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6. Abschnitt: 1815 bis 1871 (Calbe im Zeitalter der bürgerlichen Umgestaltung in Deutschland)
Im Zuge der „Neuordnung Europas“ nach dem Sieg der alliierten Mächte über Napoleon wurde auch in Preußen die zaghafte bürgerliche Umgestaltung, die mit Reformen zur Vorbereitung des Befreiungskampfes begonnen hatte, fortgeführt. Calbe erlebte während dieses Zeitabschnittes zwei politische Revolutionen, die Revolution des Volkes 1848/49 und die mit „Eisen und Blut“ betriebene „Revolution von oben“ des Kanzlers Bismarck 1866-1871, sowie den Beginn der durch die Dampfmaschine in Gang gesetzten industriellen Revolution, außerdem die Umgestaltungen der Verwaltung, der Landwirtschaft und des Verkehrswesens, die Manifestierung bürgerlichen Selbstwertgefühls in Vereinen, Parteien und Presseorganen und ebenso die damals stattfindenden Umbrüche in der Gesellschaft. Die neue, rasch wachsende Schicht der Industriearbeiter entstand auch in Calbe und machte das Bürgertum dieser Stadt mit der „sozialen Frage“ bekannt. Gleichzeitig wuchsen die Einwohnerzahlen schnell und führten zu medizinischen und hygienischen Problemen. Mehrfach begannen sich die alten familiär-patriarchalischen Bindungen aufzulösen.
Am 30. April 1815 wurde im Königreich Preußen die Provinz Sachsen eingerichtet, die aus den neu geschaffenen Regierungsbezirken Magdeburg, Merseburg und Erfurt bestand, und Calbe wurde eine der neuen Kreishauptstädte im Regierungsbezirk Magdeburg. Der schon 1814 als Landrat eingesetzte Justizamtmann Dr. Bessel stand an der Spitze des Kreises Calbe. Ihm folgten 1818 bis 1879 Vater, Sohn und Enkel aus der alten preußischen Familie von Steinäcker (vgl. Hertel, Geschichte…, a. a. O., S. 61 und Reccius, Chronik…, a. a. O., S.85). [Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich im Folgenden die Ausführungen auf dieser Seite mit den entsprechenden Jahresangaben auf dieses Werk von Reccius.] Zunächst befand sich das Landratsamt in der Poststraße (heute: August-Bebel-Straße) Nr. 48, dann wurde es in der Scheunenstraße Nr. 26 in einem ehemaligen Tournierhaus untergebracht, und schließlich zog man in das 1835 von Landrat Major Franz von Steinäcker erworbene Haus Postraße 38 um.
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Wappen des Kreises Calbe |
Das Amt des städtischen Syndikus´, auf das man in Calbe seit 1599 großen Wert legte, wurde 1816 abgeschafft. Bürgermeister und Stadtsekretär brauchten nun keine Unterstützung mehr durch einen Akademiker und konnten dessen ehemalige Aufgaben unschwer selbst übernehmen. Mit der Steinschen Städtereform von 1808 war in Vorbereitung des Kampfes gegen Napoleon ein erster Schritt in Richtung bürgerlicher Mitbestimmung in den Städten getan worden. In größeren preußischen Städten wie Berlin erfolgte seit 1809 die Wahl des Magistrats durch eine Stadtverordnetenversammlung, die ihrerseits aus einer geheimen und gleichen Wahl der männlichen Bürger mit einem Jahreseinkommen von mindestens 200 Talern hervorging. Da Calbe zu jener Zeit noch unter französisch-westfälischem Regime stand, fanden hier die ersten Stadtverordnetenwahlen erst 1831 nach der Einführung der revidierten preußischen Städteordnung statt. 18 Stadtverordnete und ebenso viele Stadtverordneten-Stellvertreter repräsentierten nun das Stadtparlament (- in Halle waren es 27/27). Die Calbeschen Stadtverordneten waren – ähnlich anderen preußischen Städten - vorwiegend Fabrikanten und Kaufleute und ihre Stellvertreter meist Handwerker, Vertreter der zahlenmäßig gewachsenen Unterschichten fehlten völlig. 1836 wurden bei den Ergänzungswahlen in Calbe 6 Stadtverordnete und ebenso viele Stellvertreter gewählt. Mit dem Hinzufügen eines Stadtparlaments hatte der Magistrat, der ehemals von der königlichen Regierung eingesetzt worden war, durch die Abhängigkeit von der Stadtverordnetenversammlung seine dominante Vorrangstellung verloren. Erst nach dem politisch-militärischen Sieg des konservativen Adels über die revolutionären demokratischen und liberalen Kräfte 1849 wurde diese bescheidene Demokratisierung teilweise wieder rückgängig gemacht; der Magistrat erhielt mehr Machtbefugnisse, und die Stadtverordnetenwahlen wurden durch die Einführung des reaktionären preußischen Dreiklassenwahlrechtes weitestgehend entdemokratisiert. Mit der Städteordnung vom 30. Mai 1853 wurde das Dreiklassensystem, das seit 1849 schon für die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus galt, auch bei der Wahl der Gemeindevertretungen eingeführt. Das Wahlrecht wurde nach dem Einkommen der wahlberechtigten männlichen Einwohner über 21 Jahre abgestuft und die geheime Stimmabgabe beseitigt. Die Staatsaufsicht über die städtische Verwaltung wurde erneut ausgebaut.
Das Dreiklassenwahlsystem teilte das Steueraufkommen der Stadt in 3 gleiche Teile. Zu den einzelnen Klassen gehörten dann die männlichen volljährigen Bürger, die zusammen je ein Drittel aufbrachten, und jede der Klassen stellte die gleiche Anzahl Wahlmänner (indirekte Wahlen). Für ein Drittel des Steueraufkommens in Calbe standen 28 reiche Männer, für das nächste Drittel 119 wohlhabende Bürger und für das letzte Drittel, das den Rest aller Wahlberechtigten ausmachte, 509 Wähler. Arme Familien, die Unterstützungen erhielten, waren von den Wahlen ausgeschlossen. 1856 betraf das in Calbe 191 Personen bzw. Familien (vgl. Schwachenwalde, Kleine Stadtgeschichte…, a. a. O., S. 8). Bei einer Bevölkerungszahl von 6990 (1856) hätte es statt 656 gezählter Wahlberechtigter etwa 2000 geben müssen. Dass rund 66% der Calbeschen Wähler fehlten, lag an mangelnder Beteiligung. Da die Wahlen öffentlich, mündlich und indirekt waren, scheuten sich viele Einwohner, besonders die der unteren Schichten, sich vor den anderen Anwesenden offen zu diesen oder jenen Wahlmännern zu bekennen. Hinzu kam, dass eine kommunale Einflussnahme für die dritte Klasse, die über 90 Prozent der Einwohnerschaft ausmachte, angesichts des Übergewichtes der 1. und 2. Klasse aussichtslos war. Dieses äußerst undemokratische Wahlsystem wurde erst durch die Novemberrevolution 1918 beseitigt.
Im Rahmen der preußischen Reformen des 19. Jahrhunderts wurden auch genossenschaftliche und gemeinschaftliche städtische Eigentumsformen schrittweise in Privateigentum überführt. Das um 1680 erbaute Calbesche Brauhaus, welches der in der „westfälischen Zeit“ aufgehobenen Brauerinnung gehört hatte, wurde verkauft und 1840 in ein Kreisgefängnis umgewandelt (vgl. Hertel, Geschichte, S. 87). Auch die seit dem Mittelalter zum städtischen Gemeinschaftseigentum gehörenden so genannten Hirtenhäuser wurden zu Privateigentum umgewandelt. Da die städtische Allmende in den 1850er Jahren separiert wurde, gab es auch keine „stadteigenen“ Hirten mehr. 1864 wurden 4 Hirtenhäuser verkauft. Land- und Industriearbeiter wohnten von nun an in Calbe in Mietswohnungen, und auch hier begann sich das soziale Problem des Wohnungselends auszuwirken.
Die Einwohner der beiden Vorstädte, die immer noch des Status von Dorfbewohnern hatten, sahen angesichts der verwaltungsmäßigen Veränderungen eine günstige Gelegenheit, dass die Vereinigung mit der Stadt in die Wege geleitet werden konnte. Mit diesem Ansinnen stießen sie jedoch auf Entrüstung und erbitterten Widerstand der Stadtbürger. Als 1868 die Bewohner der ca. tausendjährigen Bernburger Vorstadt den Vorschlag zur Vereinigung unterbreiteten, scheiterte das vernünftige Vorhaben, weil der Magistrat sich dagegen sträubte. In der „westfälischen Zeit“ hatte 1811 der Widerstand der Stadt und der Schlossdomäne (Amt) schon einmal eine Vereinigung verhindert, denn eine Zusammenlegung setzte das Einverständnis aller Beteiligten voraus. Der Magistrat hatte abgelehnt, „weil die Vorstädte blutarm seien und fast nur von Arbeitern und Bettlern bewohnt würden… Die Vorstädte als Kommunen hätten gar kein Vermögen, während das der Stadt nicht unbeträchtlich sei. Würden also die Vorstädte zur Stadt gezogen, so würden sie auch Mitbesitzer des städtischen Vermögens, zu dem sie selber nichts beigetragen hätten.“ (Ebenda, S. 63f.)
Die enttäuschten Erwartungen der Bürger auf eine Liberalisierung der Verhältnisse nach den Befreiungskriegen und die Restitution der alten Machtverhältnisse durch die Metternichsche „Heilige Allianz“ führten einerseits zu einem Rückzug ins Private, ins Behagliche und Beschauliche, ins kleine Glück und in romantische Vorstellungen, später unter dem Begriff „Biedermeier“ zusammengefasst, andererseits zu einem verstärkten Drang nach Interessenvereinigungen und Kommunikation. Das 19. Jahrhundert wurde wie kein anderes das Zeitalter der Vereinsbildungen. Vor der Revolution von 1848 waren politische Vereine oder gar Parteien noch tabu, aber auch in harmlos erscheinenden Vereinen wurden heimlich politische Tages- und Grundsatzfragen diskutiert, wie Spitzelberichte der damaligen Zeit belegen. Der große Aufschwung der bürgerlichen Vereinsbildungen hatte durchaus revolutionäre Elemente. Es war der Ausbruch aus dem veralteten „Schubladen“-System feudaler Stände, Innungen, Gilden, Herrschaftsbindungen usw., in das man hinein geboren worden war, durch die freie, von individuellen Interessen bestimmte Wahl selbst gewählter Vereinigungen „freier Bürger“.
Ebenso wie andere Städte jener Zeit wurde Calbe von der Welle der Vereinsbildungen ergriffen. Ausdruck eines progressiven spätaufklärerischen Denkens war die Gründung eines Freimaurerkränzchens, das seit 1817 im Hause des Gastwirts Bombeck in der Bernburger Vorstadt tagte, sich seit 1820 Freimaurer-Loge „Zur festen Burg an der Saale“ nannte und 1822 in das bis ins 20. Jahrhundert genutzte Logenhaus in der Poststraße umzog (vgl. ebenda, S. 110). Zwei Schützenvereine (1828 Buschschützen, 1846 Uniformierte Schützen, vgl. ebenda, S. 95) setzten die seit dem Mittelalter in Calbe bestehende Schützentradition fort. Andere Vereine in Calbe waren: ein Landwehrverein (1846), ein Bibliotheksverein (1846 - in ihm hielt u. a. Wilhelm Loewe Vorträge), ein stark frequentierter Landwirtschaftlicher Verein (1844), der in der Gastwirtschaft am Bahnhof Gritzehne tagte, ein (oder zwei) Gesangverein(e), ein Männerturnverein, ein Verein für Volksrechte (1848), ein Spendenverein für hilfsbedürftige Kinder (1849) und ein konservativer Wahlverein (1861). Wie im gesamten deutschen Bereich war auch in Calbe im Jahr 1846 der Höhepunkt der Schützen-, Sänger- und Turnfeste. 1859 veranstaltete der Naumannsche Gesangverein anlässlich des 100. Schillergeburtstages eine Feier. 1868, also kurz vor der endgültigen Vereinigung Deutschlands „von oben“, fand in Calbe auf dem Schlossanger sogar ein Turnerfest für den gesamten Gau statt. Übrigens ging schon 1869 vom Calbeschen Männerturnverein die Initiative zur Gründung einer Freiwilligen Feuerwehr aus, die jedoch erst nach der Reichsgründung verwirklicht wurde.
Neben den bürgerlichen Vereinen scheinen in jener Zeit auch proletarische Vereinigungen mit vorwiegend ökonomisch-sozialen Zielstellungen existiert zu haben, bekannt ist die Existenz einer 1788 gegründeten „Tuchmacher-Gesellen-Brüderschaft“ im 19. Jahrhundert.
Angeregt durch die Fraktionenbildung in der Frankfurter Paulskirche kam es nach der Revolution zu bescheidenen Ansätzen von parteipolitischen Interessengemeinschaften. In Calbe gab es seit den 1860er Jahren zwei Lager im gehobenen Bürgertum, die als die Liberalen und die Konservativen bezeichnet wurden. Die als Liberale Apostrophierten hingen dem Demokratismus und der dem linken Liberalismus an, die Konservativen waren Anhänger Bismarcks und der konstitutionellen Monarchie. Zunächst siegten bei Landrats- und Kommunalwahlen wiederholt in die Liberalen, jedoch nach den preußisch-deutschen Siegen 1866 und 1870/71 unter Bismarck schlug die Stimmung in Calbe zu Gunsten der Konservativen um, die sich in einem Wahlverein zusammengeschlossen hatten (s. oben).
Das Bestreben des Bürgertums nach Bildung von Interessengemeinschaften und geistigem Austausch, nach Identitätsfindung und Konsolidierung drückte sich auch im aufblühenden Pressewesen jener Zeit aus. Zeitungen erschienen nun periodisch in immer kürzeren Abständen und konnten abonniert werden. Da sie noch relativ teuer waren, hingen oder lagen sie oft für den öffentlichen Gebrauch in Gaststätten, Friseurstuben oder in den Vereinsstuben (Klubs). Die Aufspaltung der bürgerlichen Calbeschen Oberschicht in Liberale und Konservative spiegelte sich auch in den hier erscheinenden Presseorganen wider. 1833 gründete Johann Friedrich Döring aus Artern das „Gemeinnützige Wochenblatt“, welches im Haus Markt Nr. 19 und 1861 bis 1878 im ehemaligen Oberpfarrhaus am Kirchplatz gedruckt wurde. Das Wochenblatt erschien später sogar viermal wöchentlich und wurde „Stadt- und Landbote“ genannt (vgl. ebenda, S. 110). Es nahm von Anfang an liberale Positionen ein. Als politisches Gegengewicht wurde von Ernst Friedrich Hattorf 1841 das „Calbesche Kreisblatt“ (später: „Volksblatt“) gegründet, das auch mehrmals wöchentlich erschien und sich dem Konservativismus verpflichtet fühlte.
Den demokratischen Höhepunkt dieser Epoche stellte die Revolution 1848/49 dar, die auch in der Kreis- und Industriestadt Calbe ihren Niederschlag fand. Hier und in der Umgebung waren es hauptsächlich die unteren Volksschichten, die auf eine konsequente Weiterführung der Revolution drängten. Die Frankfurter Nationalversammlung hatte im Juni 1848 den habsburgischen Erzherzog Johann zum Reichsverwalter gewählt und im Juli die erste Reichsregierung gebildet. Vielen Angehörigen der Unterschichten war die Nationalversammlung jedoch nichts anderes als eine "Schwatzbude", die sich nicht um die Interessen des Volkes kümmerte. Als am 6. August 1848 in Calbe eine städtische Feier des Magistrats und der neu gegründeten Bürgerwehr zu Ehren der "begonnenen Einheit" Deutschlands stattfand, kam es zu Gegenaktionen von einer erheblichen Anzahl Arbeiter der Brücknerschen Mühle, von Tuchmachern und anderen Handwerkern, die mit der politischen Entwicklung denkbar unzufrieden waren. Die offiziellen Festtagsreden auf dem Marktplatz und dem Schlossanger wurden durch Pfiffe und Geschrei unterbrochen. Die Arbeiter und Handwerker riefen die zuschauenden Calbenser auf, sich auf ihre Seite zu stellen und sich gegen die Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung zu erheben. Magistrat und Bürgerwehr verhielten sich demonstrativ zurückhaltend und versöhnlich. Bei einer Tanzveranstaltung im "Schwarzen Adler" am Abend schickte der Gastwirt jedoch vorsichtshalber einen Boten zur Bürgerwehr, weil sich in der Gaststätte verdächtig viel aggressiv wirkende Mühlenarbeiter versammelt hatten. Die Bürgerwehrleute wurden mit Gelächter und Schimpfworten empfangen. Als man sich anschickte, Angehörige der Bürgerwehr hinauszuwerfen, rückte Verstärkung an, die den Arbeiter Gaebel zum Haftlokal im Rathaus mitnahm. Um 21 Uhr herrschte scheinbar Ruhe. Bald aber zog eine immer größer werdende Menschenmenge zum Rathaus, um den Verhafteten zu befreien. Der Polizeidiener schickte daraufhin erneut um Hilfe nach der Bürgerwehr. Etwa 200 Arbeiter und Handwerker stellten sich den 40 Bürgerwehrleuten, die mit Hieb- und Stichwaffen ausgerüstet waren, entgegen. Der Bürgerwehrkommandant Barnbeck versuchte über eine Stunde lang, zu verhandeln und Frieden zu stiften. Dann flogen Pflastersteine gegen die Bürgerwehr. Diese begann mit gezogenen Waffen vorzurücken. Es kam zu einem schlimmen Handgemenge, wobei einige Arbeiter durch Säbel und Piken erheblich verletzt wurden. Zwölf Arbeiter und Handwerker wurden verhaftet und später, nach dem Sieg der Gegenrevolution, verurteilt.
Aber die Aktionen der Mühlenproletarier in Calbe waren erst der Anfang. Je mehr sich die alten Kräfte seit September 1848 wieder in den Sattel setzten, desto stärker wurde der Unwille der betrogenen "kleinen" Leute. Nach dem Sieg der Konterrevolution im November in Wien kam es auch in preußischen Städten und Dörfern zu Widerstandsaktionen gegen die Rekonstituierung der monarchischen Kräfte. Calbe wurde am 9., 10. und 15. November von schweren Exzessen und Straßenunruhen ebenso wie Schönebeck, Barby, Förderstedt, Frohse und viele Landgemeinden ergriffen. In den Dörfern gärte es schon gewaltig seit dem Frühjahr 1848. Bei den späteren polizeilichen und gerichtlichen Untersuchungen wurde immer wieder von der Regierung in Magdeburg wütend festgestellt, dass sich bei allen Unruhen seit dem August 1848 die Magistrate auffallend zurückgehalten, ja, die Volksbewegung sogar mit gewissem Wohlwollen unterstützt hätten. In einem Bericht wurde der Verdacht geäußert, der "Mühlenbesitzer Brückner junior" habe die Tumulte initiiert und unterstützt. Damit war der zu jenem Zeitpunkt knapp 19jährige Johann Franz Brückner (geb. 15.9.1829, gest. 21.4.1890) gemeint, dessen revolutionäres Ungestüm später unter Bismarck wieder in "geordnete Bahnen" kam und der zum Königlichen Kommerzienrat erhoben wurde.
Auch der linksliberale Bürgermeister von Schönebeck, Ludwig Schneider, wurde der Volksaufwiegelei bezichtigt. In Barby hatte die Bürgerwehr mit den Aufständischen sympathisiert und nichts unternommen, weil sie selbst aus Angehörigen der unteren Schichten bestand. Daraufhin wurde sie aufgelöst, entwaffnet und durch ein Husarenregiment abgelöst. Dieses musste jedoch bald abziehen, um den Volkszorn nicht eskalieren zu lassen. Durch einen Staatstreich hatte der König die preußische Nationalversammlung am 15. November 1848 in Berlin aufgelöst. Sofort griff der Calbesche "Verein für Volksrechte" ein. Das Magistratsmitglied Nicolai, Wollwarenfabrikant und stellvertretender Vorsitzender des Vereins, ließ im "Stadt- und Landboten" eine Erklärung abdrucken, "dass der Verein sie [die preußische Nationalversammlung – D. H. St.] nach wie vor zu Recht bestehend ansehe, dass er die Beschlüsse derselben als für sich bindend erachtete und dass er ihren Anordnungen Folge leisten und mit Gut und Blut für sie einstehen wolle." Bei der Einleitung einer Kriminaluntersuchung wurde präjudizierend behauptet, dass mit diesem Zeitungsartikel durch den Calbeschen Verein zur Gewalt aufgerufen worden war.
Bürgermeister Ludwig Schneider aus Schönebeck hatte wegen des gegenrevolutionären Staatstreichs eine allgemeine Steuerverweigerung angeregt. Der Calbesche Verein für Volksrechte, der jetzt regelmäßige Versammlungen abhielt, griff diesen Vorschlag sofort auf und propagierte ihn. In einer Volksversammlung im "Gasthof zum Goldenen Stern" in der Schlossvorstadt trug Fabrikant Nicolai den Beschluss vor und Posthalter Schulze bezeichnete jeden, der noch Steuern zahlen wolle, als Landesverräter. Das Ergebnis war dementsprechend, kaum ein Calbenser zahlte noch Steuern.
Daraufhin gab es auch die Polizeiakten Nicolai, Schneider und "Konsorten". Der Landrat von Alvensleben, der sicherlich teilweise mit den Liberalen sympathisierte, setzte sich jedoch bald dafür ein, dass die Anklagen fallen gelassen wurden. Nicht fallen gelassen wurden jedoch die Anklagen gegen die Aufständischen der Unterschichten. Die 30 wegen der Novemberunruhen Angeklagten in Barby erhielten insgesamt eineinhalb Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Gefängnis. Die zwölf Angeklagten in Calbe wurden wegen der "Exzesse" im August und November zu insgesamt 4 Jahren und 8 Monaten Gefängnis sowie 3 Jahren Zuchthaus und dem Tragen der Verfahrenskosten verurteilt. (Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Rep. C 28 f Nr.173 1a, Bildung von Schutzvereinen im Kreis Calbe und politische Zustände, gerichtet an Abteilung des Innern der Königlichen Regierung Magdeburg)
Eng mit dieser Revolution, mit dem Liberalismus und mit Calbe verbunden war ein in ganz Deutschland bekannter Arzt und Politiker:
Wilhelm Loewe wurde am 14. November 1814 in Olvenstedt bei Magdeburg (heute: Magdeburger Stadtteil) als Sohn des dort tätigen Küsters und Kantors geboren. Die kinderreiche Familie lebte in recht beschränkten kleinbürgerlichen Verhältnissen, was wahrscheinlich ausschlaggebend für seine spätere politische Einstellung wurde. Der fleißige und begabte Junge besuchte das Domgymnasium in Magdeburg und war anschließend Zögling der medizinischen Lehranstalt. Ab 1834 war er als staatlich geprüfter Wundarzt zugelassen und diente drei Jahre als Kompanie-Chirurg. Anschließend studierte er Medizin in Halle, promovierte und ließ sich ab 1840 in Calbe als praktischer Arzt nieder.
Der neue Arzt war in Calbe wegen seiner fachlichen Kompetenz und seiner linksliberalen Haltung sehr beliebt. Als die Wirtschaftskrise 1846 verschiedene Familien aus Calbe zur Auswanderung nach Amerika zwang, agitierte Loewe in "Disputierklubs" gegen die Politik der preußischen Krone.
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Wilhelm Loewe (1814 - 1886) |
Seit er in Calbe den Bibliotheksverein gegründet hatte, der aber in Wahrheit ein politischer Verein zur Sammlung oppositioneller Kräfte war, wurde er von den Spitzeln der "Heiligen Allianz" permanent beobachtet. Neben der Einheit Deutschlands und bürgerlichen Freiheiten wurden auch Veränderungen zur Verbesserung der Lebenslage des arbeitenden Volkes gefordert. Demokratisch und liberal orientierte Bürger verbreiteten in Vorträgen auf Versammlungen fortschrittliches Gedankengut. Auch der freireligiöse Pfarrer Leberecht Uhlich aus dem nahe gelegenen Pömmelte hielt öfters in Calbe demokratisch orientierte Vorträge, wobei er auch die soziale Lage der Fabrikarbeiter scharf kritisierte. Uhlichs demokratische Bewegung der "Lichtfreunde" in Magdeburg wurde zu einer gesamtnationalen Oppositionsform. Die Polizeispitzel berichteten, dass Loewe und Uhlich einige Male auch gemeinsam auftraten und dass man die beiden als besonders gefährlich einschätzen musste (vgl. Bildung von Schutzvereinen..., a. a. O.).
Als nach den Märzereignissen 1848 die Wahlen zur Nationalversammlung stattfanden, wurde Wilhelm Loewe als Abgeordneter der Wahlkreises Calbe und Jerichow I in das erste deutsche Parlament delegiert. Ohne es zu wollen, trug Loewe dazu bei, dass Calbe während der Revolution noch einmal national bekannt wurde. In den Zeitungen stand sein Name immer mit dem Zusatz "Calbe", da es in der Frankfurter Nationalversammlung mehrere Löwes gab. In der Paulskirche saß Loewe im zweiten Sitzblock - von vorne gesehen - links. Diese liberalen Abgeordneten bezeichnete man daher als die "Linken". Loewe hielt sich in der Mitte zwischen den radikalen (Demokraten) und gemäßigten Liberalen (Konstitutionellen). Als sich die Nationalversammlung in endlosen Debatten dazu durchgerungen hatte, das einheitliche Deutschland in Form einer konstitutionellen Monarchie, das heißt, als Kaiserreich mit Reichstag, zu schaffen, sollte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die Führungsrolle übernehmen. Der so genannte preußische und kleindeutsche Weg (unter Ausschluss Österreichs) entsprach den Vorstellungen der Mehrheit der deutschen Liberalen (auch Loewes). Als am 3. April 1849 dreiunddreißig Abgeordnete, darunter auch Wilhelm Loewe, im Rittersaal des Berliner Königsschlosses Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone antrugen, lehnte er sie mit höflichen Worten ab. Die Gegenrevolution saß bereits zu fest im Sattel, als einer bürgerlichen konstitutionellen Monarchie zustimmen zu müssen.
Nach dem Vormarsch der fürstlichen Reaktion 1849 kehrten die meisten Abgeordneten auf Befehl ihrer Regierungen in ihre Heimat zurück. Nur die 114 aufrechten Demokraten und Linksliberalen um den neu gewählten Parlamentspräsidenten Wilhelm Loewe blieben als so genanntes Rumpfparlament zurück. Sie zogen nach Stuttgart um. Da die Behörden dem Rumpfparlament untersagt hatten, im Saal des württembergischen Landtags zu tagen, musste die Rest-Nationalversammlung deshalb in die Bierhalle von August Kolb und schließlich in das Fritzsche Reithaus ausweichen. Dort trat sie am 16. Juni zusammen. Als am 18. Juni, 15 Uhr, die nächste Tagung stattfinden sollte, wurde bereits gegen Mittag das Fritzsche Reithaus durch Militär abgeriegelt. Gegen 14.30 Uhr formierten sich die Abgeordneten zu einem Demonstrationszug. Sie schritten gemessenen Schrittes in Viererreihen, an der Spitze Parlamentspräsident Löwe-Calbe, Karl Vogt, der Dichter Ludwig Uhland, der Journalist Wilhelm Wolff und Albert Schott.
An der Kreuzung Hohe Straße/Lange Straße versperrten Infanteristen den Abgeordneten den Weg. Ein Zivilkommissar forderte die Deputierten auf, auseinander zu gehen. Als Wilhelm Loewe sich anschickte, zu den Soldaten zu sprechen, preschte aus einer Seitenstraße plötzlich eine Kavallerieeinheit mit geschwungenen Säbeln heran. Die Soldaten schlugen mit der flachen Klinge auf die Abgeordneten ein. Viele wurden in den Dreck gestoßen und von Pferdehufen verletzt. Zur selben Zeit schlugen Soldaten den Sitzungssaal des Fritzschen Reithauses mit Äxten kurz und klein.
Am folgenden Tage wurden alle Abgeordneten, die keine Württemberger waren, ausgewiesen. Das vom Volke frei gewählte Parlament hatte aufgehört zu existieren (nach: Fesser, Gerd, in "Die Zeit" vom 10. 6. 1999).
Nach dem Sieg der Reaktion unter Führung Preußens wurde Loewe angeklagt und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Es gelang ihm aber die Flucht über die Schweiz in die USA, wo er acht Jahre in New York als angesehener Arzt und Unternehmer tätig war. Als 1861 die preußische Amnestie für politische Verurteilte in Kraft trat, kehrte auch Wilhelm Loewe nach Calbe zurück. Am 18. Juli traf er nach einer Dampfschiff-Reise bis Hamburg und von dort mit der Eisenbahn in Calbe ein, um "seine alten Freunde zu besuchen". Vom damaligen "Bahnhof an der Saale" (heute: Bahnhof Calbe-Ost) wurde er mit der Kutsche von liberal gesinnten Bürgern der Stadt abgeholt. Der Männergesangverein improvisierte Loewe zu Ehren ein fröhliches Beisammensein im Hohndorfer Busch. Patriotische Lieder wurden gesungen und ein Feuerwerk abgebrannt. Die liberale Calbesche Zeitung von Döring berichtete, dass Hunderte von Besuchern dem verehrten Gast gezeigt hätten, wie sehr sie sich freuten, ihn wieder zu sehen.
1863 wurde Wilhelm Loewe Abgeordneter des preußischen Abgeordnetenhauses und 1871 bis 1881 Reichstagsabgeordneter. Auch als Unternehmer versuchte er sich erfolgreich. Als geehrter Alterspräsident des Deutschen Reichstages ging er immer mehr auf die Positionen Bismarcks einer Revolution "von oben" über.
1886 starb er in Südtirol in Meran.
Die Ereignisse während der Revolution hatten auch in Calbe deutlich gemacht, dass im beginnenden Industriezeitalter eine neue Kraft heranzureifen begann: die industrielle Arbeiterschaft, die nichts mehr mit den Knechten, Mägden, Handlangern, Dienstboten, Tagelöhnern und Bettlern des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu tun hatte. Mit der rasch anwachsenden Zahl der Fabrikarbeiter und der oft schamlosen Ausbeutung ganzer Arbeiterfamilien, durch ihr Wohnungselend, ihre Krankheiten, ihren Hunger und ihre Not kam auch Calbe, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie größere Städte, mit der damals in Kreisen der Verantwortlichen viel diskutierten „sozialen Frage“ in Berührung. Einige sozial und christlich denkende Unternehmer wie die Nicolais verteilten in den Hungerjahren vor der Revolution Lebensmittel an ihre Arbeiter.
Eng mit dem Bemühen um Milderung des zunehmenden sozialen Elends war eine andere bekannte Calbenserin verbunden: Marie Nathusius geb. Scheele.
In der Schlossstraße Nr. 106, wo eine Gedenkplakette angebracht ist, wohnte Marie Scheele als Kind und junges Mädchen. Sie wurde eine damals populäre neopietistische Schriftstellerin, deren Werke jedoch heute fast vergessen sind. Vergessen ist jedoch nicht ihr tatkräftiges christlich-soziales Engagement. Als verheiratete Marie Nathusius wurde sie später als Mitbegründerin christlicher Sozialhilfe-Anstalten weit über die lokalen Grenzen hinaus bekannt.
Ihr Vater Friedrich August Scheele, dessen Bildnis an der Nordwand der Stephani-Kirche hängt, zog mit der Familie aus Magdeburg, wo Marie am 10. 3. 1817 geboren wurde, nach Calbe. Hierher hatte der pietistische Pfarrer eine Berufung als Superintendent an die Stephani-Kirche erhalten.
Marie, die "nur" die Bildungsmöglichkeiten eines bürgerlichen Mädchens hatte, in welcher Haushaltsführung ebenso wie Kunst und Literatur die vordersten Plätze einnahmen, lernte mit ihren Brüdern, die eine höhere Schule besuchen konnten, mit, und eignete sich so auch das Wissen der akademisch Gebildeten der damaligen Zeit in Naturwissenschaften und Philosophie an. Mit 23 Jahren verlobte sie sich mit dem jungen Neuhaldenslebener Kaufmann, Gutsbesitzer und Romantiker Philipp Engelhard Nathusius, der gerade von einer zweijährigen Bildungsreise durch Deutschland, Italien, Frankreich, Griechenland und die Türkei zurückgekehrt war. 1841 heiratete das Paar.
Durch ihren Mann, der ein Verehrer und Freund der sozial engagierten Schriftstellerin Bettina von Arnim war, lernte sie auch den politischen Vormärzdichter und Romantiker August Heinrich Hoffmann von Fallersleben kennen, der bald zum Freundeskreis der Familie gehörte. Hoffmann war wegen seiner "Unpolitischen Lieder" von der preußischen Regierung seines Amtes als Professor für Germanistik an der Universität Breslau enthoben und des Landes verwiesen worden.
Philipp Nathusius, der von den Schwierigkeiten des Dichters erfahren hatte und ihn sehr verehrte, lud ihn auf sein Gut nach Althaldensleben ein. Unter dem Einfluss des bekannten Dichters begann auch Marie Natur- und Kindergedichte im Stil der Romantik zu dichten und zu komponieren.
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Marie (geborene Scheele) und Philipp Engelhard Nathusius |
Marie Nathusius unterlegte für ein 1847 erschienenes Buch Hoffmanns das Gedicht „Alle Vögel sind schon da“ (Frühlingslied) mit einer alten, bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Volksweise. Durch Unaufmerksamkeit wurde immer wieder kolportiert, sie hätte die Melodie zu dem bekannten Kindergedicht komponiert. Auch wenn Marie Nathusius nicht die Komponistin, sondern die Arrangeurin eines der bekanntesten deutschen Kinderlieder ist, so gebührt ihr doch die Ehre, diese sehr alte Melodie für immer mit dem einfachen und einfühlsamen Text ihres großen Dichterfreundes Heinrich Hoffmann von Fallersleben verbunden zu haben.
Das Ehepaar war nach Althaldensleben gezogen, wo sich u. a. gerade die beginnende Industrialisierung von ihrer hässlichsten Seite zeigte. In den Arbeiterfamilien wurde die Harmonie der jahrhundertealten, agrarisch geprägten Großfamilienbande abrupt zerstört. Am meisten hatten die Kinder unter der Verelendung und Verwahrlosung zu leiden. Bereits kleine Kinder, die von ihren durch die harte Arbeit und Ausbeutung überforderten Eltern verstoßen worden waren, wurden kriminell oder zu Krüppeln. Auf die in den 1840er Jahren plötzlich mit aller Wucht aufbrechende "soziale Frage" reagierte die katholische Kirche mit der Katholischen Soziallehre. Auch das Ehepaar Nathusius wandte sich zunehmend dieser Lehre zu. Durch das Erlebnis des Todes einer Tochter im Säuglingsalter geriet Marie in den Bann des Neo-Pietismus, den sie in der Form der damals populären Dorfgeschichte nach dem Vorbild der pietistischen Erbauungsliteratur zu verbreiten versuchte. Im konservativen und streng kirchlichen "Volksblatt für Stadt und Land", das ihr Mann seit 1849 redigierte, wurden viele ihrer Erzählungen und Novellen gedruckt, bevor sie als Bücher erschienen. In der konterrevolutionären Periode nach 1849 war sie eine viel gelesene und besonders bei Jugendlichen beliebte Schriftstellerin. Ihre Werke, die bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts erschienen, wurden unter anderem ins Englische, Französische, Dänische und Schwedische übersetzt.
Wichtiger waren für die Nachwelt jedoch ihre bleibenden Werke, die sie als Mitstreiterin von Philipp Engelhard Nathusius schuf. 1844 eröffneten die beiden auf dem Gut in Althaldensleben eine Kinderbewahranstalt, seit 1847 wandten sie sich immer mehr dem Gedanken der Inneren Mission zu. Durch Kontakt mit Johann Hinrich Wichern in Hamburg bereiteten sich die beiden Schriftsteller auf ihr größtes Werk vor. Als sich 1849 die Möglichkeit ergab, das Gut Neinstedt bei Quedlinburg zu übernehmen, griff das Ehepaar gleich zu, und Philipp überließ das väterliche Gut Althaldensleben seinem jüngeren Bruder. Um sich in Ländern, die mit der "sozialen Frage" schon Erfahrungen hatten, über die dortige Kinder- und Jugendfürsorge zu informieren, waren Marie und Philipp 1849/50 nach Frankreich und England gereist. In Neinstedt entstand ein Rettungshaus für Waisen und Verwahrloste, ein Witwenhaus und später auch eine Ausbildungsstätte für Diakonen und ein Heim für Geistigbehinderte. Auch Unterstützungsvereine zur "Armenpflege" wurden gegründet.
Noch heute gehören die Neinstedter Anstalten zu den größten diakonischen Einrichtungen in Deutschland. Marie, die selbst Mutter von sieben Kindern war, hatte eine glückliche Hand, mit ihren Zöglingen umzugehen. Sie starb viel zu früh am 22.12.1857 - im Alter von 40 Jahren - in Neinstedt. Sie war bei den Vorbereitungen der Weihnachtsfeier für ihre Pfleglinge und den damit verbundenen Über-Land-Gängen bei Dezemberwetter an einer schweren Rippenfellentzündung erkrankt, die zu ihrem Tode führte (vgl. Richter, 1000 Jahre…, a. a. O.).
Die während der Revolution 1848/49 nicht vollzogene Einigung Deutschlands machte die Vollendung der bürgerlich-kapitalistischen Umgestaltung und die Schaffung eines Deutschen Reiches immer notwendiger. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck machte sich die Erreichung dieses Zieles zur Lebensaufgabe, wobei er parlamentarische und andere demokratische Mittel ausschloss und den Vollzug durch „Eisen und Blut“, durch dynastische Kriege, durchsetzte. Bismarck vertrat den kleindeutschen konstitutionell-monarchischen Weg, d. h., er favorisierte ein bundestaatliches Kaiserreich mit Parlament und Verfassung unter Ausschluss des Vielvölkerstaates Habsburg-Österreich und unter Führung Preußens mit dem preußischen König als Kaiser. Dieser Weg stieß bei einem größeren Teil der Oberschicht in Calbe auf Ablehnung, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei der Mehrheit der unteren Volksschichten. Die „Liberalen“ siegten gegen die bismarcktreuen „Konservativen“ wiederholt bei Landratswahlen. Im Jahr 1866 heizte Bismarck in der Presse die Stimmung für einen Waffengang mit Österreich an. Auch in Calbe wurde am 5. Mai das 1. und 2. Aufgebot der Landwehr mobil gemacht. In dieser angespannten Situation fanden nach Auflösung des preußischen Landtags am 9. Mai erneute Wahlen statt. Obwohl sich das Land im Kriegstaumel befand, die Wahlen unter dem antiliberalen Motto „Gegen die Verweigerer der Heereskredite“ standen und eine erhebliche Anzahl von liberalen Parteigängern in dieser Situation bei den (öffentlichen) Wahlen in Calbe zu den Konservativen umschwenkten, siegten trotzdem wiederum die Liberalen. Am 23. Juni überschritten junge Soldaten aus Calbe mit dem preußischen Heer die böhmische Grenze, und am 3. Juli fiel die Entscheidung bei Königgrätz (Hradec Kralove) zu Gunsten Preußens. 8 Männer aus unserer Stadt bezahlten diesen Sieg mit ihrem Leben. Am 4. November fand „zu Ehren der heimgekehrten Krieger“ eine Siegesfeier mit Umzug, Festmahl und Ball in drei Sälen statt, wobei die „siegreichen Helden“ selbstverständlich Ehrengäste waren. Nun forderte auch der Calbesche proliberale „Stadt- und Landbote“ in seiner Neujahrsbetrachtung 1867 die Bürger auf, sich der im Vorjahr errungenen Erfolge unbefangen und ohne Unmut zu freuen. Bei den Wahlen zum „Reichstag“ des neu geschaffenen Norddeutschen Bundes siegte dementsprechend der konservative gegen den liberalen Kandidaten. Auch bei den erneuten Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages triumphierten nun die Konservativen.
Im Deutsch-Französischen Krieg, dem letzten Akt in Bismarcks blutigem Spiel um die Reichseinigung „von oben“, fielen 1870 elf Männer aus Calbe. Die Wogen der nationalen Begeisterung schlugen im Krieg und besonders nach dem Sieg hoch. Der Oberamtmann richtete im Schloss auf eigene Kosten ein Lazarett ein und unterhielt es. Nun schlug die Stimmung auch in Calbe endgültig für den „Helden“ Bismarck und für seine Parteigänger, die Konservativen, um.
Die rauschende Sieges- und Friedensfeier fand hier am 9. Juli 1871 statt. Am Vorabend wurde nach Glockengeläut, Zapfenstreich und Illumination ein Feuerwerk auf der Wunderburg abgebrannt. Am Festtage selbst fand der übliche Umzug aller Vereine statt, worauf sich das Festessen in fünf Lokalen anschloss. Die heimgekehrten Soldaten wurden selbstverständlich auch zusammen mit ihren Gattinnen und Bräuten als Ehrengäste auf den am Abend stattfindenden Festbällen gefeiert. Wie der „Stadt- und Landbote“ berichtete, hatte dieses Fest an Glanz, Aufwand, Pracht, Gemütlichkeit und Fröhlichkeit alle anderen Feiern, die Calbe je erlebte, weit hinter sich gelassen.
Am 18. Januar 1871schließlich wurde im Spiegelsaal von Versailles der König von Preußen als Kaiser Wilhelm I. gekrönt. Das nun endlich geeinte Deutsche Reich bekam das von Bismarck geplante und vorbereitete Gepräge.
Auch in fast allen Bereichen der Wirtschaft kam es im 19. Jahrhundert in Calbe wie in anderen deutschen Städten zu Umbrüchen, am bedeutendsten war die Ersetzung der Manufaktur- durch die Fabrikproduktion. Diese „industrielle Revolution“ wirkte sich umfassend auf die anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus. Neue Wirtschafts- und Wissenschaftszweige entstanden, das seit Jahrhunderten gewohnte Zusammenleben der Menschen wandelte sich einschneidend. Auch die Landwirtschaft musste den veränderten Bedingungen durch neue effizientere wissenschafts- und technikbezogene Methoden gerecht werden.
In Calbe existierten auch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus so genannte Ackerbürger, „kleine“ Gewerbetreibende mit einem kleinen oder mittleren landwirtschaftlichen Betrieb. Die von Hardenberg und Stein initiierten Agrarreformen, welche sich bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinzogen, wirkten sich auch auf diese obsolete Form der landwirtschaftlichen Produktion aus. Die Fruchtfolge - mit teils komplizierten Regeln - löste, anfangs noch staatlich diktiert, nun endgültig die alte Dreifelderwirtschaft ab, und die neue Naturwissenschaft „Chemie“ (u. a. Justus von Liebigs Labor) lieferte den „Kunstdünger“ für Spezialkulturen und die enorme Steigerung der Erträge bei rasch wachsenden Bevölkerungszahlen.
1825 gab es zwar immer noch Reste der Allmende - teilweise wurde weiterhin auf dem Thie geweidet -, aber allmählich setzte sich eine Neuordnung der bäuerlichen Produktion durch. Die Tierhaltung und damit die Weidenutzung gingen zurück. Durch Separationen (in Calbe zwischen 1822 und 1862, vgl. Hertel, S. 185f.), die eine zweckmäßigere Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen zum Ziel hatten, wurde auch das ehemalige gemeinschaftliche Weideland zunächst verpachtet und danach in private Äcker, die gekauft werden mussten, umgewandelt. Das ging zu Lasten der ärmeren Ackerbürger; die Zahl der Bauernwirtschaften in Calbe nahm ab. Auch aus ruinierten Ackerbürgern rekrutierte sich das entstehende Fabrikproletariat.
1846 war die Viehhaltung zu Gunsten neuer Kulturen, des Zichorien- und Zuckerrübenanbaus, stark zurückgegangen. Die Börde, die noch 1795 als die Kornkammer der Mark Brandenburg gegolten hatte, wurde zu einem erheblichen Teil auf den Anbau neuer, auch industriell zu verarbeitender Spezialkulturen umgestellt. Dadurch wurde der Tierhaltung ebenfalls die Futtergrundlage entzogen. Das Verfahren von Franz Carl Achard, Zucker aus der Runkelrübe zu gewinnen, und der Einsatz der Dampfmaschine zur umfangreichen Verarbeitung ließen bald den Anbau der so genannten Zuckerrübe in größerem Umfang als notwendig erscheinen (ca. 25% der Nicht-Getreide-Anbaufläche).
Andere Calbesche Spezialkulturen jener Zeit stellten die Zichorie und der Kümmel (vgl. Reccius, S. 88) dar. Als Kaffee-Surrogat erfreute sich die Wurzel-Zichorie, eine Varietät der Wegwarte (Cichorium intybus) mit stärker ausgebildeten, rübenartigen Wurzeln, in Deutschland besonders seit Napoleons Kontinentalsperre bei den weniger wohlhabenden Bürgern zunehmender Beliebtheit. Die auf größeren Ackerflächen (ca. 50% der Nicht-Getreide-Anbaufläche) um Calbe angebaute Pflanze wurde in mehreren Zichorienfabriken („Darren“) getrocknet, geröstet und gemahlen.
Auch auf Gurken und Zwiebeln spezialisierte sich die Calbesche Landwirtschaft nun endgültig, wobei die Zwiebeln in der nächsten Zeit in unserer Gegend allen anderen Spezialkulturen den Rang ablaufen sollten. 1864 wurde Gurkensamen von einem Gottesgnadener Gärtner erstmalig in der Zeitung angeboten. Im Spreewald angesiedelte niederländische Tuchweber hatten im 17. Jahrhundert die Gemüsefrucht aus ihrer Heimat zu einer großen Popularität in Preußen gebracht. Nach Calbe kam die Gurke also erst mit fast 200 Jahren Verspätung, dann aber trat sie auch von hier aus ihren Siegeszug an. 1866 wurde zusammen mit Gurkenkernen erstmalig auch Zwiebelsamen in der Calbeschen Zeitung angeboten, obwohl die Zwiebeln oder „Seppeln“, später niederdeutsch „Bollen“ genannt, hier schon seit dem 16. Jahrhundert, wenn auch nicht in großem Maßstab, angebaut wurden (vgl. Abschnitt 4).
Ein Gewächshaus im neoromanischen Kuppelbaustil stand in der Nähe der Magdeburger Straße am nördlichen Ende der so genannten Sorge (vgl. Rocke, a. a. O., S. 90).
Die Industrialisierung zog im 19. Jahrhundert auf der Basis der Dampfmaschine auch in die Landwirtschaft ein. Im gleichen Jahr wie die erste Zuckerfabrik im Kreis, die in Staßfurt eröffnet wurde, errichtete man 1837 auf dem Domänenhof in Gottesgnaden eine solche Fabrik. 1846 bauten die Kaufleute Buhlers, Schulze und Pahlschneider am Südende der Bernburger Vorstadt ebenfalls eine Zuckerfabrik. Neben der Domänen-Zuckerfabrik begann 1855 auch eine Spiritus-(bzw. „Schnaps“-)Brennerei ihre Produktion.
Die traditionsreiche Fischer-Brüderschaft blieb auch weiterhin, zumindest formell, bestehen; die preußischen Reformgesetze zur Ablösung feudaler Lasten führten aber auch hier dazu, dass aus den ursprünglich leibeigenen, später pachtpflichtigen Fischern bürgerliche Unternehmer wurden. 1858 erfolgte für die Fischer die Ablösung der Erbpacht, die Nicolai-Fischerei war (durch Kauf) freies Eigentum der Meister geworden (vgl. Hertel, S. 261), und 1860 wurde Fischermeister Sonntag Gemeindevorsteher (Schulze) in der Bernburger Vorstadt. Während der starken Hochwasser 1830, 1845 und 1855 hatten sich die Nicolai-Fischer bei der Rettung von Menschenleben sowie von Hab und Gut in den umliegenden Dörfern hervorgetan, einen dafür zuständigen Rettungsdienst gab es noch nicht. Besonders dramatisch war die Situation 1830 gewesen. Am 26. Februar war starkes Tauwetter eingetreten, und am 1. März standen Calbe von der Querstraße (heute: Wilhelm-Loewe-Straße) bis zur Breite/Poststraße (heute: August-Bebel-Straße) sowie die gesamte Schlossvorstadt unter Wasser. Große Not herrschte in Schwarz, wo viele Familien vor den Wassermassen auf den Boden der Häuser flüchten mussten. Am nächsten Morgen kamen die Calbeschen Fischer mit fünf Kähnen den Bedrängten zu Hilfe, schafften die Menschen in die höher gelegenen, wasserfreien Häuser und brachten das gesamte Vieh auf den Hügel hinter dem Bethaus. Am 5. März konnten die Geretteten in ihre nassen Wohnungen zurückkehren. Am 24. März erschien eine öffentliche Danksagung der Gemeinde Schwarz an die wackeren Fischer in der „Magdeburgischen Zeitung“. Bei Gelegenheit dieses Hochwassers war die Kietzker Brücke (ca. 700m südöstlich von Schwarz) über einen heute nur noch rudimentär vorhandenen kleinen Zufluss der Saale weggerissen worden (vgl. ebenda, S. 195f.). Reste dieses Zuflusses sind u. a. der Teich der heute so genannten Anlage „Norderney“ und kleine Wassergräben. Übrigens war damals die gesamte Gegend um Schwarz von Seitenarmen der Saale durchzogen, wie man jetzt noch an kleinen Tümpeln und mit Ried bewachsenen Morastflecken erahnen kann.
Von gravierender Bedeutung war der Aufbau der städtischen Industrie, die Entstehung von Fabriken. In Calbe waren das entwicklungsbedingt zunächst Fabriken der Textilproduktion. Das Kapital dafür kam weniger von den Tuchmacher-Handwerkern, als vielmehr von meist auswärtigen Kaufleuten. Hertel schrieb zu diesem Umgestaltungsprozess: „Während im Jahre 1806 noch 200 Meister tätig waren, gab es 1843 nur noch 40, welche für den Kaufmann Grobe arbeiteten, der ihnen die Wolle lieferte und die fertigen Waren abkaufte. Die Fabriken entstanden etwa 1830. Sie wurden zuerst mit einem Rossgang [Pferdegöpel – D. H. St.] betrieben und durch Aufstellung besserer Maschinen fortwährend verbessert… Die erste Dampfmaschine mit 9 Pferdekräften führte die Nicolaische Fabrik ein, darauf folgte die von Capelle mit einer Maschine von 24 Pferdekräften. Die kleineren Meister konnten nun mit den Fabriken nicht mehr konkurrieren und stellten deshalb die Arbeit ein… Die Waren fanden meist im Inlande auf den Messen zu Frankfurt a. O. und Magdeburg ihren Absatz, und erst später ging ein Teil davon nach Süddeutschland, besonders nach Bayern. 1840 beschäftigte Nicolai 128 Arbeiter, Capelle 130, die Gebrüder Grobe 60 und Schotte 50 Arbeiter. Damals standen auch noch drei Schönfärbereien und eine Walkmühle mit den Fabriken in Verbindung.“ (Ebenda, S. 91f.) Wie Hertel weiter berichtete, spezialisierten sich die Calbeschen Tuchfabriken rasch auf gröbere Waren, auf Decken und Friese, mit denen sie im 19. Jahrhundert Calbes Bedeutung als Industriestadt begründeten.
Die im Diagramm rechts angezeigten 7900 Stück Textilprodukte brachten 1840 den enormen Ertrag von 200 000 Talern ein, das heißt, je Unternehmen ein Jahresprofit von 30 bis 40 000 Talern. Die gesamte Kommune hatte in jener Zeit jährlich Einnahmen von ca. 13 000 Talern (- und ebenso viel Ausgaben). Unternehmern kam also als lokalen und regionalen Mäzenen und Sponsoren eine neue und große Bedeutung zu.
1831 wurde in der Tuchfabrik J. G. Nicolai (CalbescheTuchmacher- und Kaufmannsfamilie seit dem frühen 18. Jahrhundert) in der Breite Nr. 42/43 eine der ersten Dampfmaschinen in der preußischen Provinz Sachsen aufgestellt. Zuvor hatte diese Fabrik seit 1824 in der Querstraße (heute: W.-Loewe-Str.) Nr. 11 gestanden, im selben Gebäude wurde zu Beginn der 1830er Jahre eine Brauerei eingerichtet. (Ebenfalls in der Querstraße firmierten in jener Zeit die Tuchmacher Christian Wehrig und Andreas Schwalenberg, deren Einrichtungen aber wohl eher bescheidene Manufakturen waren.)
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Anzahl der webtechnischen Maschinen in Calbe |
Steigerung der textilen Produktion in Calbe |
(nach : Hertel, Geschichte…, a. a. O., S. 92) |
Etwa zur gleichen Zeit fand man in der Ritterstraße 2, gleich neben dem ehemaligen, traditionsreichen Rittergutsgebäude, eine Tuchfabrik von Christian Rust. 1832 war in der Breite Nr. 35 die Tuch produzierende Fabrik von Karl Capelle (Kaufmann) eingerichtet worden. 1835 begründete Kaufmann Karl Eduard Grobe eine Tuchfabrik in der Tuchmacherstraße 57. Gustav Grobe richtete 1844 eine solche Fabrik in der Kuhgasse Nr. 8 ein. Karl Capelle erbaute 1846 unterhalb des Weinberges an der Saale eine Filzfabrik und stellte ebenfalls eine Dampfmaschine auf. 1848 verlegten die Brüder Adolf und Alexander Nicolai die Tuchfabrik J. G. Nicolai von der Breite in den Baumgarten in der Bernburger Vorstadt, heute noch ein imposantes Architekturdenkmal über dem Saalebogen (Bernburger Str. Nr. 69/70). Auf diesem Terrain hatte wohl einmal die mittelalterliche Calbesche Sudenburg gestanden (vgl. Abschnitt 2). Die Schönfärber-Familie Schotte, die erheblichen Reichtum mit ihrem textilen Spezialtechnik-Knowhow erworben hatte und sich durch lokalpolitisches und soziales Engagement positiv hervortat (vgl. weiter unten), erbaute ebenfalls im Bereich des Amtsweinbergs an der Saale um 1850 eine Tuchfabrik (heute: An der Saale 3-4). 1852 schließlich errichteten die Kaufleute F. Raschke und A. Dingel in der Ritterstraße 12 ihre Tuchfabrik. Bis zum Ende des Jahrhunderts expandierten einige Unternehmen und errichteten weitere Fabrikgebäude in anderen Straßen, z. B. in der Entengasse (Dingel, Capelle, vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 24). Als die beständigsten und für Calbe bedeutsamsten Textil-Unternehmen erwiesen sich die Firmen Nicolai, Grobe, Capelle, Raschke und Dingel. Ihre Tätigkeit reichte bis ins 20. Jahrhundert.
Die Industrie fasste nicht nur im Tuchgewerbe, sondern auch in anderen Gewerbebereichen in Calbe rasch Fuß. Der größte nicht-textile Betrieb, der in Calbe heranwuchs, war das Brücknersche Mühlenunternehmen.
1815 waren die Getreide-, Walk-, Öl- und Graupenmühle durch einen Großbrand stark beschädigt worden (vgl. Dietrich, Ein Gang…, a. a. O., S. 13). Der Kaufmann Johann Christian Brückner aus Magdeburg kaufte 1827 das zerstörte Areal. 1834 wurde er Mitpächter der Königlichen Erbpachtmühle. Als Gesellschafter von Carl Friedrich Grunow trat er 1837 in den gesamten Mühlenbetrieb ein und wurde 1839 nach Grunows Tod alleiniger Mühlenbesitzer (vgl. Reccius, S. 87 f.). Er erkannte in einer Zeit der aufkommenden Industrie und des Massenkonsums sowie des damit verbundenen Problems der Verpackungen eine "Marktlücke". Er ließ die rechts des Mühlgrabens 1834 niedergebrannte Schneidemühle nicht wieder aufbauen, sondern stattdessen eine Papiermühle errichten. Der Unternehmer Brückner kooperierte mit den neu erbauten Zuckerfabriken und stellte große Mengen blauen Packpapiers zum Einwickeln der frisch produzierten Zuckerhüte her. Obwohl sich die Achardsche Methode der Zuckergewinnung aus der Runkelrübe schon durchgesetzt hatte (s. oben), wollte man die Herkunft des Zuckers mehr oder weniger "verschleiern" und bot ihn den Käufern noch in der exotischen Form des Zuckerhutes an. Später stellte die Brückner-Fabrik Papier für den steigenden Bedarf an Buch- und Presseerzeugnissen her. Nach 1870 produzierte man in der Brücknerschen Papierfabrik vorwiegend Packpapier und Kartons, 1878 waren es schon 1370 Tonnen Packpapier. In der Papierfabrik wurden außerdem Schreibpapier, Postkarten, Formulare, usw., ja, am Ende des 19. Jahrhunderts sogar Fotopapier, damals ein Novum, hergestellt.
Der Rohstoff für die Papierherstellung bestand zum größten Teil aus Lumpen. In einem ersten Arbeitsgang wurden diese gesäubert und nach weißen und farbigen Anteilen getrennt. Eine Maschine zerstückelte die Fetzen in kleine Teilchen, kochte und verrührte alles unter Zusatz von Ätzkalk und Soda zu einem Brei. Danach wurde ein geringer Anteil an Holzfasern hinzu gegeben und alles unter Beimengung von Leim in großen Mahl- und Rührbottichen, den Holländern, in ständig kreisender Bewegung gehalten. Der so genannte Halbstoff wurde anschließend langsam und kontinuierlich verdünnt und auf einer Bahn zur Papiermaschine geschickt. Hier gaben Pressen, Walzen und Trockenzylinder der Masse Festigkeit, Kalander glätteten die Oberfläche, und schließlich wurde das Papier auf große Rollen gewickelt, durch eine Schneidemaschine zu Bogen zerschnitten und zum Schluss je nach Verwendungszweck bedruckt (vgl. Dietrich, Heimat, S. 49f.).
Links des Mühlgrabens arbeitete weiterhin die Getreidemühle, allerdings nun auch mit den „modernen“ technischen Methoden des 19. Jahrhunderts. Zur Unterstützung der Wasserräder bei Niedrig- oder Hochwasser hatte Brückner 1848 Dampfmaschinen aufstellen lassen. Sie übernahmen im Laufe der Zeit mit immer mehr „Pferdestärken“ den Hauptanteil der Maschinen-Arbeit.
Als die preußischen Gesetze zur Ablösung der Erbpacht auch für die Mühle in Calbe am 2. März 1850 und per Rezess vom 3. Mai 1853 in Kraft traten (vgl. Hertel, S.217), wurde Brückner „freier Mühlenbesitzer“ und in der Folgezeit der größte Calbesche Fabrikant.
Das ehemalige „Brauereiinnungshaus“ in der Schlossstraße Nr. 3 wurde durch die Ablösungsgesetze ebenfalls in käufliches Privateigentum überführt. 1843 wurde es an einen Unternehmer verkauft, der es wie auch seine Nachfolger als fabrikmäßige Brauerei betrieb.
Schwerindustrie konnte in Calbe im 19. Jahrhundert nicht so richtig Fuß fassen. Eine bescheidene Ausnahme bildete eine kleine Kupfer- und Eisenfabrik. 1849 ließ sich Kupferschmied Siegmund Miller in Calbe in der Schlossstraße Nr. 92 nieder. Später zog das Unternehmen in die Bahnhofstraße um, und die „Kupfer-, Eisen- und Metallwaren-Fabrik sowie Metall- und Eisengießerei Miller“, von den Calbensern „Kupper-Miller“ genannt, etablierte sich.
Der Betrieb der mit der Industrialisierung eng verbundenen Dampfmaschinen basierte nicht nur auf der Existenz Nähe von viel Wasser, sondern auch auf dem Vorhandensein von Heizkohle.
Die Kaufleute Karl Ferdinand Schulze und Bungers gründeten 1848 die Grube "Luise" am Brumbyer Weg zur Förderung von Brennmaterial für ihre in der Nähe errichteten Zuckerfabrik (s. oben). Dazu gehörten 1850 sieben Schächte mit einer Tiefe von 20 bis 36 m (vgl. Schwachenwalde, Geschichte des ehemaligen..., a. a. O., S. 9). Von 1854 bis ca. 1864 wurden zwei Gruben, "Emma" und "Charlotte", in der Gemarkung Gribehne von den Fabrikanten-Brüdern Alexander und Adolf Nicolai sowie anderen Aktionären in Betrieb genommen. Wegen zu intensiv eindringenden Grundwassers mussten die Anlagen bald aufgegeben werden. Das Erdreich sackte in die verlassenen Stollen ein, und das in die entstandenen Löcher nachlaufende Wasser bildete das heute unter dem Namen "Gribehner Teiche" bekannte Gewässer- und Sumpfgelände. Die Grube "August" des Gastwirtes Bruns aus Halberstadt förderte auch nur von 1849 bis 1863 in der Nähe des Speckteiches (ca. 1, 5 km westlich vor der Stadt). Ein Hauptmann Mohs aus Bernburg versuchte sich 1856 bis 1866 in der Nähe des Kuhberges (im Norden vor der Stadt am Stadtfeld) mit seiner Grube "Hedwig" als Förderer des schwarzbraunen "Goldes". 1857 wollte es ein Herr Alte mit seinen Teilhabern östlich von Grube "Emma" wissen, aber auch sie scheiterten; ihre Grube "Julius" bildete bald einen weiteren Gribehner Teich. Übrigens: Auch der Schlöte-Teich (Zenser Teich) ist eine Erinnerung an die wenig später eröffneten Gruben "Pauline" und "Julie". Die Unternehmerschaft der 1840er bis 1860er Jahre war wohl von einem wahren "Förder-Fieber" ergriffen, aber nur die 1864 von der Bergunternehmer-Familie Douglas aus Bernburg (Hugo Sholto Graf Douglas) gegründete Grube "Alfred" hatte eine solidere Grundlage und bestand bis 1915. Das Flöz war bis zu 24,3 m mächtig. Diese Grube wurde eine der bedeutendsten Braunkohlen-Tiefbau-Gruben Deutschlands (vgl. Abschn. 7).
Auf der Landzunge des Fischerei-Angers, wo auch der Ladeplatz für Lastkähne und Eildampfer war, standen zwei Gasometer der 1858 errichteten Gasanstalt, von wo aus die unterirdischen Gasrohre führten. Aus der frisch angelandeten und gereinigten Steinkohle wurde Leuchtgas erzeugt (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, S. 29). Davor hatte es seit 1854 in Calbe schon eine Straßenbeleuchtung mit zunächst 36 Laternen gegeben. Als Rohstoff diente damals aus Bitumen-Schiefer gewonnenes Öl (vgl. Reccius, S. 88). Seit der Gründung der Gasanstalt 1858 hatte Calbe dann eine echte Gas-Beleuchtung. Bei Einbruch der Dunkelheit musste ein "Laternen-Anzünder", mit einer Leiter und Zündhölzern ausgerüstet, von Gaslaterne zu Gaslaterne gehen, hinaufsteigen, den Deckel und den Gashahn öffnen und das Gas entzünden. Wenig später konnte das Gas nicht nur in Unternehmen, sondern in immer mehr Bürger-Haushalten verwendet werden.
Auch das Verkehrswesen erfuhr im Rahmen der industriellen Umwälzungen gewaltige Veränderungen. Anschaulich werden diese im Bericht von der Rückkehr Wilhelm Loewes im Juli 1862 aus dem New Yorker Exil nach Calbe. Der amnestierte Revolutionär war von New York bis Hamburg mit dem Dampfschiff und von dort bis zum Bahnhof Gritzehne (heute: Calbe-Ost) mit der Eisenbahn gereist (s. oben).
Calbe war eine der ersten deutschen Städte, die mit dem neuen, mit Hilfe von Dampfmaschinen angetriebenen Verkehrsmittel, der damals schon so genannten Eisenbahn, in Berührung kam. Bereits 1839 wurde Calbe mit der Bahnstation Gritzehne [Grizehne] (1,5 Kilometer nordöstlich von Calbe, heute Bahn-Station, ehemals Bahnhof Calbe Ost) an das gerade erst entstehende Eisenbahnnetz angeschlossen. Die Calbenser verdankten die Ehre des von anderen Städten beneideten frühen Anschlusses der Tatsache, dass von der preußischen Provinz-Hauptstadt Magdeburg eine Eisenbahnlinie ins benachbarte Königreich Sachsen geschaffen werden sollte, die in Leipzig enden und die über Köthen (Herzogtum Anhalt-Köthen) und Halle führen sollte. Dabei wurde Calbe tangiert. Die Strecke stellte die erste deutsche länderübergreifende Ferneisenbahn dar. Zum Trassen-Bau setzte man Tausende von Arbeitern ein, was wiederum nicht nur zu logistischen, sondern ähnlich wie beim Kanalbau 1727 (vgl. Abschnitt 5) auch zu sozialen Problemen führte. Das für die Streckenführung notwendige Ackerland wurde den Besitzern von der Direktion der Magdeburg-Leipziger Bahn für 225 Taler je Morgen abgekauft (vgl. Hertel, S. 128). Nach dem Start in Magdeburg am 24. Januar 1838 war der erste Streckenabschnitt bis Schönebeck im Juni 1839 und der zweite bis Grizehne im September (Einweihung 9. 9.) 1839 fertig. Mit dem Bau der Eisenbahnbrücke bei Grizehne, die das Saaletal recht weiträumig überspannen musste, war schon 1837 begonnen worden. Sie ruhte auf ursprünglich 30 Pfeilern, die man an der westlichen Seite wegen möglichen Eisganges zugespitzt hatte, und war aus Eisenstreben zusammengefügt (vgl. Dietrich, Heimat, S. 56). (Diese Brücke ist 2003 durch eine neue ersetzt worden.) Am 18. August 1840 war die Strecke bis zum Magdeburger Bahnhof (heute: Hauptbahnhof) in Leipzig fertig, und 1843 hatte die Eisenbahn Magdeburg-Leipzig bereits zwei Gleise. Weil sich der Magistrat anachronistisch gegen den Verlauf der Bahnlinie mit einem Bahnhof, der näher an der Stadt lag, gesträubt hatte, mussten die Bürger einen längeren Weg zum neuen Bahnhof auf sich nehmen. Da konnte die gute alte Postkutsche aushelfen. Zweispännig verkehrte sie täglich sechsmal zum Bahnhof. Die mehr aus Holz bestehenden ursprünglichen Stationsgebäude von 1839 wurden 1894 durch das jetzt noch existierende Bahnhofsgebäude ersetzt. Dem Bahnhof gegenüber hatte man die Gastwirtschaft „Wilhelmshöhe“ errichtet. Um die Lokomotiven mit Wasser versorgen zu können, waren eine Dampfmaschine und ein windgetriebener Motor aufgestellt worden, die das Wasser aus der nahe gelegenen Saale heranpumpten.
Die neue Eisenbahn wirkte sich revolutionierend auf das Postwesen aus. Post wurde schon seit 1827 täglich befördert, eine Eilbotenpost gab es seit den 1830er Jahren. Das Postamt in Calbe unterstand seit 1848 dem General-Postamt in Berlin. Als 1850 die Oberpostdirektionen für die Regierungsbezirke eingerichtet wurden, kam Calbe als Postexpedition I. Klasse unter die Oberpostdirektion Magdeburg (vgl. Hertel, S. 126ff.). In den 1830er Jahren war das Postgebäude von der Poststraße in den als Expedition gut geeigneten Rittergutshof umgezogen. Nach der Ablösung des Rittergutes Ritterstraße Nr. 1 hatte es Posthalter Schulze, ein Anhänger Wilhelm Loewes und der Demokraten, käuflich erworben. Die Postsendungen wurden von und zu den Eisenbahnzügen oder in Orte, die noch nicht am Eisenbahn-Netz waren, zuerst noch mit den traditionellen Postkutschen, seit 1866 jedoch mit privaten Fuhrunternehmen gebracht, in Calbe waren das die Kutschen des Posthalters.
Der Anfang des 19. Jahrhunderts begonnene Ausbau der Straßen und die Anlage neuer Chausseen wurden fortgesetzt. Ein besonderes Problem stellte immer noch die Pflasterung dar. Aus Kostengründen waren die Calbenser geneigt, als Pflaster gern den in der Umgegend reichlich vorhandenen Kalkstein zu verwenden. Das führte jedoch durch Fahrbelastung und Witterungseinflüsse dazu, dass die so gepflasterten Straßen sich schnell in eine breiige, unebene Masse verwandelten. Der sozialpolitisch engagierte Pfarrer und Heimatgeschichtsschreiber Gotthelf Moritz Rocke setzte sich in den 1860er Jahren dafür ein, nicht am falschen Platz zu sparen und dauerhaftes Quarz-Pflaster aus den weithin bekannten Plötzkyer Steinbrüchen zu besorgen (vgl. Rocke, Geschichte und Beschreibung…, a. a. O., S. 154f.). Wegen der notwendigen Verkehrsumleitung und auch aus finanziellen Gründen geschah die Pflasterung in unterschiedlich großen Abschnitten. 1855 wurde die bedeutsame, aus karolingischer Zeit stammende „Heerstraße“, die auch im 19. Jahrhundert noch so hieß, heute die Landstraße 65 nach Schönebeck, von der Zichoriendarre bis zum Schlöteweg (ca. 3 km) gepflastert, so dass der Verkehr über den Klein-Mühlinger Weg umgeleitet werden musste. Seit 1816 wurde Wert darauf gelegt, die Landstraßen bzw. Chausseen, die damals noch „Kunststraßen“ genannt wurden, mit Obstbäumen und Weiden zu säumen. Neben dem Ernte-Ertragsnutzen standen dabei die Boden-Entwässerung und der Schutz des Straßenverkehrs im Vordergrund. Ein Chausseehaus zur Einnahme von Wegegebühren erhielt Calbe 1867, also nach der Errichtung des Norddeutschen Bundes. Nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde diese Funktion überflüssig und seine Zolltätigkeit wurde 1875 eingestellt. Das heute noch erhaltene Haus steht am südlichen Ortsausgang.
Auf der Saale und der Schleuse bei Calbe tat sich in jener Periode kaum etwas. Die alles revolutionierende Dampfkraft wurde hier erst später eingesetzt. Die Kettenschifffahrt von Magdeburg bis Calbe begann erst 1873, und die Schleusenanlage von 1695 blieb noch bis 1889 in Betrieb. Immer noch wurden wie in alter Zeit die Lastkähne stromaufwärts getreidelt. Stromabwärts fuhren die Kähne wie im Mittelalter mit der Strömung und, wenn möglich, mit dem Wind, in der Gegenrichtung wurden sie auf 1,50 Meter breiten "Lein-" oder "Treidel-Pfaden" von "Saalebuffern", wie man die Schifferknechte auch nannte, an über die Schulter gelegten Gurten gegen die Strömung flussaufwärts gezogen. Reste dieser Treidelwege oder Schifferstiege, die erst durch die dampfgetriebene Kettenschifffahrt überflüssig geworden waren, kann man heute noch entdecken.
Wie schon erwähnt, führte die wirtschaftlich-technische Umwälzung auch zu einschneidenden Veränderungen in sozialen Bereichen.
Während im 17. Jahrhundert die Einwohnerzahl in Calbe um rund 70% wuchs, nahm sie im 18. Jahrhundert um ca. 100%, jedoch im 19. Jahrhundert um 350% zu (vgl. Hertel, S. 111). Das war die größte Zuwachsrate, die Calbe in seiner statistisch erfassbaren Entwicklungszeit erreicht hat. Auch die Vorstädte, besonders die Bernburger Vorstadt, wuchsen kräftig an. Während es noch bis zum 18. Jahrhundert einen kleinen Anteil von Angehörigen der städtischen Unterschichten wie Hirten, Knechte, Mägde, Dienstboten usw. gab, machte die neue Schicht der besitzlosen Arbeiter, die ihren Lebensunterhalt vom mehr als bescheidenen Fabriklohn bestritten, im 19. Jahrhundert in Calbe schon über 20% aus. Zum anderen waren viele Angehörige der vorindustriellen städtischen Unterschichten noch patriarchalisch in die Bürgerfamilien eingebunden gewesen. Mit Knechten, Mägden und Gesellen hatte man zusammen gelebt und bis zu einem gewissen Grade auch für sie gesorgt. Die s. g. Hausarmen der Stadt wurden durch eine Reihe von Stiftungen versorgt, und von durchziehenden Bettlern kaufte man sich durch reichliche Almosen regelrecht frei. Die kleine, bescheiden wohlhabende Stadt Calbe war also, außer in Kriegszeiten, kaum mit Armut und Elend in Berührung gekommen. Jetzt gab es, vorwiegend in den Vorstädten, viele Menschen ohne nennenswerten Besitz, ohne Haus und Acker, Menschen, deren Familien im bürgerlichen Sinn nicht intakt, in einigen Fällen sogar zerrüttet waren und die in schlechten Mietwohnungen auf eine bessere Zeit hofften oder sich der Verzweiflung hingaben. Besonders die Kinder aus den proletarischen Familien hatten unter dem Elend zu leiden, entweder mussten sie in den Fabriken „mitverdienen“ oder betteln gehen. In einer Reihe von Fällen wurden Arbeiterkinder sogar verstoßen und ausgesetzt, wie der Mann von Marie Scheele, Philipp Nathusius, anklagend berichtete. Auch in Calbe wurde ein Spenden-Verein für hilfsbedürftige Kinder gegründet (s. oben).
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Einwohner in Calbe und den Vorstädten (nach Hertel, S. 111) |
Allem Anschein nach war wohl die Lage der Fabrikarbeiter in Calbe nicht so erbärmlich wie in Städten mit einer größeren Industrie gewesen. Doch immerhin kamen auch hier die alten Auffassungen von Anstand und Sitte ins Wanken. Während 1758 noch alle Mitglieder der St.-Stephani-Gemeinde zum Abendmahl in die Kirche gingen (4430 Personen), waren es hundert Jahre später, 1858, mit 1225 Personen nur noch ca. 15% (!!!). Am stärksten waren die Klagen über die Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen. Während der Gottesdienste spielten Jungen in der Kirche „Fangen“ und benahmen sich bei den verhassten Umgängen, die nach der Revolution wieder eingeführt worden waren, flegelhaft. Von Kindern und Jugendlichen wurde wiederholt Baum- und Friedhofsfrevel verübt, der Friedhof musste bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden. Selbst vor einem Mordanschlag gegen einen Unterprivilegierten schreckten Jugendliche nicht zurück. Jungen hatten sich den zweifelhaften Spaß gemacht, das Seil eines Akrobaten durch Schnitte so zu präparieren, dass er sich, wenn er den Anschlag nicht bemerkt hätte, zu Tode gestürzt hätte. Entsetzt führten Bürger und Geistlichkeit in den 1850er Jahren Beschwerde über diesen Verfall der Moral bei den jungen Menschen. Der sozial engagierte Pfarrer Gotthelf Moritz Rocke sah in den schlechten Wohnverhältnissen der Unterschichten nicht nur einen Nährboden für Unmoral, sondern auch für Seuchen. In Presse- und Buchveröffentlichungen versuchte er, die Bürger dafür zu sensibilisieren, dass enge und schmutzige Mietwohnungen, „Menschenställe“, wie er sie nannte, Brutstätten von Epidemien waren (vgl. Rocke, Geschichte und Beschreibung…, a. a. O., S. 156).
Aufgeklärte, pietistische bzw. sozial und humanistisch denkende Intellektuelle wie G. M. Rocke aus Calbe und das Ehepaar Nathusius versuchten so wie die Geistlichen Wichern, Bodelschwingh und Kolping oder der Philosoph Karl Marx, die kritische Schriftstellerin Bettina von Arnim u. v. a., wenn auch von verschiedenen Positionen aus, etwas gegen das Elend zu tun und der neuen Unterschicht zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen.
Wie der Gesellenbund der Tuchmacher, deren Fahne „Freiheit und Recht“ (vgl. Vetter, Heimatkalender 1950, S. 9), und die Tumulte und Unruhen von 1848 (s. oben) zeigen, versuchten die Arbeiter auch in dieser Zeit schon, ihr Los selbst zu verändern.
Seit 1817 wurden die Menschen in Europa von dem Gespenst einer neuen Pandemie, der aus Asien vorrückenden Cholera, bedroht. In Asien, besonders in Indien und China, war sie schon seit Jahrhunderten bekannt. Aber durch den Kolonialismus der Europäer, verbunden mit großen Truppenbewegungen, und durch Voraussetzungen in Europa selbst, die erst im 19. Jahrhundert gegeben waren, konnte die schreckliche Seuche, auf welche die Ärzte völlig unwissend reagierten, auf Europa übergreifen. Für die plötzliche Ausbreitung der Cholera bei uns waren besonders die Zunahme der Menschen- und Warenströme Richtung Europa und in Europa selbst die Industrialisierung und ihre Begleiterscheinungen bedingend. Insbesondere die Entstehung von Großstädten mit unzureichender sanitärer Ausstattung und die Armut in den überbevölkerten Arbeitervierteln europäischer Städte boten der Seuche einen idealen Nährboden. Die Cholera ist eine durch das im Wasser lebende Bakterium Vibrio cholerae hervorgerufene Infektions-Erkrankung, die zu permanentem Erbrechen und zu wässrigen Durchfällen führt. Der stetige Wasserverlust bewirkt die innere Austrocknung und den Verlust lebenswichtiger Mineralien. Ohne Behandlung sterben bis zu zwei Drittel aller Erkrankten innerhalb von ein bis sechs Tagen. Die Welle von 1817 kam noch vor den Grenzen Preußens und der anderen deutschen Staaten zum Stehen, aber schon 1829 wurde aus der am Ural gelegenen Stadt Orenburg erneut das Auftreten der Cholera bekannt, die sich seit 1830 schnell in Richtung St. Petersburg und Polen bewegte. In Warschau forderte sie mehr als 2600 Tote. Da aus Unkenntnis die gleichen, wenn auch sehr streng gehandhabten Maßregeln (Militärkordons, Räucherungen, Quarantänen) wie bei den früheren Pestseuchen ergriffen wurden, die Wurzeln der Seuche aber nicht bekannt waren, war die Ausbreitung über die deutschen Länder einschließlich Österreich und nach Frankreich und England nicht zu verhindern. Im Sommer ergriff die Cholera die preußische Hauptstadt Berlin. Wie eine zeitgenössische Karte zeigt, ereigneten sich zu Beginn der Epidemie die meisten Cholerafälle in der Nähe von stehenden oder kaum bewegten Gewässern; insgesamt waren die Armenviertel stärker als andere Stadtteile betroffen. Die Epidemie forderte in Berlin 1.462 Menschenleben, rund 0,6 % der damaligen Berliner Bevölkerung, auch der Philosoph Hegel fiel ihr zum Opfer. In Calbe traten die ersten Fälle ebenfalls 1831 auf.
Die Hauptwelle ergriff unsere Stadt 1832, mit 80 Cholera-Toten lag die Rate sogar bei 1,3% (- bezogen auf die Einwohner der Stadt und der Vorstädte). Im gleichen Jahr erreichte sie auch England. Bei einem erneuten Vorrücken von Süden her kam die Krankheit nicht bis Preußen. Die dritte Pandemie erreichte Europa 1847 und kam 1849 nach Calbe, wo sie 57 Todesopfer forderte. Als sie 1855 erneut nach Calbe kam, erlagen ihr 300 Einwohner, allein in den Monaten August und September 200 (Reccius, unveröffentlichtes Manuskript 1940). Von der vierten Pandemie (1863-1875) wurde Calbe gleich zweimal getroffen. 1866 war die Sterblichkeit am höchsten (3,5%). Zwischen dem 16. August und 17. Oktober erkrankten in Calbe an der Cholera 639 Menschen, von denen 388 (59,5%) starben. 1873 forderte die Seuche noch einmal den Tod von 360 Calbensern. Besonders aus der Seuchenwelle von 1848 in London hatten die Ärzte gelernt, dass die Epidemie etwas mit einer hohen Bevölkerungsdichte, mit schlechten Wohnverhältnissen, mangelhafter Ernährung und vor allem mit verseuchtem Trinkwasser zu tun hatte. So trug die Seuche auch entscheidend mit zur Verbesserung der sozialhygienischen Verhältnisse in den Städten bei.
In Calbe holten die Menschen immer noch das Trinkwasser wie in den meisten deutschen Städten aus Brunnen mit Schwengelpumpen. Zwar hatte sich seit dem 18. Jahrhundert für jedes Haus die Anlage einer Gemeinschafts-Latrine durchgesetzt, und Nachttöpfe wurden nicht mehr einfach auf die Straße entleert, aber die Sickergruben der Aborte waren oft nicht gegenüber dem Erdreich isoliert. Fäkalien sickerten in den Untergrund und damit in das Grundwasser. Abwasserentsorgung geschah in jener Zeit noch nicht durch eine unterirdische Kanalisation, sondern durch ein stinkendes Grabensystem, das schließlich in den Mühlgraben mündete. Rocke setzte sich in seinen Publikationen dafür ein, dass Calbe eine Leitung mit sauberem Wasser und eine Kanalisation erhielt, was aber erst Jahrzehnte später geschah. Die zahlreichen landwirtschaftlichen Gehöfte inmitten der Stadt mit ihren Misthaufen trugen ebenfalls zur Grundwasserverunreinigung bei (vgl. Rocke, S. 154).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich konträr zur Auffassung im Zeitalter der Renaissance und des Barocks die Meinung der Mediziner durch, dass Reinlichkeit und Baden vor Seuchen und anderen Krankheiten schützen könnte. Noch im 17. Jahrhundert fiel ein gebildeter Mann wie der Licentiat Christoph Deutschbein aus Calbe (s. Abschnitt 5) durch sein schmutziges Äußeres auf (vgl. Kinderling, Nachricht von Christoph Deutschbeins milden Stiftungen …, a. a. O., S. 443). Dieser reiche und wohltätige Mann war nicht etwa in die Asozialität abgeglitten, sondern stand lediglich auf der Höhe des medizinischen Erkenntnisstandes seiner Zeit, nach dem eine Schmutzschicht auf Körper, Kleidung und Bettwäsche vor Krankheitserregern schützen sollte. Als besonders gefährlich wurde Wasser angesehen, und die „Reinigung“ geschah durch vorsichtiges Abstauben der von Kleidung unbedeckten Teile des Körpers (vgl. Geschichte der Hygiene [Institut Pasteur]– http://www.hygiene-educ.com/de/histoire/sci_data/temps.htm). Da konnten die Gelehrten über die „Dummheit“ der einfachen Menschen, die sich doch tatsächlich manchmal wuschen, nur erhaben den Kopf schütteln.
Seit dem 19. Jahrhundert änderten sich diese Auffassungen grundlegend. Sorgfältiges Reinigen mit Wasser wurde ein Grundgebot der neuen Hygieneanschauungen. Das wirkte sich auch auf die Gründung neuer Industrien aus: 1846 errichtete Eduard Imroth eine Seifensiederei. Bereits 1819 gab der Magistrat für die Anlage einer Badestelle in der Saale 10 Taler aus. Als 1846 der Kreisarzt (Kreisphysikus) Dr. Siebenhaar öffentlich für das Baden in der Saale eintrat, gab es ein vermehrtes Interesse für diese Neuerung. Ratsmann und Färberei-Fabrikant Schotte hatte schon seit einiger Zeit eine Strombadestelle für sich und seine Familie angelegt und gestattete nun den anderen Interessenten dort ebenfalls das Baden. Die zu Reichtum gelangte Schönfärberfamilie Schotte fiel allgemein auch durch modern anmutende Naturnähe auf, u. a. hatte sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Südhang der höchsten Wartenberg-Erhebung eine „Sommerfrische“ mit Obstplantage eingerichtet, die im Volksmund bald ironisierend „Schottenlust“ (seit 1820 nachweisbar) genannt wurde. Damit war der Grundstein zur späteren Kultivierung des Wartenberges als Ausflugsort gelegt. 1855 richtete die Stadt selbst einen Badeplatz auf dem „Mönchsheger“ ein. Als Bademeister wurde der Schuhmacher Feldmann eingesetzt. Erwachsene schwammen durch die Saale, stiegen drüben an Land, entledigten sich drüben der nassen Hose, hingen diese zum Trocknen auf und tummelten sich unterdessen nackt. Diese „Freikörperkultur“ wurde bald vom Magistrat unter Strafe gestellt, „dieweil dadurch der Anstand verletzt werde“ (Reccius, Chronik…, a. a. O., S. 89). Zur Verbesserung der Volkshygiene hielten Ärzte, so auch 1846 der politisch engagierte Dr. Loewe (s. oben) im „Schwarzen Adler“, regelmäßige Vorträge über Gesundheit.
Seit 1827 sorgten in Calbe zwei Ärzte (Physici) und ein Stadtchirurg für die Gesundheit der Einwohner. Da Calbe Kreishauptstadt war, gab es hier auch einen Kreisarzt (s. oben). Der Stadtchirurg musste 1846 erstmalig eine Impfung vornehmen (vgl. Hertel, Geschichte…; a. a. O., S. 98). Das Impfen mit Kuhpocken geschah mittels eines kleinen Messerschnittes in den Oberarm. Diese Neuerung brachte damals die Menschen, so wahrscheinlich auch in Calbe, in helle Aufregung.
Die Industrialisierung und das mit ihr verbundene Entstehen der Arbeiterschaft brachte auch ein Anwachsen der Armut mit sich. Damit wuchs nicht nur ein soziales und politisches, sondern auch ein medizinisch-hygienisches Problem heran, wie die Pestpandemie zeigte (s. oben). Einer der beiden Ärzte in Calbe hatte (wahrscheinlich nebenbei) die „Armenpraxis“ zu übernehmen und erhielt dafür zwischen 70 und 100 Talern jährlich, zum Teil aus der Stadtkasse und teilweise aus den mildtätigen Stiftungen (vgl. Hertel, ebenda).
Auch die Stadtapotheke am Markt wurde den wissenschaftlichen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften entsprechend modernisiert. 1835 baute man das Laboratorium aus, wovon die Inschrift über der Tür des Labors im Seitenflügel zeugt. 1850 wurde die Apotheke „zum Theil neu ausgestattet respective verschönert ... Die ganze Thüranlage ist neu und anstatt einer Stube und einer einfenstrigen Kammer, ohne Verbindungsthür mit der Küche, sind es jetzt zwei wohnliche Zimmer ... Die Treppenanlage zum Zinkdach ist äußerlich restauriert und die Firma APOTHEKE mit vergoldeten Buchstaben neu. Das Laboratorium ist mit einem Dampfapparat versehen und die Feueranlage zum Theil neu ..." (nach: Beyer, Die Geschichte der Apotheken…, a. a. O.).
Schon im 18. Jahrhundert waren in den europäischen Großstädten städtische Krankenhäuser aufgekommen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Krankenhäuser auch in den deutschen Ländern, insbesondere seit der Gründung des Deutschen Reiches, errichtet. Dies hing hauptsächlich mit der Entwicklung der Anästhesie und aseptischer Operationstechniken zusammen.
In Calbe waren die ärmlichen Hütten des Elendenstiftes hinter der Kirche zum Heiligen Geist (Hospitalkirche) in einer Zeit des deutschen Aufschwunges und wegweisender medizinischer Erkenntnisse von Virchow, Pasteur, Semmelweis u. a., besonders aber nach den Cholera-Attacken (s. oben), als „Krankenhaus“ untragbar geworden. 1856 wurde der Bau eines neuen Krankenhauses in Calbe angeregt. Durch Sammlungen und Geldübernahmen aus Stiftungsfonds, von denen es in Calbe mehr als 20 gab, sowie mittels Geld aus der Stadtkasse und von testamentarischen Verfügungen waren 8800 Taler zusammengekommen, und der Bau vor dem Brumbyer Tor konnte im Frühjahr 1867 begonnen werden. Im Herbst des Jahres war er vollendet. Das neue Krankenhaus (heute Nordteil des Krankenhauses vor dem Haupteingang) bestand aus einem Hauptgebäude und einem Anbau an der Hinterfront. Es enthielt ein Souterrain (Kellergeschoss), zwei Etagen mit Korridoren und einen Bodenraum. Der Anbau auf der Westseite fasste ein Zimmer für Patienten mit ansteckenden Krankheiten, ein Raum für „Wahnsinnige“ und ein Zimmer für den Krankenwärter. Außer diesem (männlichen) Pfleger waren bei Eröffnung des neuen Krankenhauses noch zwei Diakonissinnen aus dem Bethanien-Haus in Berlin und ein Dienstmädchen angestellt. Hier wurden also, wie damals in anderen Städten auch, alle nichtinfektiösen Patienten, unabhängig von ihrer Erkrankung, zusammen in den Zimmern des Krankenhauses untergebracht. Ausnahmen bildeten das Quarantänezimmer für Patienten mit ansteckenden Krankheiten und die so genannten „Irrenabteilungen”.
Alle Angelegenheiten dieser Einrichtung, die insgesamt 15.000 Taler kostete, regelte der Magistrat zusammen mit der „Krankenhaus-Kommission“ der Stadtverordneten-Versammlung (vgl. Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 134 f.).
Nach der Gründung der Heiligen Allianz, die auf dem Wiener Kongress 1814/15 zwischen Russland, Preußen und Österreich zur Unterdrückung liberaler Bestrebungen bzw. zur Restaurierung der feudalen Machtverhältnisse geschlossen und vom österreichischen Staatskanzler Klemens Wenzel Fürst von Metternich dirigiert wurde, kam es zum Wiedererstarken des politischen Klerikalismus. In den vorwiegend katholischen Ländern Süddeutschlands geschah das durch die Renaissance des Jesuitismus, in Bayern Ultramontanismus genannt. In den protestantischen Staaten, besonders in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. förderten feudalabsolutistische, streng konservative Kreise den s. g. Neopietismus, der das fortschrittliche Gedankengut des frühen Pietismus (vgl. Abschnitt 5) missachtete und sich dem Katholizismus annäherte. Jesuitismus und Neopietismus wurden ins Feld geführt, um die sich ausbreitenden liberalen Ideen zu bekämpfen.
Der erkennbar hervortretende konservativ-politische Hintergrund des preußischen Neopietismus stieß auch in Calbe viele Menschen ab. Daran konnten integre und angesehene Männer wie Superintendent Scheele nichts ändern. Der schon erwähnte dramatische Rückgang des Kirchenbesuches in Calbe war ein beredtes Zeugnis dafür. Da verwundert es ebenso nicht, dass der Calbesche Stadtpfarrer Rocke den rapiden Rückgang des Kirchengesanges in jener Zeit beklagte (vgl. Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 102). Im Gegenzug konnte in dieser eher patriarchalisch geprägten Stadt u. a. der „aufrührerische“ Geist des Freimaurertums Fuß fassen. Nach der Revolution 1848/49 wurden durch die königliche Regierung teilweise wieder alte Brauchtümer eingeführt, die nach den Befreiungskriegen als obsolet abgeschafft worden waren, z. B. die bei Schülern und Lehrern verhassten Umzüge, die Betteleien ähnelten. Nachdem man sie 1822 wegen Unbeliebtheit abgeschafft hatte, wurden sie 1852 wieder eingeführt. Das Benehmen der Jungen bei diesen erniedrigenden Umgängen war demonstrativ beschämend und empörte die Bürger noch mehr.
1866 wurde die große Restaurierung der St.-Stephani-Kirche im neogotischen Sinne begonnen. Alles Barocke sollte verschwinden. Im Jahr des starken Nationalgefühls kurz vor der endgültigen Herstellung der deutschen Einheit sollte die Kirche ganz im Sinn der Spätromantik wieder gotisch rein erstehen. Neben vielen sinnvollen und nützlichen Renovierungsarbeiten schoss man dabei leider auch im patriotischen Bürgereifer über das Ziel hinaus.
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West-Innenportal der St.-Stephani-Kirche mit Orgel von 1869, die 1899 renoviert wurde (nach: Heimatstube-Archiv) |
„Außen wurde das hochaufgetürmte Reichenbachsche Erbbegräbnis abgebaut, das Spritzenhaus zwischen diesem und der Wrangelkapelle niedergerisssen, die Front des neuen Spritzenhauses seinem künftigen Zweck entsprechend umgestaltet, und endlich wurden die an der Ostwand angebauten Schuppen und Ställe beseitigt. Noch einschneidender waren die Änderungen im Innern: Die Seitenemporen sowie die Stühle und Stübchen der Honoratioren, deren Aufbauten teilweise bis an die Decke reichten und die Fenster verdeckten, verschwanden. Auch der Altaraufbau, der Schalldeckel der Kanzel mit reichem Holzschnitzwerk (Leiden und Auferstehung Christi sowie Engelsgestalten) von 1659 und die Bedachung des Taufbeckens fielen, weil nicht stilgemäß und schadhaft, der Erneuerung zum Opfer, ebenso die defekt gewordenen farbigen Fenster. Die Kanzel, bisher an dem 2. nördlichen Pfeiler stehend, erhielt ihren Platz an der Grenze des Altarraums. Außerdem wurde die Eingangshalle zwischen den Türmen, die vor 1866 als Abstellraum diente, neu hergerichtet und das bis dahin verschlossene Hauptportal wieder geöffnet. Schließlich wurde der Fußboden etwas aufgehöht in der trügerischen Hoffnung, dadurch die Feuchtigkeit in der Kirche zu beheben.“ (Teitge, Zur Baugeschichte…, a. a. O., S. 23) Die Fenster im Altarraum und die oberen Rosetten erhielten bei der Restaurierung wieder farbige Glasscheiben (vgl. Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 82). Der Vorschlag Pfarrer Rockes, auch die Wrangelkapelle als störendes Element abzureißen, wurde glücklicherweise abgelehnt (vgl. Reccius, Chronik…, a. a. O., S. 91). Durch einen Vergleich mit der Stadt zog das Spritzenhaus von seinem Platz links neben der Wrangelkapelle, wo es teilweise ein Fenster verdeckte, dorthin, wo sich heute die s. g. Winterkirche am Chorhaus der Stadtkirche befindet.
Bei der Restaurierung von 1866 musste auch die Orgelempore tiefer gesetzt werden, um das gotische Gewölbe an der Westseite für den Betrachter freizugeben. Dabei stellte sich heraus, dass ein Umbau der wurmstichigen, sich seit 1720 im Rokokostil darbietenden Orgel viel zu kostspielig war. Die Empore wurde weiter unten neu errichtet und 1869 eine für damalige Verhältnisse moderne Orgel mit einstellbaren Klängen der einzelnen Stimmen, bequem zu verändernder Tonstärke sowie leicht und schnell zu spielender Tastatur aufgebaut. Für den Aufbau stand nur die kleine Fläche von 3,14 x 5,30 m zur Verfügung. Das Orgelwerk mit 2084 Pfeifen wurde demzufolge in drei Etagen mit drei Manualen errichtet und bekam 36 Registerzüge und 8 Nebenzüge. Drei Windbalgen brachte man im Turmhaus unter. Die von der Firma Reubke & Sohn aus Hausneindorf (10km nordöstlich von Quedlinburg) neu erbaute Orgel wurde am 7. März 1809 (Laetare, 3. Sonntag vor Ostern) festlich eingeweiht (vgl. Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 99 ff.).
Nachdem 1807 die Vereinigung der französischen mit der deutsch-reformierten Gemeinde vollzogen worden war, schloss sich 1828 auf Anregung Friedrich Wilhelms III. der größte Teil der Reformierten mit den Lutheranern zusammen, nur eine kleine Schar der Reformierten blieb, die ihre Gottesdienste weiterhin in der Schlosskirche abhielt. Die Predigt anlässlich der Vereinigung hielt Superintendent Scheele am 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate) in der Stadtkirche (vgl. Hertel, Geschichte…, a. a. O., S. 158).
Nach der Vereinigung wurde die nicht mehr benötigte Heiliggeist-Kirche (Hospitalkirche) für profane Zwecke, u. a. als Feuerlöschdepot, benutzt.
Im Juli 1823 wurde vom katholischen Bischof von Paderborn nördlich der Alten Sorge (s. Abschnitt 5) in einer damals noch häuserfreien Gegend auf der Westseite von der Magdeburg-Leipziger Chaussee (heute: Magdeburger Straße) der Grundstein zu einer neuen Anstalt gelegt, die im Jahr darauf eröffnet und den Namen St.-Elisabeth-Stift erhielt. 1868 zogen dann die „Grauen Schwestern“ aus der Breslauer Kongregation der Heiligen Elisabeth in Calbe ein. Sie wirkten konfessionsübergreifend in der ambulanten Krankenfürsorge und bei der Pflege und Erziehung verwaister und hilfloser Kinder.
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Katholische Kirche „St. Norbert“ und St.-Elisabeth-Stift um 1910 (nach: Heimatstube-Archiv) |
Es fehlte nur noch eine katholische Kirche, denn der Gottesdienst musste in verschiedenen gemieteten Lokalen gehalten werden. Am 26. Mai 1870 (Himmelfahrt) wurde dann der Grundstein für eine solche Kirche gelegt, für die St.-Norberti-Kirche. Der Namenspatron Norbert von Xanten und Köln war der legendäre Gründer des Prämonstratenserordens und u. a. auch der Initiator für die Errichtung des Klosters „Gottes Gnade“ (Gottesgnaden, vgl. Abschnitt 2) gewesen. Die im neogotischen Stil für 12.000 Taler errichtete Backsteinkirche stand auf dem Gelände westlich der Magdeburger Straße neben dem St.-Elisabeth-Stift. Am Palmsonntag (2. April) 1871 fand der Einzug in die Kirche statt, und die Weihe durch den katholischen Bischof erfolgte am 9. Juli 1872 (vgl. Hertel, Geschichte…, a. a. O., S. 120, vgl. Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 159 f.).
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Schulgebäude am Kirchlatz (links) um 1840 |
Trotz der dramatisch angewachsenen Einwohnerzahlen existierten in Calbe immer noch die gleichen Schulen wie im 18. Jahrhundert (vgl. Abschnitt 5): die Knabenbürgerschule von 1695 mit der kleinen Mädchenbürgerschule nebenan und die Mädchenklasse in der Scheunenstraße. Die Schule der reformierten Gemeinde war 1839 nach dem Zusammenschluss der Reformierten mit den Lutheranern (s. oben) ebenfalls in eine städtische Schule, möglicherweise in die Volksschule, umgewandelt worden. Das frühere Tuchmacher-Innungshaus in der Grabenstraße kaufte die Stadt 1842 für 440 Taler, die bei der St.-Annae-Stiftung geliehen worden waren, zur Einrichtung einer vierten Töchterklasse. In die Volksschule gingen 1843 98 Jungen und 88 Mädchen. Außerdem gab es damals eine Frühschule mit Unterricht von 6 bis 7 Uhr für 21 Jungen und 26 Mädchen (vgl. Hertel, a. a. O., S. 162 f.). Ein Vergleich dieser Schulform mit anderen Frühschulen jener Zeit (z. B. im Stuttgarter Raum) lässt den Schluss zu, dass es sich dabei hier um eine Schule für Kinder, die u. a. Hütearbeiten und ähnliche Tagestätigkeiten in der Landwirtschaft verrichten mussten, gehandelt haben muss.
Immer stärker wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Bürgerschaft das Bedürfnis nach einer neuen Schule angemeldet und zögernd vom Magistrat akzeptiert. Der Vorschlag, die Schule in der Scheunenstraße zu errichten, wurde wegen des dortigen Morastes, hervorgerufen durch den Abwasserkanal, abgelehnt (vgl. Reccius, a. a. O., S. 89 f.). Das Territorium war zu ungesund. Schließlich entschloss man sich, die neue Schule neben der alten am Kirchplatz aufzubauen. Während noch 1856 der Bau wegen der schlechten Finanzlage der Stadt verschoben werden musste, ging es 1857 endlich los.
Die neue Schule wurde mit einem Kostenaufwand von 13.683 preußischen Talern direkt südlich neben dem alten Schulgebäude von 1695 in „ökologischer“ Bauweise mit Wänden aus Holzbalken, Lehm und Stroh errichtet (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 5).
Ein Bericht von Max Dietrich über die feierliche Einweihung der neuen Schule vermittelt uns einen kleinen Einblick in das städtische Kulturleben jener Zeit. Dietrich, der selbst als Lehrer in dieser neu erbauten Schule sowie als Küster an der St.-Stephani-Kirche tätig war und der sich beachtlich um die Heimatforschung verdient gemacht hat, schrieb:
"Die Grundsteinlegung fand am 2. Mai 1857, vormittags 11 Uhr, in feierlicher Weise durch den Oberpfarrer Stöckert statt. Am 15. April 1858 wurde das Schulhaus eingeweiht und bezogen. Sämtliche Schulkinder hatten sich zu dieser Feier im Festanzuge klassenweise auf dem Schulplatz versammelt. Auch waren der Landrat, die Mitglieder des Magistrats, die Stadtverordneten und die Lehrer zu der Feier erschienen. Durch Glockengeläut wurde die Feier eingeleitet. Der folgende gemeinsame Gesang der vier ersten Strophen des Liedes: <Ach bleib mit deiner Gnade> wurde durch Musikbegleitung unterstützt. Oberpfarrer Stöckert hielt die Weihrede auf Grund des Schriftwortes: <Wo der Herr nicht das Haus baut etc.>. Nach der Weihrede erfolgte die Schlüsselübergabe zum Hause. Rektor Dölske öffnete nach abermaligem gemeinsamem Gesange der beiden letzten Strophen des genannten Liedes die Türen des Schulhauses. Die Knaben zogen in den ersten, die Mädchen in den zweiten Eingang. Das Haus erhielt 16 Klassenräume, zwei Giebelstuben und in der Mitte des oberen Stockwerkes einen Schulsaal. Unter dem Schulsaal, der auf 8 steinernen Säulen ruhte, führte bis zum Jahre 1880 der gepflasterte <Kirchweg> auf den Kirchplatz. Saal und Kirchweg sind 1880 in zwei Klassenzimmer verwandelt worden." (Ebenda, S. 5f.)
Seit 1858 wurde am Kirchplatz in zwei Gebäuden unterrichtet, dem alten von 1695, das nun als Volksschule dienen musste, und das neue von 1858, das als Bürgerschule fungierte (vgl. Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 121).
Auch in den Vorstädten begann man, das Schulwesen den Erfordernissen des 19. Jahrhunderts anzupassen. In der ärmsten Gegend, der Schlossvorstadt, gab es eine Schule, in der den Unterricht Katecheten genannte Hilfskräfte für eine geringe Entlohnung übernahmen. Sie brachten den Kindern notdürftig das Lesen, Schreiben und Rechnen bei und übten mit ihnen hauptsächlich religiöse Stoffe sowie das Singen religiöser Lieder. Seit 1843 übernahmen dann seminaristisch ausgebildete Lehrer das Lehramt. 1852 wurde in der Gartenstraße ein neues Vorstadt-Schulgebäude mit einem Lehrer bzw. ab 1875 mit zwei Lehrern eröffnet. Der neue Bau hatte 2265 Taler und 15 Silbergroschen gekostet (vgl. Dietrich, Gang, S. 5).
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Schule der Bernburger Vorstadt von 1854 |
Auch in der Bernburger Vorstadt, die zwar nicht ganz so ärmlich war, aber auch den Status eines Dorfes besaß, sahen die Schulverhältnisse ähnlich aus. Als beim erweiterten Wiederaufbau der St.-Laurentii-Kirche um 1700 ein neues Pfarrhaus gebaut wurde, zog in das alte an der Ost-Ecke Großer Lorenz/Neuer Markt der Küster ein und unterrichtete darin die Vorstadtkinder (vgl. (Hävecker, Chronica…, a. a. O., S. 48, Dietrich, Ein Gang…, a. a. O., S. 16; derselbe, Unsere Heimat, a. a. O.; S, 25, Hertel, Geschichte..., a. a. O., S. 134) bis ins erste Viertel des 19. Jahrhunderts hinein. Seit 1826, 1829 oder 1833 (- Dietrich und Hertel waren sich da nicht einig -) diente das „neue“ Pfarrhaus (nur wenige Meter südlich neben dem Küsterhaus) aus dem 18. Jahrhundert dann auch als Schulhaus für die Kinder der Bernburger Vorstadt. 1854 wurde neben diesem Haus eine Schule erbaut, in dem auch die Lehrer wohnten (vgl. Hertel, ebenda, S. 134, Dietrich, Calbenser Ruhestätten, a. a. O., S. 19), und M. Dietrich als Zeitzeuge wusste, dass das barocke Pfarr- und Schulhaus 1883 nach der Einrichtung der neuen Schulstraße abgerissen worden ist (vgl. Dietrich, Ein Gang…, S. 16, derselbe, Unsere Heimat…, S. 25). So ist also festzuhalten, dass seit den 1850er Jahren auch die Kinder beider Vorstädte einen Unterricht erhielten, der den Erfordernissen der Zeit entsprach.
Eine andere Notwendigkeit der Epoche war die angemessene Unterbringung der Kinder von Arbeiterinnen. Die industrielle Revolution hatte für Calbe, ebenso wie für andere Städte, die Auflösung alter Familientraditionen durch Frauenarbeit in den Fabriken mit sich gebracht. 1850 wurde von dem in Calbe bestehenden Frauenverein mit Hilfe von 1000 Talern, welche die Amtsrätin Pieschel testamentarisch zu diesem Zweck gestiftet hatte, eine „Kleinkinderbewahranstalt“ in der Tuchmacherstraße gegründet. Zweck dieser heute Kindergarten genannten Einrichtung war, „den Eltern der arbeitenden Klasse Gelegenheit zu geben, ihre noch nicht schulpflichtigen Kinder zur Beaufsichtigung und zur körperlichen und geistigen Pflege zu übergeben.“ (Rocke, Geschichte…, a. a. O., S. 134). Die Eltern, die ihre Kinder tagsüber für 18 Pfennige pro Woche in die Obhut einer Lehrerin gaben (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 23) waren so die Sorge los, dass ihre Kleinen verwahrlosten. Das lag auch ganz in der Absicht der wohlhabenden Damen des Frauenvereins und des Bürgertums.
Die stark gewachsenen Einwohnerzahlen und das Ansteigen der Sterblichkeit in den Cholera-Jahren ließen den städtischen Friedhof von 1551 vor dem Bernburger Tor (s. Abschnitt 4 ) bald zu eng werden.
Am 2. September 1844 - nur 150 Meter vom Lorenzfriedhof entfernt – wurde ein neuer Friedhof (der auch heute noch genutzte) eingeweiht. 8 Morgen Stadt-Acker (durch Tausch mit der Domäne) und 1 Morgen testamentarisch übereignetes Land waren erworben worden. Das somit 9 Morgen große Areal wurde mit einer 6 Fuß hohen Mauer aus Barbyer Bruchsteinen umgeben. Das heute noch am Eingang rechts stehende Haus war die Wohnung des Friedhofsaufsehers. Die Leichenhalle links neben dem Eingang existiert nicht mehr.
Am Sonntag, dem Vorabend der Einweihung des neuen Friedhofs, läuteten um 19 Uhr die Glocken. Der Montag, der 2. September 1844, war ein innerstädtischer Feiertag. Um 8.30 Uhr versammelten sich ausgewählte Stadt- und Vorstadtbewohner in der St.-Stephani-Kirche, während sich die Jungen und Mädchen der oberen Bürgerschulklassen vor dem Altar aufstellten. Nach deren feierlichem Gesang bestieg Superintendent Friedrich August Scheele die schwarz dekorierte Kanzel und hielt die Festrede, in der er dem Bürgermeister, dem Magistrat, den Stadtverordneten und allen "edlen Spendern" dankte. Auf dem Marktplatz wartete eine große Menschenmenge, die Mehrzahl der Stadt- und Vorstadt-Einwohner, um die beiden Verstorbenen, die Frau des "Sonnen"-Gastwirtes Kreickemeier (vgl. Reccius, Chronik..., a. a. O., S. 88) und den Makler Kruse, zum neuen Friedhof zu begleiten. Der Fest- und Trauerzug hatte sich folgendermaßen formiert: vorn die Mädchen und Jungen der Bürger-, Volks- und Vorstadtschulen mit ihren Lehrern, dahinter die Musikkapelle und der Sängerchor, dann die Geistlichkeit, zwei Trauer-Marschälle, die Kreis-, Stadt- und Vorstadtbehörden sowie schließlich nicht nur viele Einwohner der Stadt und der Vorstädte, sondern auch der umliegenden Dörfer. Man kann sich denken, welches Gedränge auf dem Friedhof herrschte, nachdem der Zug eine Runde um das Friedhofsrechteck zurückgelegt hatte. Die Schulkinder bildeten einen Kreis um die beiden ausgehobenen Gruben. Von einer eigens für diesen Zweck errichteten Kanzel herab weihte Superintendent Scheele den Friedhof, und unter dem Gesang der Schüler wurden die beiden Särge hinab gesenkt.
Ein Jahr später (1845) hielt es der Rat für notwendig, einen städtischen Leichenwagen anzuschaffen, vorher wurden die Särge von der Stadt bis zum Grab getragen.
Eine kleine Episode am Rande: In der Nacht vom 21. zum 22. Februar 1850 tobte ein Orkan, der nicht nur das Dach der Leichenhalle herunter riss, sondern auch die neben dem neuen Friedhof stehende Windmühle (- daher: Mühlenbreite -) umwarf! Die sich darin festklammernden Müllerburschen kamen wie durch ein Wunder mit dem Schrecken davon (vgl. Dietrich, Ruhestätten, S. 24).
Als durch die Cholerawelle 1866 die Zahl der Toten erneut drastisch anstieg, musste man den neuen Friedhof erweitern. Für 4422 Taler kaufte der Rat noch einmal 9 Morgen gleich neben dem Areal von 1844. Gegen Gebühren konnten die Vorstädte und die Domäne nun auch den neuen Friedhof nutzen. Eine feierliche Einweihung im September 1866 musste wegen der Choleraepidemie ausfallen. Die erste Begrabene im neuen Terrain war die Mutter Dr. Gustav Hertels, des verdienstvollen Heimatforschers. (Nach weiteren 45 Jahren musste man ein zweites Mal das Friedhofsterrain erweitern.)
In der Zeit zwischen den Befreiungskriegen und der Einigung Deutschlands begannen die Calbenser, ihre Stadt ansehnlicher zu gestalten. Pfarrer Rocke und andere dem Fortschritt verschriebene Bürger popularisierten den Standpunkt, dass die mittelalterliche Enge die Seuchengefahr erhöhe. Auch die Calbeschen Viehmärkte wurden 1857 wegen der damit verbundenen Verunreinigung und wegen des Ungeziefers vor das Brumbyer Tor verbannt. Die Straßen in Calbe gestaltete man nun, wo es machbar war, breiter, ebenso die Stadteingänge. Der Turm am Schlosstor mit seinem schmalen dunklen Gewölbe-Gang wurde 1828 abgerissen (vgl. Dietrich, Ruhestätten…, a. a. O., S.3). Die verschließbaren Flügel an allen Toren verschwanden, und die wichtigsten Straßen in Calbe wurden trotz finanzieller Engpässe gepflastert.
Bald kam der Ruf nach einer Straßenbeleuchtung auf. 1854 wurden 36 Straßenlaternen aufgestellt. Als Rohstoff diente damals aus Bitumen-Schiefer gewonnenes Öl (vgl. Reccius, Chronik…, a. a. O., S. 89). 1858 bekam Calbe dann eine „Gasanstalt“. Wegen der günstigen Anlandungsmöglichkeiten von Steinkohle standen die zwei Gasometer auf der Landzunge der Fischerei (Fischereianger), von wo aus die unterirdischen Gasrohre nicht nur in die Gaslaternen, sondern in immer mehr Haushalte führten. Aus der frisch angelandeten und gereinigten Steinkohle wurde Leuchtgas erzeugt (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, a. a. O., S. 29). Seit der Gründung der Gasanstalt 1858 hatte Calbe nun eine „echte“ Gas-Beleuchtung (vgl. ebenda, S. 90). Bei Einbruch der Dunkelheit musste ein "Laternen-Anzünder", mit einer Leiter und Zündhölzern ausgerüstet, von Gaslaterne zu Gaslaterne gehen, hinaufsteigen, den Deckel und den Gashahn öffnen und das Gas entzünden. Ein Bild in unserer Vorstellung zwischen Romantik und Technisierung.
Viele Bürger, auch in Calbe, fühlten sich von der Industrialisierung mit ihren sozialen Begleiterscheinungen und von der enttäuschenden politischen Entwicklung in der Zeit der Heiligen Allianz und nach der Revolution 1848/49 abgestoßen. Das frustrierte Bürgertum flüchtete sich nicht nur in die Behaglichkeit und „Gemütlichkeit“ seiner plüschigen Wohnstuben, sondern auch, angeregt durch die Künstler der Romantik, in die Natur, wo es sich Begegnungsstätten zum geselligen Austausch schuf. Die Zeit der „Ausflugslokale“ brach an. Der Heimataktivist Pfarrer G. M. Rocke bedauerte 1867 in einem Zeitungsartikel die Zerstörung der Natur um Calbe durch die Industrie, die damals an Umfang bedeutend geringer als heute, dafür aber oft auch rücksichtsloser, war. „So habe man früher die Anlagen bei Tippelskirchen als die schönsten um Calbe gepriesen, aber auch hier habe das materielle Streben alles beseitigt, was den Aufenthalt angenehm machte.“ (Reccius, Chronik…, a. a. O., S. 91) Pfarrer Rocke meinte sicherlich die stampfenden Dampfmaschinen und die rauchenden Schornsteine der Tuchfabriken auf der linken sowie die Ziegelei-Fabrik auf der rechten Seite der Saale.
Schon seit dem 18. Jahrhundert gehörte der Buschanger mit dem Hohendorfer Busch zu den beliebtesten Zielen, wenn sich die Bürger, frei von der Stadtenge, erholen wollten. Bereits 1797 war im Busch die erste Tabagie eröffnet worden (vgl. Abschnitt 5 und Reccius, S. 83).
Tabagies (- nicht: Tabagien, der Begriff stammte aus dem Französischen und Spanischen -) hatten mit einer Modeerscheinung des 18. Jahrhunderts zu tun. Es war in Preußen wie in vielen Ländern Europas verboten, öffentlich zu rauchen. Tabak und Pfeife waren für den kleinen Mann oft noch unerschwinglich, und während König und Adel in Preußen sich der neuen Droge in ihren Salons hingaben, kamen pfiffige Gastwirte auf die Idee, neben Speise und Trank eine Tonpfeife nebst einer Prise Tabak gegen eine Gebühr von wenigen Pfennigen zu reichen. Da der Genuss des Tabaks schneller populär wurde als derjenige der zur gleichen Zeit eingeführten Kartoffel, erfreuten sich die Tabagies bald eines regen Zuspruchs des Publikums aus den unteren Schichten. Beim wohlhabenden Bürgertum hatten sie jedoch eher den Ruf anrüchiger Spelunken. Nach 1848 ging die Zeit der Tabagies jedoch allmählich vorbei, denn eine der ersten Errungenschaften der Revolution war die Aufhebung des Verbotes öffentlichen Rauchens.
Als sich 1828 die Buschschützengesellschaft in dieser bereits beliebten Ausflugsgegend einrichtete, wurde aus ihrem Schützenhaus bald eine Stätte bürgerlicher Geselligkeit. Ca. 500 Meter weiter westlich auf dem hohen Ufer war schon 1792 die Ausflugs-Gaststätte "Zum Weinberg" eingerichtet worden (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, S. 48).
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Gastwirtschaft "Zum Weinberg" um 1840 (nach: Heimatstube-Archiv) |
Der Bürgergarten um 1840 (nach: Heimatstube-Archiv) |
Der sehr beliebte Calbesche „Bürgergarten“ entstand 1824 (vgl. Dietrich, Unsere Heimat, S. 45) durch den Justizkommissar Schröder, der das Areal 1820 vom Gottesgnadener Amtmann gekauft hatte (vgl. Hertel, a. a. O., S. 131). Von 1851 gibt es einen Aktenvermerk, dass der Tabagist Karl Mehlhose aus Barby den Bürgergarten von den Erben des bisherigen Besitzers, des Justizkommissars Schröder, käuflich erworben hatte (vgl. Reccius, Chronik…, S. 89). Zwischen dem Bürgergarten und der Weinbergs-Gaststätte etablierte Brauerei-Besitzer Kriebel 1861 den „Felsenkeller zur Wunderburg“ (vgl. Hertel, ebenda) auf dem geschichtsträchtigen Boden eines alten germanischen Kultplatzes und der mittelalterlichen Wüstung Hohendorf. Bürgergarten, Weinberg-Gaststätte und Felsenkeller sind heute nur noch – etwas verändert – als Wohnhäuser zu wahrzunehmen.
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Felsenkeller zur Wunderburg um 1910 (nach: Heimatstube-Archiv) |
Auch innerhalb der Stadt passte sich das Gaststättenwesen immer mehr dem kleinbürgerlichen und bürgerlichen Geschmack des 19. Jahrhunderts an. Die ursprünglich oft recht deftige gastronomische Kultur wurde verfeinert, aus Gasthöfen wurden „Hotels“ und aus Schankwirtschaften „Restaurants“. 1818 kaufte der Gastwirt Immermann das Grundstück Markt 11, einst im 18. Jahrhundert das Gasthaus „Weißes Roß“ (vgl. Abschnitt 5, Reccius, a. a. O., S. 85), und richtete dort das Gasthaus „Zur Sonne“ ein, aus dem wenig später ein renommiertes „Hôtel“ wurde.
Da immer mehr Theatergruppen in den Städten gastierten und in Calbe einige Bürger selbst Laien-Theateraufführungen veranstalteten, war auch die Einrichtung einer Gaststätte mit einem größeren Saal notwendig geworden. Gleichzeitig kamen mit den beliebten Tänzen Polka und Walzer gesellschaftliche Tanzveranstaltungen in Mode. Auch dafür war ein größerer Saal von Nöten. Diesem Trend folgend, richtete auf dem Gelände eines ehemaligen Ackerbürgerhofes Tuchmacherstraße Nr. 58 1857 der Gastwirt L. Göde eine Gastwirtschaft mit „Bierstube und Tanzsalon“ ein (vgl. ebenda, S. 90). Gaststätte und Saal existieren heute noch (Jahn, jetzt: Nordmann).
So hatte sich die neue Kreisstadt Calbe zwischen 1815 und 1870 von einer altpreußisch-barocken Tuchmacher- zur nicht unbedeutenden Industriestadt „gemausert“ und wartete nun, wirtschaftlich und infrastrukturell gut gerüstet, auf den Eintritt ins Deutsche Kaiserreich.
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