfeld, Hamersleben und Gerbstedt. Seit 1732 war das Regiment unter seinem Chef Generalmajor Hans Friedrich von Katte in seinem eigenen Kanton stationiert. Leibkürassier-General von Katte war der Vater jenes unglücklichen Leutnants Hans Hermann von Katte, der 1730 in Küstrin enthauptet wurde.
Das Desertionsproblem war auch bei den Kürassieren gegenwärtig, denn 1756 wurde den Bürgern Calbes befohlen, alle Türen ihrer Häuser geschlossen zu halten und sofort Meldung zu erstatten, wenn ein Soldat zur Nachtruhe nicht im Quartier war.
Der dritte Schlesische, der so genannte Siebenjährige Krieg (1756 - 1763) brachte für Calbe erstmals nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder Plünderungen, Drangsalierungen und Kontributionen.
Unter dem Oberbefehl des "Alten Dessauers" Fürst Leopold (s. oben) war das Leib-Kürassier-Regiment in diesen Krieg gezogen, wo es mit erheblichen Verlusten eingesetzt wurde.
Die Bevölkerung der Garnison Calbe aber blieb, wenn den König wie in diesem Fall das "Kriegsglück" verließ, den feindlichen Truppen schutzlos ausgeliefert. Bei der französischen Invasion 1757 hatte die Stadt Calbe knapp 2980 Taler verloren. Als die Österreicher und Russen in unsere Gegend einrückten, wurde laut Augenzeugenberichten geplündert und gebrandschatzt. Nach der schweren Niederlage Friedrichs II. am 17. August 1759 bei Kunersdorf drangen österreichische Husaren und Jäger (Scharfschützen) auch bis Calbe vor. Laut einer Aktennotiz hatten sie Nahrung, Getränke, Stoffe, Lederwaren und Gebrauchsgegenstände im Wert von 1250 Talern requiriert. Die Österreicher waren vor die verschlossene Stadt gezogen und hatten deren Verschonung mit der Lieferung der genannten Dinge erpresst. Im Falle einer Weigerung der Bürger drohten die Belagerer mit der Erstürmung und Einäscherung der Stadt. Die Österreicher hielten sich so lange, bis die Lieferungen erfolgt waren, in den Vorstadthäusern auf.
Den Siebenjährigen Krieg hatten 63 Kantonisten aus Calbe in "ihrem“ Leibregiment des Königs mitgemacht, 12 (19%) waren nicht zurückgekehrt.
1778 mussten sich die Leib-Kürassiere erneut auf einen Krieg vorbereiten. Österreich hatte es, um seine Stellung im Reich zu stärken, auf Teile Bayerns abgesehen. Das rief Preußen auf den Plan. Als Verhandlungen scheiterten, rüsteten beide Seiten zum Krieg, zum so genannten Bayrischen Erbfolgekrieg.
Die Calbeschen Sattlermeister lieferten 100 Packsättel, und der Magistrat transportierte zwangsweise 4 Schmiede- und 2 Stellmachergesellen unter Bewachung nach Magdeburg, wo sie im Artilleriedepot schwere Mobilmachungsarbeiten zu leisten hatten.
Zwei Regimenter machten kurz in Calbe Station und zogen am 1. Juli 1778 in Richtung Böhmen ab, dem für die Soldaten angenehmsten und vergnüglichsten preußischen Krieg entgegen; denn es gab im Bayrischen Erbfolgekrieg nicht eine einzige Schlacht und kaum Blutvergießen, dafür um so mehr in Böhmen geklaute Kartoffeln und Obstbaumfrüchte. So wurde der Krieg auch von den Preußen spöttisch "Kartoffelkrieg" und von den Österreichern wegen ihres reichlichen Pflaumengenusses mit anschließenden Darmproblemen "Zwetschgengrummel" genannt. Der Böhmen-Marsch nahm schon im Oktober ein friedliches Ende. Die verfeindeten Seiten waren durch die drei Schlesischen Kriege zu sehr erschöpft und wirtschaftlich geschädigt.
Die Tuchmacher in Calbe, welche mit einem länger dauernden Krieg gerechnet und entsprechend mehr Rohstoffe beschafft hatten, wurden in große finanzielle Schwierigkeiten gebracht und ein Teil von ihnen ruiniert (vgl. Teil 1).
Alles in allem gesehen, war die preußische Militärmaschine ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor für das städtische Bürgertum des Manufakturzeitalters.
Während die einen Gewerke von den Soldatenscharen in der Stadt und von den Aufträgen der königlichen Kriegskammer profitierten, ging es einem anderen Teil der Bürgerschaft unter der preußischen Militärherrschaft nicht so gut. Besonders alte und gebrechliche Bürger litten unter den Einquartierungen. Es gab aber außer solchen Belastungen auch andere Schattenseiten des preußischen Militarismus für die Bürger. So wurde in den Ratsakten Beschwerde darüber geführt, dass handwerklich ausgebildete Soldaten illegal zu Dumpingpreisen kleine Handwerksarbeiten ausführten und damit den Innungen die Arbeit wegnahmen. Seit den 1740er Jahren nahmen die Aktionen von Diebesbanden drastisch zu. Deserteure, Kriminelle und einige Soldaten arbeiteten zusammen, indem zuerst in weiter entlegenen Städten wertvolle Gegenstände gestohlen wurden, die dann hier von Soldaten unter der Vorgabe, sie stammten aus Feindesbeute, verhökert wurden. Nach dem Bayrischen Erbfolgekrieg kam es in Calbe wieder zu einer Zunahme der Diebstähle, zu deren Verhütung die Reiter vom Leibregiment und Bürgerwachen herangezogen wurden.
Soldaten, die sich ehrenvoll verhalten hatten, erhielten nach der Dienstzeit, wenn sie wollten, nicht nur das städtische Bürgerrecht, sondern konnten sich auch um einträgliche Gewerke als Tuchmacher oder Gastwirte bewerben. Laut königlichem Erlass von 1722 bekamen entlassene Soldaten zum Ärger der alteingesessenen Calbenser freies Bürger- und Meisterrecht. 1783 erwarb Andreas Weber, ein ehemaliger Reiter bei den in Calbe stationierten Leibkürassieren, das Bürgerrecht und übernahm den "Gasthof zum Weißen Ross“ am Markt. Wirt im "Schwarzen Adler" vor dem Brumbyer Tor war 1782 Zacharias Kegel geworden, der Leutnant in einem Freikorps gewesen war.
Mit Zustimmung der Regierung durfte auch der aus Südwestdeutschland stammende, ehemalige Reiter Friedrich Wilhelm Raab, katholischer Konfession, Bürger in Calbe werden.
Sein Schicksal in friderizianischer Zeit ist typisch für das vieler junger Männer jener Epoche und soll hier kurz nach den Ratsakten skizziert werden:
In seiner Heimatstadt Bruchsal hatte Raab das Fleischerhandwerk erlernt. 1760 ging er in die Fremde, wurde französischer Husar, desertierte aber bald zu den Preußen. Dort trat er in das Bauersche Freikorps ein und wurde nach dem Kriege bei Auflösung des Freikorps Reiter bei den Leibkürassieren in Calbe. Als solcher erhielt er Urlaub in Erbschaftsangelegenheiten nach seiner Heimat. Als er von der langen Reise (ca. 600 km) nicht rechtzeitig zurückkehrte, musste er 10mal Spießruten laufen und wurde danach an das Bataillon in Aken verkauft. Später machte ihn Rittmeister von Esebeck frei und nahm ihn als Jäger (=leicht beweglicher Scharfschütze) an. Als solcher wurde er beim Wildschießen für seinen neuen Gönner im Barbyschen Gehege, also auf kursächsischem Gebiet, ertappt, festgenommen und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, welches er in Torgau absitzen musste. Danach war Raab als Werber tätig und verkaufte Calber Rekruten an fremde Regimenter, zu deren Kantonen Calbe gar nicht gehörte. Deshalb wurde er wieder verhaftet, bald jedoch mit einer Verwarnung entlassen.
Als dieser Mann in Calbe darum bat, erhielt er 1784 trotz seiner katholischen Konfession und seiner dubiosen, unbürgerlichen Vergangenheit das Bürgerrecht (vgl. Reccius, S. 81).
Für ausgeschiedene kranke und invalide Soldaten wurde ebenfalls in bescheidenem Maße gesorgt. Einige invalide Veteranen wurden als Dorfschullehrer verwendet. 1792 erbat der kranke Grenadier Johann George Boßmann den Abschied. Er habe 35 Jahre lang gedient und könne nicht mehr alle Jahre den Weg von Calbe nach der Garnison, zumal unter schweren Kosten, machen. Er besitze ein Haus in Calbe und könne sich als Zimmermann ernähren, so dass er keinerlei Versorgungsansprüche stelle. Der Magistrat bestätigte Boßmanns Angaben.
In der 13jährigen Friedensperiode wurden Manöver und Paraden abgehalten, die ab und zu auch noch für die Calbenser zusätzliche Einquartierungslasten brachten.
1781 bezog z. B. das oben erwähnte Infanterieregiment Nr. 3, das "Dessauer", später "Anhalter" genannte Regiment, das einstmals unter dem Kommando des "Alten Dessauers" gestanden hatte, in Calbe Quartier. Es war auf Station vor der großen Truppenparade mit Manöver in Körbelitz (bei Magdeburg). Der Kommandant, Generalmajor Franz Adolf Prinz von Anhalt-Bernburg, nahm seinen Sitz im Doppel-Haus des Tuchfabrikanten Joachim Gerhard Ritter, Breite 42/43 (vgl. Station 18), die Stabsoffiziere wurden zu reichen Tuchfabrikanten, z. B. zum 83jährigen Jean Tournier (vgl. Station 1), zu wohlhabenden Kaufleuten, Ratsherren sowie zum Rittergutspächter, zum Regierungskommissar und zum Stadtsyndikus ins Quartier gelegt. Bei einer Einwohnerzahl von 3161 lagen in Calbe in diesen Wochen insgesamt 2887 "Manövergäste" außer den "eigenen" Leibkürassieren. Frei von Einquartierungen blieben nur der Bürgermeister, der Kämmerer (wegen der Stadtkasse), die Post (wegen der Briefe) und der "Braune Hirsch" als Ratsgasthof.
Nach dieser längeren Friedensperiode zogen die Calber Leibkürassiere erst 1792 vor Weihnachten wieder in den Krieg, diesmal gegen das revolutionäre Frankreich.
Die Rückgewinnung von Mainz und der Sieg bei Pirmasens wurden in Calbe festlich begangen, und die Bürger von Calbe spendeten 50 Taler für die Verwundeten und 115 Taler für die Soldaten aus Calbe. Als 1400 französische Kriegsgefangene den langen Marsch von Mainz nach Magdeburg antreten mussten, kamen nur noch 200 gesund in Calbe an, 400 waren gestorben, 800 krank.
Als am 5. April 1795 der Sonderfrieden in Basel unterzeichnet wurde, feierten die Calber Bürger am 24. Mai ein Friedensfest, und am 30. Mai kehrten die Leibkürassiere in die Calbesche Garnison zurück. 1796 mussten sie wieder ausrücken, um gemeinsam mit anderen preußischen Regimentern die im Baseler Frieden ausgehandelte Demarkationslinie in Westfalen zu besetzen. Nach der 1801 erfolgten Anerkennung des Status quo durch Kaiser und Reich kehrten die Leibkürassiere nach Calbe zurück.
Inzwischen aber änderte sich in Frankreich einiges. Der erfolgreiche Revolutionsgeneral Napoleon Bonaparte hatte sich selbst 1804 zum Kaiser "befördert". Das Heilige Römische Reich fand 1806 mit der Niederlegung der Kaiserkrone in Wien sein Ende. Als Preußen gemeinsam mit Sachsen und Russland im Vierten Koalitionskrieg (1806/07) gegen Napoleon antrat, war sein Ende vorprogrammiert.
Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 rückten napoleonische Truppen rasch auf die Festung Magdeburg vor. Nun kamen die Bedrückung und das Elend durch feindliche Besatzung nach 46 Jahren wieder über Calbe. Am 16. Oktober wurden die Calbesche Kämmereikasse und die wichtigsten Akten nach Magdeburg gebracht. Das hätte man lieber lassen sollen, denn das Geld wurde nicht wieder gesehen. Das Magdeburger Umland, also auch Calbe, musste für die bald eingetroffenen Franzosen gewaltige Lieferungen in Naturalien und Geld aufbringen. Tausende Kilo Getreide wurden für die Belagerung Magdeburgs requiriert. Dazu kamen Schlachttiere und Kühe sowie mehrere tausend Taler an Geld. Die Festung Magdeburg fiel schon am 8. November. Für die Bürger trat aber keine kleine Erleichterung ein, große Lasten (3350 Taler) blieben weiterhin zu tragen. Besonders lästig waren für die Bürger die geforderten Vorspann-Dienste (vgl. Hertel, S.51 f.)
Am 7. Juli 1807 wurde der Vierte Koalitionskrieg durch den Friedensschluss von Tilsit (Sowjetsk) zwischen Frankreich und Russland beendet. Auf Fürsprache des Zaren Alexander I. blieb das besiegte Preußen als Rest-Staat erhalten. Es verlor aber einen erheblichen Teil des eigenen Territoriums, die linkselbischen Gebiete.
Und damit wurde nun auch Calbe französisch. Zu den ersten Maßnahmen der Französisierung gehörte die Einrichtung einer Gendarmerie in Calbe, zu der nur angesehene und frankophile Bürger genommen wurden.
1808 kam dann Calbe zum Königreich Westfalen und in diesem zum neu geschaffenen Elbdepartement mit einem Präfekten an der Spitze. Calbe bildete mit dem Umland einen Kanton, der in zwei Verwaltungszentren aufgeteilt wurde, den städtischen (municipal) und den ländlichen (rural) Bereich. Das war das Vorbild für die spätere Einteilung in preußische Provinzen, Bezirke und Kreise. Zum munizipalen Bereich gehörte Calbe mit den beiden Vorstädten, dazu Gottesgnaden, Schwarz und Zens; der ländliche Teil des Kantons Calbe bestand aus Brumby, Förderstedt, Üllnitz, Glöthe, Eickendorf und Neugattersleben.
Der Präfekt des Elbdepartements ernannte an Stelle des Magistrats den Munizipalrat in Calbe mit 16 Bürgern, die am 22. November 1808 auf König Jerome, einen Bruder Napoleons, und die Konstitution vereidigt wurden. Statt Taler war die Währung jetzt der 1796 ins Leben gerufene französische Franc.
1808 mussten die Bürger des Königreiches Westfalen eine Zwangsanleihe von 24 Millionen Franc und 1811 erneut eine von 10 Millionen aufbringen. Wer nicht zahlen konnte, dessen Hab und Gut wurde zwangsversteigert, um die geforderte Summe aufzubringen.
Aber die Armee Napoleons kam nicht nur als Annexionsinstrument, als das man sie verständlicherweise vordergründig sah, sondern auch als verlängerter Arm der bürgerlichen Revolution in Frankreich. In dieser demokratischen Funktion brachte die napoleonische Herrschaft durchaus positive Neuerungen für die erstarrte preußische Gesellschaft.
Außer der erwähnten bürgerlichen Konstitution (konstitutionelle Monarchie) und der neuen Verwaltungsstruktur wurde 1808 die bürgerliche Gleichstellung der Menschen jüdischen Glaubens eingeführt. Im gleichen Jahr setzten die Franzosen die später bei den Preußen so beliebt gewordenen Bekanntmachungen mittels Plakaten an öffentlichen Gebäuden durch. 1809 wurden die Innungen und Zünfte aufgehoben und ihr Vermögen eingezogen. Bei den Calbeschen Innungen gab es nicht viel einzuziehen, die Innungskassen waren fast leer. Die Liquidierung der Innungen war für die wirtschaftliche Entwicklung in Preußen von Wichtigkeit, weil die starren mittelalterlichen Vorschriften schon lange zum Hemmschuh für den Kapitalismus der freien Konkurrenz geworden waren.
Diese positiven Einflüsse konnten und wollten die Calber Bürger nicht sehen, denn die Lasten durch die französische Herrschaft brachten sie an den Rand des Ruins. Auch schwere Belästigungen kamen vor: 6 französische Soldaten, die 1809 bei einem Tuchmacher in der Breite Nr. 9 einquartiert waren, demolierten die Wohnung und prügelten ihren Quartierwirt. Eine Bestrafung der Schuldigen erfolgte nicht.
Die Wehrpflichtigen flohen in Scharen vor ihrem Dienst in der westfälischen Armee. Von 43 jungen Calbensern des Jahrganges 1789, die 1809 eingezogen werden sollten, waren 21 unauffindbar und 2 waren ins ostelbische Rest-Preußen geflohen.
Der Insurrektionszug des preußischen Husaren-Majors Ferdinand von Schill durch das besetzte Gebiet stieß bei den geflohenen Soldaten jedoch kaum auf Resonanz. Am 3. Mai 1809 war die kleine Schillsche Schar in Bernburg, am 4. Mai in Neugattersleben, und am 5. Mai lieferte sie sich das in die Kriegsliteratur eingegangene Gefecht bei Dodendorf, bevor sie knappe vier Wochen später ein blutiges und tragisches Ende in Stralsund fand.
Natürlich mussten Calbenser auch in der 610 000 Mann starken "Grande Armée" 1812 mit gegen Russland ziehen. Die Hälfte dieses Riesenheeres waren Deutsche und Angehörige von Hilfstruppen aus anderen Ländern. Wie viele Calbenser bei dem katastrophalen Rückzug umkamen und in fremder Erde blieben, ist nicht bekannt.
Nach dem Verlust der Odergrenze wollte Napoleon unbedingt die Elblinie halten. Die letzte Etappe der französischen Besatzung in unserer Gegend, von den Calbensern "Westfalenzeit" genannt, begann.
Am 25. März 1813 quartierte sich der aus einfachsten Verhältnissen stammende Marschall von Frankreich Victor, Herzog von Belluno (bürgerlich: Claude Victor Perrin), mit seinem Hauptquartier (30 Offiziere, 30 Chasseurs [Jäger], 60 Diener und 2 Kompanien) in Calbe ein, für das 180 Rationen Brot und Fleisch gefordert werden. Sein II. Armeekorps war in den Dörfern des Kantons Calbe untergebracht worden. Am 26. März 1813 kamen Teile des XI. Armeekorps´ unter Brigadegeneral Baron Grenier mit 145 Offizieren und 4450 Mann nach Calbe und quartierten sich ebenfalls dort ein. Jetzt lebten in Calbe fast doppelt so viele französische Soldaten wie zivile Einwohner. Die Forderungen der Besatzer waren enorm: für die Kavallerie knapp 1500 Zentner Fourage, dazu 2916 Maß Branntwein, 10.000 Pfund Brot. Als im April 1813 Vizekönig Eugen von Italien, ein Bruder Napoleons, mit seiner Truppe in Staßfurt lag, musste sie teilweise von Calbe aus mit verpflegt werden.
Die Fleisch- und Mehlvorräte der Calbenser und der Dorfbewohner waren zu Ende. Viele Bürger verließen ihre Häuser und wohnten zur Miete, weil sie die geforderten Requisitionen nicht mehr liefern bzw. bezahlen konnten. Am 12. April 1813 kam auch noch das 40. Regiment zusammen mit Artillerie nach Calbe, und am 14. April wurde in Calbe der Belagerungszustand ausgerufen. Als das XII. Armeekorps auf dem Durchmarsch war, musste der Kanton 250 000 Rationen Brot, 250 000 Maß Branntwein, 250 000 Rationen Gemüse, Salz, Bier und Fleisch sowie 5000 Rationen Heu Stroh und Hafer liefern. Im April/Mai 1813 hatten allein die Stadt Calbe und die Bernburger Vorstadt je 8272 Rationen Brot, Fleisch und Fourage abgeben müssen.
Seit Juni wurde die Festung Magdeburg von den Franzosen für die Verteidigung hergerichtet, und der Kanton musste große Lieferungen dafür aufbringen (für fast 3000 Taler Weizen, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchte, Fleisch, Branntwein, Heu und Stroh). Viele Bürger hatten ihr Hab und Gut verkauft, um die geforderten Summen aufbringen zu können, überall herrschte Verzweiflung.
Außerdem musste der Kanton Calbe 1000 Schanzarbeiter, 10 Maurermeister, 30 Krankenwärter, alle Maurergesellen und alle Schiffer aufbringen. Es erschienen aber zu den Schanzarbeiten sehr viele Frauen und Kinder, was von den Franzosen verboten wurde. Im Juli besichtigte Kaiser Napoleon die Festung Magdeburg und gab neue Befehle. 3000 Arbeiter wurden angefordert. Es erschienen jedoch nur 450. Die Franzosen drohten nun Gewalt an. Zur Aushebung der Arbeiter trafen Exekutionskommandos ein, die mit Einäscherung der widerspenstigen Orte drohten.
Als im Oktober Napoleon die bis dahin größte Schlacht der Geschichte bei Leipzig verlor und die Verbündeten vorrückten, kam es vermehrt zu Desertionen aus der westfälischen Armee. Aus Calbe wurden 11 flüchtige Soldaten namentlich gemeldet. Im Januar 1814 begann der preußische General Tauentzien die Belagerung der französischen Festung Magdeburg. Wegen der Unsicherheit für die Franzosen und wegen der Lebensmittelknappheit wurden die westfälischen Truppen aus der Festung entlassen.
In der gleichen Zeit wurden russische verbündete Truppen in Calbe einquartiert, die auch requirierten. Wegen ihres groben Umgangs mit der Bevölkerung waren sie bei den Calbensern nicht gerade beliebt, vermittelten aber das Gefühl der nahenden Befreiung. Ebenso wurden auch die für die preußische Landwehr geforderten Schuhe nicht als Last empfunden.
Nachdem Napoleon am 6. April 1814 schon zur Abdankung gezwungen worden war und inzwischen auf Elba saß, hielt sich die französische Besatzung in der Festung Magdeburg immer noch. Weil die Lebensmittel immer knapper wurden und das Verratsrisiko zu groß war, entließ der französische Kommandant 1367 Magdeburger Familien aus der Festung. Eine erhebliche Anzahl von Magdeburgern wurde vorübergehend in Calbe aufgenommen. Am 14. Mai war auch für Magdeburg alles vorbei. Die Franzosen in der Festung kapitulierten und zogen bis zum 16. Mai ab (vgl. Hertel, S. 53 ff.).
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses (18. September 1814 - 19. Juni 1815) bekam Preußen das alte westelbische Territorium und damit auch das Calbesche Gebiet zurück. Eine Entschädigung der bis an den Rand der Existenzfähigkeit belasteten Landstriche durch Frankreich erfolgte jedoch nicht.
Der bürgerlich-fortschrittliche Impetus, der von den französischen Okkupanten ausgegangen war, blieb erhalten, die reformerische Umgestaltung Preußens war in Gang gekommen. Am 30. April 1815 wurde die preußische Provinz Sachsen geschaffen und Calbe als Kreisstadt etabliert.
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