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Copyright: Dieter H. Steinmetz

 

8. 1914 bis 1919 (Calbe im Ersten Weltkrieg, in der Novemberrevolution 1918/19 und bei den Wahlen 1919)

 

Die Ära zwischen 1914 und 1918 war für die preußische Kreisstadt Calbe - ebenso wie für das ganze Deutsche Kaiserreich eine Zeit der Verstrickung in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die auch für unsere Kleinstadt desaströs endete und die in die Novemberrevolution 1918 einmündete. Hatte sich Calbe nach dem Elend des Dreißigjährigen Krieges noch relativ rasch erholen und unter preußischer Ägide eine erneute wirtschaftliche Blüte erreichen können, so büßte die Kleinstadt durch die beiden Weltkriege ihren Platz in der Riege der durch Industrie reich gewordenen Kommunen ein. Ihr bescheidener Wohlstand basierte nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr auf der  spezialisierten Gemüse-Produktion.

 

43 Jahre hatten die Menschen im Deutschen Kaiserreich die Segnungen des Friedens und die Mehrung des Wohlstandes genießen können. Das von Preußen geprägte Deutschland war wirtschaftlich-technisch in die erste Reihe der Großmächte aufgerückt. Aber bei der Besitzverteilung fremder Rohstoffquellen, sprich: als „Schutz“- oder besser gesagt: als Kolonial-Macht, war das Reich zu kurz gekommen, weil die innere politische Einigung erst relativ spät erfolgt war. So waren die deutsche Großindustrie und naturgemäß auch die kaiserliche Militärführung nicht uninteressiert an einem kriegerischen Machtpoker um die Neuverteilung der globalen Einflusssphären. In Europa setzte ein Wettrüsten mit bis dahin ungekanntem Ausmaß ein.

Der Zündfunke, der in dieses Pulverfass fiel, war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers inmitten des europäischen Krisenherdes Balkan am  28. Juni 1914 in Sarajevo durch serbische Unabhängigkeits-Fanatiker. Trotz des anfänglichen Zögerns des deutschen Kaisers kam nun die Maschinerie der Verpflichtungen innerhalb der Bündnissysteme in Gang: Deutschland an der Seite der österreichisch-ungarischen Vielvölker-Monarchie zusammen mit dem bald hinzu tretenden Osmanischen Reich und nachfolgend Bulgarien, und auf der Gegenseite die Entente-Mächte England, Frankreich und Russland sowie Serbien, später Italien, Rumänien und die USA.

Nach 5 Wochen zwischen Hoffen und Bangen kam es schließlich durch mangelnde Verhandlungsbereitschaft auf allen Seiten zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, zum ersten der beiden verheerenden Weltkriege. Auf die verhängnisvolle russische Generalmobilmachung Ende Juli, die Zar Nicolaus II. vergeblich rückgängig zu machen versuchte, folgte am 1. August inmitten von Führungsinkompetenz und Annexions-Gelüsten die Kriegserklärung des Deutschen Kaiserreichs an das russische Zaren-Imperium und bald darauf an das bürgerlich-demokratische Frankreich, die wiederum England in den Krieg eintreten ließ.

Während aus den Großstädten, insbesondere aus Berlin, spontane Kundgebungen der patriotischen Begeisterung gemeldet wurden, blieben dergleichen Bekundungen in Calbe zunächst aus. Der entsprechende Leitartikel in der Calbeschen Stadt- und Landzeitung (im folgenden: SLZ) über den Kriegszustand zeugte von der konträren Haltung der Redaktion zu nationalistischem Gebaren. Der Chefredakteur Wilhelm Neusohn distanzierte sich von der Hetze der weiter rechts stehenden Blätter und erinnerte nachdrücklich daran, dass Deutschlands Ansehen und Größe in der 43jährigen Friedenszeit erwachsen waren (vgl. SLZ vom 2.8.1914).

 

Während die Preise  für Lebensmittel schon in den ersten Kriegstagen in die Höhe schnellten, machte man sich in Calbe Gedanken, wie man von ziviler Seite die militärischen Unternehmungen unterstützen konnte. Eine Bürgerwehr wurde, wie in anderen deutschen Städten auch, mit ca. 400 Mann in der Kreisstadt gegründet. Sie sollte zur Bewachung der Heimatregion herangezogen werden, um sie vor feindlicher Spionage und vor Sabotageanschlägen zu bewahren. Die vorwiegend aus „Ungedienten“, teilweise aus Mitgliedern von Schützen- und Kriegervereinen bestehende Bürgerwehr, ein Relikt aus den Revolutionsjahren des 19. Jahrhunderts, sollte auch bei der Bewachung von Kriegsgefangenen eingesetzt werden. Nachdem aber die militärisch inkompetenten Bürgerwachen mehr geschadet als genutzt hatten, wurden sie von Seiten der zentralen Militärführung wegen „groben Unfugs“ nach wenigen Wochen  deaktiviert. In blindem Eifer hatten die an wichtigen Verkehrspunkten eingesetzten zivilen Wachen hinter Automobilen her geschossen, deren Insassen  wegen des Motorenlärms oft die Anrufe der Posten gar nicht gehört hatten. Zum Teil schwere, auch tödliche Unfälle, die sich auf diese Art und Weise u. a. mit höheren Militärs und Diplomaten ereigneten, führten schließlich zum Verbot der im patriotischen Überschwang entstandenen Bürgerwehren. Landsturmmänner, gediente und ungediente Reserveleute, die a priori für den Heimatschutz vorgesehen waren und noch keine Uniformen, sondern lediglich Erkennungszeichen trugen, mussten die Aufgaben der ehemaligen Bürgerwehr übernehmen. Die Ablösung der Bürgerwehren durch den Landsturm bis zum späten Herbst 1914 hing auch mit der Tatsache zusammen, dass zu diesem Zeitpunkt das Scheitern des „Schlieffenplanes“ (s. unten) offensichtlich geworden und ein rascher Einkreisungssieg im Westen nicht mehr möglich war. Eine Militarisierung der gesamten Wirtschaft und des öffentlichen Lebens durch den kaiserlichen Machtapparat war unerlässlich und damit die Abschaffung ziviler paramilitärischer Organe notwendig geworden. Formationen demokratischen Ursprungs waren dem Generalkommando in einer vom Militär beherrschten Zeit ohnehin suspekt, besonders seit die deutschen Truppen den belgischen Volkswiderstand der Franktireurs (Francs-Tireurs) und der Bürgerwehr (Garde civique) hautnah erleben mussten (s. unten). Die Landsturmmänner, die auch im Kreis Calbe dem Heimatschutz dienten, konnten aber jederzeit als Landwehr-Soldaten in das aktive Heer übernommen werden. „In Fällen außerordentlichen Bedarfs kann die Landwehr aus den Mannschaften des aufgebotenen Landsturmes ergänzt werden, jedoch nur dann, wenn bereits sämtliche Jahrgänge der Landwehr und die verwendbaren Mannschaften der Ersatzreserve einberufen sind.“ So lautete ein Passus in dem Landsturm-Gesetz vom 22. Januar 1875 (vgl. Wilhelm Liebknecht, Gegen Militarismus und Eroberungskrieg, Berlin 1986, S.84). In der SLZ Calbe wurde bis Ende 1914 immer wieder beruhigend darauf verwiesen, dass man die Männer des Landsturmes nicht benötige, da es reichlich Kriegs-Freiwillige gebe und der Krieg ohnehin nur kurz sein werde. Als sich das als Illusion herausstellte, war nicht nur keine Rede mehr von der Nichteinberufung der Landsturmmänner, sondern es musste auch die Aushebung immer älterer Rekruten-Jahrgänge für den Fronteinsatz in der SLZ bekannt gegeben werden. Das Heer des Kaiserreiches bestand neben Länger-Dienenden bzw. Berufssoldaten aus der Landwehr, d. h. den bereits militärisch ausgebildeten und nun in Reserve stehenden Männern und den nicht ausgebildeten jüngeren Militärdienstpflichtigen. Gerade die oft zu Korps zusammengeschlossenen Landwehrverbände wurden im Ersten Weltkrieg in vorderster Linie eingesetzt und geradezu „verheizt“ (vgl. Otto, Helmut, Schmiedel, Karl, Der erste Weltkrieg - Militärhistorischer Abriß, Berlin 1983, S. 453). Die meisten der aus Calbe stammenden Gefallenen und Schwerverwundeten waren Landwehr-Soldaten, in der Mehrzahl junge Männer.

Die Bürgerfrauen Calbes, an der Spitze die Gattinnen der Fabrikanten und Magistratsbeamten, organisierten sich - schon vor dem leidenschaftlichen Aufruf der Kaiserin - gleich nach Kriegsbeginn im „Vaterländischen“ und im „Evangelischen Frauenverein“ (im folgenden: VFV und EFV). Besonders patriotische Frauen hatten sogar die Gründung eines „Landsturmes der Frauen“ vorgeschlagen, was aber wohl auf die Missbilligung der oberen Militärbehörden stieß. Die Frauen des VFV und des EFV sammelten (bald schon in gemeinsamen Aktionen) Unterstützungspakete für die deutschen Frontsoldaten, so genannte Liebesgaben, um die Betreuung verwundeter Kämpfer im Rahmen des Roten Kreuzes (- in Calbe waren u. a. Genesende untergebracht -) und um die Unterstützung bedürftiger Familien von im Feld Stehenden und Gefallenen.

Das Hauptaugenmerk des militarisierten Staates lag aber auf der Jugend, den potentiellen Soldaten. Die Wehrpflicht für Männer war gesetzlich festgelegt vom vollendeten 17. bis 45. Lebensjahr. Die vorwiegend aus den Gymnasien, Hochschulen und Universitäten stammenden Kriegsfreiwilligen, die sich für eine "gottgeweihte Elite" hielten, wurden 1914 auch schon mit 16 Jahren für den Einsatz angenommen (s. gefallener W. Bischoff weiter unten). 

Kriegsfreiwillige in einer deutschen Stadt am 1.8.1914(nach: Weltchronik: http://www.geschichte.2me.net/)

Um die 16jährigen und die noch nicht einberufenen jungen Männer auch richtig auf das harte Dasein an der Front vorzubereiten und ihren Kampfesmut zu stärken, hatte man im nationalen Rahmen die Wehr „Jungdeutschland“ (kurz: Jungwehr) ins Leben gerufen. Die Calbesche Jungwehr, 105 männliche Jugendliche, trat zum ersten Mal in Kompaniestärke mit drei Zügen am 12. Oktober 1914 in der Turnhalle am Neuen Markt (s. oben) zusammen. Die zu absolvierenden Übungseinheiten umfassten Geländekunde, Sport, Exerzieren, Feldhygiene, Anschleichen, Melden, Erziehung zum Patriotismus u. a. Vorwiegend Bürger in Reserveoffiziers-Rängen und Sportlehrer übernahmen die Ausbildung des „Jungborns deutscher Macht“. Bei aller Begeisterung wurde aber auch öffentlich darauf hingewiesen, dass es in Calbe nicht nur viele junge Männer gab, die sich noch von dem „edlen Streben“ fernhielten, sondern sogar auch geradezu oppositionelle und aufmüpfige Jugendliche, denen per Kriegsrecht durch den Landrat empfindliche Strafen angedroht wurden, wenn sie es nicht unterließen, sich auf den Straßen zusammenzurotten und schlimme Nachrichten (- die wahrscheinlich aus ihrem familiären Umfeld stammten -) über die Verhältnisse an der Front zu verbreiten (vgl. SLZ vom 23.8. und 1.9.1914). Die „guten“ Bürger waren über diese „bösen Burschen“, die wohl mehr aus den unter Bevölkerungsschichten kamen, empört. Nicht wenige Jungen aus bürgerlichem Hause, besonders Schüler höherer Schulen, zog es aber geradezu in den Krieg, in das, wie sie meinten, „reinigende Stahlgewitter“ des neuen Säkulums, von dem sie sich eine Befreiung von den Zwängen der erstarrten und verklemmten Gesellschaft erhofften. Die Absolventen der oberen Klassen der „höheren Lehranstalten“ durften als Kriegsfreiwillige an die Front ziehen, nachdem sie eine verkürzte Abschlussprüfung (z. B. das „Notabitur“) abgelegt hatten. Die Abschlussklasse des Barbyer Lehrerseminars z. B. ging geschlossen in den Krieg. Dabei spielte neben echter Begeisterung auch der Gruppendruck eine nicht unerhebliche Rolle. In der SLZ war ein Aufruf der deutschen Studenten  vom  2. August 1914 abgedruckt, der den Weltkrieg mit den Befreiungskriegen 1813-15 verglich und zur Einigkeit aller Volksschichten im Kampf anspornen sollte (vgl. SLZ vom 9.8.1914). Die Opferbereitschaft der vielen Kriegsfreiwilligen aus den höheren Lehranstalten, die aus Calbe und Umgebung stammten, wurde staatlicherseits und öffentlich immer wieder würdigend hervorgehoben. Die Tapferkeit der s. g. Einjährig-Freiwilligen war beispielgebend gewesen, man hatte die blutjungen, manchmal erst 16 Jahre alten Soldaten respektvoll in die Reihen des Heeres voll integriert. Durch die „Opferwilligkeit“ der  „Blüte Deutschlands“, die von der Obersten Heeresleitung skrupellos in Sturmangriffen und bei menschenverschlingenden Durchbruchsversuchen „verheizt“ wurde, entstanden die Legenden von der angeblichen Hingabe der besten Teile der deutschen Jugend, z. B. der Mythos von Langemarck. Die Propaganda, und mit ihr Entstellungen und Lügen (s. unten), wurde immer mehr ein wesentlicher Bestandteil der Kriegführung auf allen Seiten.

Das Weihnachtsfest und seinen 17. Geburtstag erlebte u. a. ein sechzehnjähriger Kriegsfreiwilliger aus Calbe nicht mehr. Er musste sein Leben kurz vor dem Heiligen Abend 1914 lassen (s. unten).

Die Kriegsbegeisterung war in den ersten Tagen auch deshalb so groß, weil „Siege auf der ganzen Linie in Ost und West“ (SLZ vom 25.8.1914) gemeldet werden konnten und das Vorrücken der Deutschen, unterstützt von Flugzeugen, Luftschiffen und gepanzerten Automobilen, mit „unglaublicher Geschwindigkeit“ (SLZ vom 4.9.1914) vor sich ging.

Wegen der zahlenmäßigen Überlegenheit der Entente-Alliierten an Menschen und Material hatte die deutsche Generalität auf die abenteuerliche Blitzkriegsstrategie des Schlieffen-Planes mit seiner Sichelschnitt-Konzeption gesetzt. Tatsächlich konnten die deutschen Truppen im August unter massiver Verstärkung der Westsstreitkräfte und Verletzung der Neutralität Belgiens bis zur Marne vorstoßen. Auch an der Ostfront gelang es General Paul von Hindenburg und seinem Stabschef Erich Ludendorff die zwei in Ostpreußen auf deutsches Reichsgebiet vorgestoßenen russischen Armeen in den Schlachten bei Tannenberg und an den Masurischen Seen vernichtend zu schlagen. Diese Blitzkriegserfolge und das kraftvolle Zurückdrängen der Kriegsgegner ließen auch in Calbe bei den meisten Bürgern Stolz und die Hoffnung aufkommen, dass der Krieg bald, womöglich noch vor Weihnachten 1914, mit einem Sieg der Mittelmächte zu Ende sein könnte. Die SLZ Calbe stimmte, wenn auch verhalten, in den euphorischen Chor des Siegestaumels mit ein. Täglich druckte die Redaktion außer den überschwänglichen amtlichen Berichten Darstellungen der heldenhaften Kämpfe und grandiosen Siege der Deutschen. Unter anderem wurden auch die dümmlich-chauvinistischen Parolen wiedergegeben, die an den geschmückten Eisenbahn-Waggons der abrückenden und durchfahrenden Truppen standen, wie zum Beispiel: „Jeder Schuß ein Russ´, jeder Stoß ein Franzos´!“, „Aus den Serben machen wir Scherben!“, „Auf nach Paris - in 14 Tagen dort Gartenfest!“, „Rußland wird bayrisch, England kommt zu Württemberg!“ (SLZ vom 8.8.1914) usw. usf.

 

 "Freie Fahrt bis Lüttich und Paris", "Hurra! Jetzt geht's nach Frankreich"- Optimismus im August und September 1914

 

In der Nacht vom 7. zum 8. August hatten die Calbenser auf dem Marktplatz von Calbe eine große Zahl von Heerespflichtigen aus Calbe, Nienburg und anderen Orten des Kreises in einer patriotischen Kundgebung verabschiedet. Es waren viele Angehörige erschienen, die ihren Soldaten Lebewohl sagten. Landrat Kothe und Bürgermeister Dr. Büttner hielten zündende Ansprachen, „und brausend erscholl das Hoch auf unseren Kaiser und das Vaterland. - Gewiß, auch hier kam bei den zurückgebliebenen Angehörigen die Wehmut zum Ausdruck, aber hoffnungsfroh und siegesmutig zogen die Krieger hinaus. Möge Gott sie geleiten und ihnen eine gesunde Heimkehr bereiten.“ (SLZ vom 8.8.1914.)

Anfang August 1914 waren in der Garnisonstadt Magdeburg, von wo aus die Truppen an die Front fuhren, alle Schulen, Gasthäuser und Hotels mit Freiwilligen belegt. Die Güterbeförderung für die Bürger musste bis Ende August auf den Calbeschen Bahnhöfen vorübergehend wegen Überbeanspruchung durch Kriegstransporte eingestellt werden. Die Damen des VFV und EFV von Calbe, die kurze Zeit später schon (seit Oktober) ihre Hilfsmaßnahmen koordinierten und gemeinsam im Schwesternhaus (heute: Wilhelm-Loewe-Apotheke) organisierten, brachten ebenso wie unorganisierte Spender aus Calbe ihre „Liebesgaben“ für durchfahrende Soldaten an die Bahnstationen. Ein Jahr später, im August 1915, schickten die Kraftfahrer der Fliegerstaffel 12 eine Feldpostkarte mit herzlichen Worten des Dankes für die freundliche Bewirtung und die „mit vollen Händen gespendeten Gaben“, die sie bei dem Aufenthalt am Bahnhof Calbe erhalten hatten, als sie an die Front fuhren (vgl. SLZ vom 14.8.1915).

Am 1. September waren die Truppentransporte zu den Kriegsschauplätzen im Wesentlichen abgeschlossen, und die opferwillige Einwohnerschaft wurde deshalb gebeten, sich nicht mehr mit ihren Gaben an die Bahnhöfe zu stellen. Nun wurden die Pakete mit speziellen Transporten direkt an die Frontlinien geschickt.

Die Vernichtung der russischen Narew- und Njemen-Armeen brachte Deutschland über 30.000 Kriegsgefangene ein. Das von Calbe aus nächste Gefangenen-Lager war in Zerbst eingerichtet worden. Alle Zerbster hatte man deshalb aufgefordert, sich gegen Pocken schutzimpfen zu lassen. Die gefangenen Russen, aber auch Belgier, Franzosen und Engländer wurden bei Ernte- und Erd-Arbeiten eingesetzt. Zur Freilegung der oberflächennah liegenden Braunkohlenlager bei Bitterfeld-Gräfenhainichen mussten Tausende von Kriegsgefangenen mithelfen, im Tagebau den Abraum abzutragen. Andere Scharen von Gefangenen wurden bei den Entwässerungsarbeiten im Rhin-Luch eingesetzt. Auf den Calbeschen Domänen-Gütern - wie schon seit Jahren - in den Sommer- und Herbstmonaten eingesetzte polnische Saisonarbeiter (Sachsengänger) verlangten als Staatsangehörige des russischen Imperiums nach Kriegsbeginn vergeblich, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Es kam zu Krawallen, Tätlichkeiten und einzelnen Rache-Brandstiftungen. Die Bürgerwehr-, später die Landsturmmänner mussten nun auch auf diese Leute, die hier faktisch als Bürger eines feindlichen Landes interniert lebten, aufpassen.

Schnell breitete sich im August und September eine allgemeine Furcht vor Spionen und Saboteuren aus. „Deutsche Männer und Frauen, hütet eure Zungen!“ hieß es immer wieder. Alle sollten auf verdächtige Elemente an Scheunen, Ställen, Brücken, Eisenbahnanlagen u. a. Obacht geben. Diese oft in Hysterie ausartende Vorsicht legte sich nach dem Erstarren der Fronten im Spätherbst wieder.

Während des schnellen, völkerrechtswidrigen Vorstoßes durch Belgien kam es auch zu Widerstandsaktionen der Zivilbevölkerung gegen die deutschen Okkupanten. In belgischen Dörfern und Städten, aber auch im Elsaß und in Frankreich schossen die Einwohner wiederholt auf die Eindringlinge. Die Deutschen, die auf das damals geltende Kriegsrecht pochten, welches das Eingreifen von Zivilisten in Kriegshandlungen strengstens verbot, erschossen Geiseln aus den Häusern, aus denen sie angegriffen worden waren und brannten Dörfer und Straßenzüge nieder. Ein Soldat aus unserer Heimat, der dieses Kriegrecht kannte, aber vom menschlichen Gefühl her nicht gut heißen konnte, nannte diese Taten „vergeltende Greuel des Krieges in ihrer furchtbaren Gestalt“ (SLZ vom 28.8. 1914).

Die Angriffe der Franc-Tireurs auf deutsche Soldaten gab es zweifellos. Es hat sich aber inzwischen durch genauere Recherchen herausgestellt, dass die Deutschen in einer Welle von Panik übertrieben reagierten und überall in der nicht gerade freundlich wirkenden Zivilbevölkerung die Guerilla vermuteten. Andererseits nutzte auch die Entente-Propaganda das brutal-harte Vorgehen der Deutschen zur Erfindung von bluttriefenden Gräuelgeschichten. Die deutsche Propaganda-Maschinerie ließ sich nicht lumpen, und setzte Fabeleien von angeblichen Verbrechen an deutschen Sanitätern in die Welt. So blieb wie in jedem modernen Krieg die Wahrheit zuerst auf der Strecke.

Nur zweimal veröffentlichte die SLZ „Hunnenbriefe“ (Feldpostbriefe, in denen mit Grausamkeiten der Soldaten geprahlt wurde), die sich auf Brutalität gegen Franktireurs bezogen, ansonsten standen, wenn Feldpostbriefe zitiert wurden, die Lauterkeit und Menschlichkeit deutscher, insbesondere Calbescher Soldaten sowie ihre Tapferkeit und ihre Entbehrungen im Mittelpunkt.

Ein Offizier aus dem Kreis Calbe verstieg sich so sehr in den Hass auf die „hinterhältigen Belgier“, dass er die Zeitungsleser in einem Brief aufrief: „Verschwenden Sie nicht das Geringste an etwa dort durchkommende Gefangene! Die Hunde müssen bei Wasser und Brot arbeiten, bis ihnen die Haut an den Knochen schlottert. Fort mit der deutschen Weichherzigkeit!“ (SLZ vom 22.8. 1914.) Eine bedrohliche Aufforderung, die Assoziationen zu den unheilvollen nachfolgenden NS-Zeiten erzeugt. Später veröffentlichte die SLZ noch einen besonders üblen Brief eines Unteroffiziers aus Calbe, dessen Name hier nicht genannt werden soll, über das Vorgehen gegen den zivilen Widerstand in Frankreich. Hier ein Auszug:

„Liebe Eltern, ich will Euch sagen, daß es hier ein richtiges Schlachten ist. Die Franzosen lassen keinen von uns leben, und wir machen dasselbe. Was denkt Ihr wohl, wenn sie uns loslassen, wir machen alles kaputt! Wir kamen am vorigen Sonnabend in ein Dorf, da war ich als Unteroffizier mit noch acht Mann vorgeschickt. Meine Leute hatten jeder eine Sprengpatrone bei sich. Auf einmal bekamen wir Feuer aus allen Häusern, konnten aber nicht feststellen, woher das kam. Schießen konnten wir auch nicht, weil wir nicht wußten wohin. Auf einmal sah ich, wie eine Frau, so eine Hexe, am Fenster stand, und auf uns loszielte. Und da solltet Ihr mal Unteroffizier … sehen. Ich schnappte mein Gewehr, 2 Schläge gegen die verschlossene Haustür, schon war ich drin. Jetzt kommt ein Kerl auf mich zugesprungen mit einem Revolver und schießt auf mich, doch der Schuß blieb im Kochgeschirr, in meinem Pfund Butter sitzen. Ich pflanzte das Seitengewehr auf und stach den Halunken durch die Brust, dieser sank tot zu Boden. Von meinen Leuten kam nun ein Mann mit der fertigen Sprengladung. Ich steckte die Patrone an und warf sie in den Hausflur. Jetzt kam die Hexe wieder die Treppe herunter und wollte nochmals auf uns schießen, aber es war zu spät. Die Sprengladung explodierte und das Haus stand in Flammen, von der Hexe war nicht ein Stück wieder zu finden. Das Schönste war, ich flog von dem großen Luftdruck auf einen danebenliegenden Misthaufen, aber … hat den Humor nicht verloren. Dann haben wir aus einem anderen Hause ein Faß Wein und einen Schinken von 30 Pfund geholt, welchen wir in aller Gemütsruhe verzehrt. Ich kann Euch sagen, hier wird man so kalt, wenn man so’n Franzmann schnappen kann, so ist er verloren. Und vor uns Pionieren haben sie riesige Angst, wenn sie uns mit aufgepflanztem Seitengewehr kommen sehen, schmeißen sie die Gewehre von sich und rufen so laut sie können: ,Pardon Monsieur! Pardon Monsieur!’ Wir sind eben dabei, uns ein Paar Kartoffelkuchen zu backen. Der eine hat ein Sack Mehl geklaut, der andere hat Oel usw. Wein die Menge. Die verbrannten Kuchen kriegen die französischen Kinder, die hier halbverhungert  herumlaufen.“ (SLZ vom 30.10.1914.)

Zur Ehrenrettung der Soldaten aus Calbe sei festgestellt, dass die meisten ihrer Feldpostbriefe nicht von dieser gefühllosen Landser-Großmäuligkeit durchdrungen waren.

Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn traf die Nachricht von dem ersten verwundeten Soldaten aus Calbe ein (Sohn des Uhrmachers Stephan), der in einem Aachener Lazarett lag. Wenig später war der erste gefallene Calbenser, Otto Zabel, zu beklagen. Er blieb in fremder Erde. Die Beerdigung des ersten Soldaten aus Calbe, der in heimischer Erde bestattet werden konnte, fand unter großer Anteilnahme der „dankbaren Einwohner“ in der letzten Oktoberwoche statt. Wilhelm Krüger (nach: Unterlagen der Friedhofsverwaltung Calbe/Saale) war der schon vierunddreißigste tote Soldat (vgl. Gedenkblatt der Gefallenen im Weltkriege - Verzeichnis der im Feindesland und in der Heimat verstorbenen Krieger, Calbe 1929, in: Stadtarchiv Calbe). Im Alter von 26 Jahren war er am 18. Oktober 1914 gefallen.  33 vor ihm in den Weltkriegsschlachten umgekommene Calbenser konnten nicht in die Heimat zurück überführt werden. Deshalb wurde in den Zeitungen auch nicht der Name des Toten genannt. Die feierliche Beerdigung fand gewissermaßen stellvertretend für die anderen vor ihm Gefallenen mit unbekanntem Grab statt. „Sämtliche hiesigen Militärvereine waren angetreten zum Begräbnis des Kameraden, das Wachkommando gab ihm das Geleit und dieses schickte dann auch die drei Gewehrsalven über das Grab. Die Rede des Herrn Pastor Lehmann am Grabe war eine spontane Kundgebung für die deutsche Einheit, ein warmes und tiefempfundenes Dankeswort für unsere Truppen dort draußen im Feindesland, ein Weheruf über die Friedensstörer und der Ausdruck der Hoffnung und die Bitte an den Lenker aller Erdengeschicke auf baldigen Frieden. Dem Begräbnis wohnten auch die Vertreter der Behörden bei sowie alle hier anwesenden Militärs, auch die hier weilenden Verwundeten hatten es sich nicht nehmen lassen, ihrem toten Kameraden das letzte Geleit zu geben. Er ruhe in Frieden. – Das Stück Land, das für unsere verstorbenen Krieger auf dem ersten Teil unseres Friedhofes reserviert bleiben soll, wird für die Calbenser heiliges Land sein und der Nachwelt Kunde geben, wie Calbe seine gefallenen Krieger ehrte.“ (SLZ vom 27.10.1914.)

Gräber der Gefallenen des Ersten Weltkrieges auf dem Friedhof Calbe

Auf diesem Calbeschen Kriegerfriedhof konnten nur wenige der Gefallenen aus Calbe bestattet werden. Die Bergung der Toten wurde mit dem Übergang zum Stellungskrieg mit seinen Feuerwalzen, Trommelfeuern und Gasangriffen immer schwieriger. Die Angehörigen wurden gebeten, von Gesuchen um Rückführung ihrer toten Soldaten Abstand zu nehmen. Die Gefallenen blieben im Geschosshagel in der Kraterlandschaft des Niemandslandes zwischen den Schützengräben liegen bzw. wurden im Ausnahmefall unter abenteuerlichen Bedingungen notdürftig verscharrt. Die wenigen noch rückgeführten Toten waren oft auch die in den Lazaretten Verstorbenen. In der SLZ hieß es: „Aber auch sonst wird die Rückführung auf größte Schwierigkeiten wie z. B. den Mangel an Transportmitteln stoßen, daß nur dringend davon abgeraten werden kann. Für den Soldaten ist das Schlachtfeld das schönste, ehrenvollste Grab.“ (SLZ vom 3.10.1914.)

Der zweite Soldat, der auf dem Calber Kriegerfriedhof beigesetzt werden konnte, war der einundfünfzigste Gefallene des Jahres 1914, Wilhelm Bischoff (nach: Unterlagen der Friedhofsverwaltung Calbe/Saale). Der am 27. Januar 1898 geborene Wilhelm (Willy) Bischoff war als einer der ersten Kriegsfreiwilligen mit 16 Jahren in das „Stahlgewitter“ gezogen und hatte am Tag vor dem Heiligen Abend 1914, also noch vor seinem 17. Geburtstag, sein Leben lassen müssen. Eltern und Geschwister blieben voller Schmerz zurück.

 

Deutsche Soldaten transportieren 1915/1916 ihre toten Kameraden, nicht um sie in die Heimat rückzuführen, sondern um sie hinter der Front zu bestatten. (Nach: http/:www.altearmee.de/archiv/photoarchiv)

Viele Soldaten aus Calbe zeichneten sich durch Tapferkeit aus, was sich in der hohen Zahl von verliehenen Eisernen Kreuzen widerspiegelte. Durchschnittlich an jedem vierten Tag wurde in den ersten Kriegswochen ein Frontkämpfer aus Calbe für besondere Kriegstaten ausgezeichnet (vgl. SLZ vom 24.11.1914).

 

Die Bevölkerung Calbes musste, je länger der Krieg dauerte, immer mehr Opfer in Bezug auf Ernährung und Lebensqualität bringen. Während sich in den ersten Tagen lediglich ein Ärztemangel, hervorgerufen durch den Bedarf an Frontmedizinern, bemerkbar machte, kam es bald auch zu anderen Versorgungsengpässen. Die Lebensmittelpreise schnellten in die Höhe. Preis-Wucherer versuchten sich in der Mangelsituation an der Bevölkerung zu bereichern, was zu Wut-Exzessen z. B. in Magdeburg führte. Die Regierung sah sich gezwungen, staatlicherseits Höchstpreise festzusetzen, die aber auch ständig höher gelegt werden mussten.

Der Magistrat drohte den Armen der Stadt, die Unterstützungsgelder zu streichen, wenn ihnen „leichtlebiger Umgang“ damit nachgewiesen werden konnte (vgl. SLZ vom 28.8.1914). Da die Kartoffelpreise stetig stiegen, musste vor Hamsterkäufen gewarnt werden. Auch die Felddiebstähle nahmen drastisch zu. Rohstoffe wurden schon in den ersten Wochen immer knapper. Benzin wurde zugeteilt. Von den Einwohnern wurde gefordert, Petroleum zu sparen, denn die Petroleum-Beleuchtung war trotz Elektrifizierung noch weit verbreitet. Durch die von der Entente verhängte Wirtschaftsblockade mangelte es bald auch in Calbe an den einfachsten Dingen des täglichen Lebens. Wegen fehlender Zusatzstoffe gab es jetzt dunkle, weniger gut riechende Seife.

Auch Scharlatane bekamen Aufwind. Es wurde öffentlich vor Pülverchen gewarnt, die gegen die vom Mangel hervorgerufene Magerkeit helfen sollten (vgl. SLZ vom 31.8.1914). (Welch ein Gegensatz zu den heute angebotenen Mitteln gegen Fettleibigkeit!)

Die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die Kinder der ärmeren Schichten, hatten unter der wachsenden Lebensmittelknappheit auch in Calbe am meisten zu leiden. Die Kindersterblichkeit lag bedrohlich hoch - z. B. starben zwischen dem 25. Oktober  und 10. November 1914 mehr Kinder, die zwischen 0 und 10 Jahren alt waren als Erwachsene über 50 Jahren. Die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit betraf besonders Arbeiterfamilien.

Der Blitzkrieg mit der geplanten Umfassung von Paris war schon im September immer mehr in eine Verlangsamung  übergegangen. Zwar waren nach Lüttich noch bedeutende belgische Städte wie Antwerpen und Brügge erobert worden, aber bei Ypern an der Yser hielten sich die deutschen Kräfte mit denen der Alliierten nahezu die Waage, weil u. a. der Munitionsnachschub aus Deutschland stockte. Auch die für beide Seiten äußerst verlustreiche Marneschlacht hatte den sieggewohnten deutschen Truppen ihre Grenzen gezeigt. Glanz und Aufmachung der rarer werdenden Siegmeldungen nahmen auch in der SLZ immer mehr ab. Als nach dem Fall Antwerpens ganz anders als bei der Eroberung Lüttichs die Magdeburger Glocken schwiegen, erklärte die Leitung der Erzdiözese, dass die ernste Gesamtlage Jubel und Dank nicht rechtfertige. Der Verfasser des Artikels in  der SLZ sah darin Schwarzmalerei und Kleingläubigkeit. Er und andere „Vaterlandsfreunde“ wurden aber in den nächsten Wochen eines anderen belehrt. Nahezu der letzte Hurra-Feldpostbrief stammte vom 4. Oktober: Reitersoldaten aus Calbe als Mitglieder einer kleineren Husaren- und Ulanen-Einheit hatten mit viel Glück durch ein zufälliges Zusammenspiel mit Infanterie- und Maschinengewehr-Trupps zwei französische Reiterbrigaden mit 3000 Mann eliminiert (vgl. SLZ vom 17.11.1914). Während in diesem Brief der Krieg noch als großes Abenteuer erschien, reflektierten andere Feldpostbriefe Not, Schmerz und Grauen des Stellungskrieges. In den Argonnen, wo die Fronten sich festgefressen hatten, und ein erbitterter Kampf um ein Vor oder Zurück tobte, lagen die vielen Toten unbeerdigt, teilweise in Bergen übereinander im zerbombten Niemandsland. Trotz „unglaublich heftigen Durchbruchsversuchen“ und stündlich wiederkehrendem Hagel von Granaten, Schrapnells und Infanterie-Geschossen konnten die deutschen Soldaten die Stellungen halten, wie ein Calbenser berichtete (vgl. SLZ vom 5.11.1914). Ein anderer schilderte die schneeweißen Unterstände, welche die Soldaten in den Kreide-Untergrund bei Reims gehauen und gegraben hatten. Da gab es in der Tiefe eine regelrechte Stadt mit Stufen, Kasinos, Offiziersbehausungen, Verbandsplätzen, Telefonzentralen, mit einem Marktplatz und einem „Tanzlokal“. Nur die von feindlichen Geschossen getöteten „Bewohner der weißen Stadt“, so bemerkte der Schreiber sarkastisch, mussten noch oben auf den „großen Friedhof“ des Niemandslandes geschafft werden (vgl. SLZ vom 17.11.1914). Auch bei den „furchtbaren Kämpfen an der Yser“ zeigte sich das „Schlachtfeld [als] ein weiter Friedhof“ (vgl. SLZ vom 18.11.1914). Die Zeitungs-Zeile „Die ganze lange Front… scheint mit angehaltenem Atem auf die Entscheidung zu warten“ (SLZ vom 9.10.1914) gab die Situation im Herbst 1914 wieder.

In einem ungeschönten Feldpostbrief vom 2. November 1914 beschrieb der junge Soldat Curt aus Calbe einen Sturmangriff, der 30 Stunden dauerte, ohne Ergebnis verlief und bei dem in einigen Zügen 64% Verluste zu beklagen waren: „Liebe Eltern! Schwere Stunden liegen mal wieder hinter uns, aber sie sind überstanden, heil und ganz sitze ich wieder in unserem Quartier und kann wieder frische Kräfte sammeln…“ Mit Tornister, Axt, Spaten und Drahtschere war Curt zum zehn Minuten vorher angekündigten Sturm angetreten. Während der Mond hell am Himmel stand, hatte er daran gedacht, dass nun womöglich seine letzte Stunde geschlagen haben könnte. Seine Kompanie, die von hinten vormarschiert war, stieß auf die vorn liegende Frontlinie. Curt sah, wie „die Leute aus dem Schützengraben in langer Reihe rauskommen, im Schritt ging es vor. Über uns schoß schon seit geraumer Zeit unsere Artillerie, leichte und schwere. [Das war die neu entwickelte Taktik des Sperrfeuers bzw. der Feuerwalze. 70 bis 150 Meter vor der langsam ins mehrere hundert Meter breite Niemandsland vorrückenden Infanterie entrollte die eigene Artillerie eine ebenfalls langsam vorrückende Wand von dichtem Geschosshagel. Gleichzeitig versuchte auch die feindliche Artillerie, die Angreifer zu erfassen, so dass diese nur noch von Geschossen umgeben waren. D. H. St.] „Wenige Meter waren wir so vorgegangen, da ging es los, immer schneller kamen die Kugeln gepfiffen. Im Marsch-marsch ging es vor, 50 Meter. Da kam das Kommando: 'Stellung!', alles lag. So ging es weiter, im Sprung für Sprung, die Kugeln pfiffen unheimlich… Beim zweiten Sprung setzte die französische Artillerie ein, nun hieß es vor, damit wir das Artilleriefeuer hinter uns bekamen. So ging es vor, das Gepäck in der linken Hand, damit man es beim Hinlegen sofort vor sich legen kann, so waren wir wohl 600 Meter vorgekommen. Vor uns deutsche Granaten, hinter uns französische, dazwischen ein rasender Kugelregen. So hatten wir wohl eine viertel Stunde gelegen…, vorläufig ging es noch nicht weiter, also rein in die Erde.

Zu allem Überfluß hatte ich noch meine Zündschnur zur Sprengpatrone… im Munde tragen müssen. Als ich mich mit meinem kleinen Spaten soweit eingegraben hatte, daß ich von Infanteriefeuer… nicht mehr getroffen werden konnte, habe ich mir etwas Ruhe gegönnt. Da ich ein Feuerzeug mit Glühschwamm besitze, habe ich erst mal einige Zigaretten geraucht, inzwischen hatte ich mich immer etwas tiefer eingegraben… So wurde unter feindlichem Artillerie- und Infanteriefeuer weiter gearbeitet, bis wir bis an die Nase drin saßen. Das Feuer hatte nachgelassen, setzte aber alle Augenblicke bald hier, bald dort wieder ein… Da wir nun französisches Artilleriefeuer erwarteten, hieß es ein Loch unter die Erde nach vorn zu buddeln, um vor Schrapnells sicher zu sitzen… Raus konnte man aus der Stellung nur im Liegen… So ging der Tag langsam hin, die Lage war übel. Wer sollte uns Essen bringen oder ablösen?... Nachts gegen 1 Uhr wurde es Gott sei Dank bewölkt, da kam das Kommando: ,Von rechts zu Zweien zurück!’ Die Stellung sollte wohl wieder aufgegeben werden. So gingen wir zurück, jeden Augenblick konnte das Feuer wieder einsetzen. Wir kamen, nur von wenigen Kugeln belästigt, in der alten Stellung wieder an, die durch Ablösung schon besetzt war. Mit noch einem Pionier machte ich mich dann auf den Weg in unser Quartier. Halb tot kamen wir dann nachts 3 Uhr dort an. Etwas wurde gegessen, dann ging es zu Bett, ein Teil der Leute war schon dort zurück… Manch einer aus unserem Zug ist verwundet, da noch einige fehlten, wissen wir nicht wie viel, einer ist tot gemeldet. Die schweren Stunden sitzen noch mächtig im Körper, aber wie lange noch, man ist wieder vergnügt… Das häßlichste bei einer solchen Sache ist, daß so viele gleich in Anfang zurückbleiben. Als durchgezählt wurde, wie viel da sind, waren in dem einen Zug der 12. Kompanie 23 Mann [Zugstärke mit Pionieren ca. 50 Mann], im Zug rechts von uns 13 Mann, Pioniere mitgezählt… Schon wieder mal ein hartes Stück Arbeit hinter uns. Möge es immer so gut gehen.

Ich will schließen und mich schlafen legen. August M. liegt auch hier im Dorf im Quartier, er war schon bei mir. Heute erhielt ich von Otto Büst und Oskar Beyer je eine Sendung. Letzterem schickt bitte eine Abschrift von diesem Brief, ich bin zu müde, um noch mal einen so langen Brief zu schreiben. Er wird sich freuen, auch wenn es nicht ein Original dieser Schilderung ist.

Nun seid herzlich gegrüßt von Eurem Curt“ (SLZ vom 18.11.1914.)

 

Das Niemandland im Stellungskrieg nach einem abgewehrten Sturmversuch

(Nach: http/:www.altearmee.de/archiv/photoarchiv)

 

In einer jahresabschließenden militärstrategischen Betrachtung der SLZ vom 31. Dezember 1914 wurde festgestellt, dass ein inzwischen teilweise sechsfach in der Tiefe gestaffeltes Grabensystem nicht dazu geeignet wäre, den Krieg in nächster Zeit wieder in eine rasche Bewegung übergehen zu lassen. In der gleichen Ausgabe hieß es im Leitartikel, dass nun inzwischen schon die Einnahme eines einzigen gegnerischen Schützengrabens einen Erfolg darstellte. Die festgefahrene Situation spiegelte sich seit Ende 1914 in den amtlichen Headlines wider, die jetzt meist lapidar lauteten: „Im Westen Lage unverändert!“ (vgl. O. M. Remarque: „Im Westen nichts Neues!“).

Seit dem Spätherbst wussten unsere Soldaten, dass sie Weihnachten im Feld verbringen würden. Ein französischer Militärexperte hatte sogar ausgerechnet, dass der Krieg bei der derzeitigen Stellungsstrategie und dem Kräftegleichstand bis 1917 dauern könnte, was natürlich heftigen Widerspruch hervorrief (vgl. SLZ vom 13.11.1914).

Die Redaktion der SLZ begann zu spekulieren, wie der Krieg noch rasch zu einem siegreichen Ende kommen könnte. Die großen Menschenopfer, mit denen die russische Generalität die mangelhafte Technik an der Front zu kompensieren versuchte, führten zu Unruhen in Russland und zu Studentendemonstrationen in Petersburg und Moskau (vgl. SLZ vom 30.10.1914). Das brachte schließlich die deutsche Führung auf die Vermutung, dass in Russland bald eine Revolution stattfinden würde, wodurch man den Krieg im Osten zu möglichst günstigen Konditionen beenden könnte - eine Spekulation, die sich 1917 erfüllte.

Groß-Admiral von Tirpitz wurde zitiert, der vehement auf einen radikalen U-Boot-Krieg setzte, um die bedrohliche Seeblockade der Entente zu durchbrechen, die Deutschlands Wirtschaft immer mehr zum Erlahmen brachte (vgl. SLZ vom 23.12.1914), nachdem auch Meldungen von der Versenkung des deutschen Kreuzers „Emden“ (200 Tote, 30 Verwundete) und der Aufgabe des Kreuzers „Königsberg“ aus Südwest-Afrika eingetroffen waren (vgl. SLZ vom 13.11.1914). Auf das im Oktober auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg eingetretene Osmanische Reich (Türkei) setzte man in den Calbeschen Redaktionsstuben nur zaghafte Hoffnungen.

Deutschlands Sozialdemokraten hielten weiter zur „Burgfriedenspolitik“ (SLZ vom 29.11.1914). Aber schon 1915 spalteten sich in der Frage eines Verständigungsfriedens (s. unten) die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und 1916 die wenigen Mitglieder der linksradikalen Spartakusgruppe ab.

Die fast täglich abgedruckte Hauruck- und Hauzu-„Lyrik“ der ersten Kriegswochen war verstummt, und nun wurden in der SLZ, wenn noch überhaupt, Gedichte mit elegisch-pathetischem Charakter veröffentlicht, wie z. B. „Für dich will ich gern sterben, geliebtes Vaterland!“

Die Verlustlisten für Calbe und Umgebung waren drastisch angewachsen, an manchen Tagen fast eine Zeitungsspalte lang, meist Meldungen von Verwundeten und Vermissten. Aber auch die Zahl der Gefallenen aus Calbe erhöhte sich bis Ende des Jahres auf 56 (vgl. Gedenkblatt der Gefallenen…, a. a. O.).

Die Hilfe der Heimatstadt für ihre Soldaten konzentrierte sich auf das absehbare Weihnachtsfest im Felde und die bevorstehende Winterzeit in nassen und kalten Gräben und Unterständen. Die Weihnachtspakete enthielten wollene Unterwäsche, Strümpfe und Kopfschützer sowie Kekse, Tabakwaren und alkoholische Getränke. An den Spendenaktionen beteiligten sich Vereine, Schulklassen und viele Privatpersonen. Rund 700 Pakete wurden zur Weiterleitung an die Fronten mit einem Möbelwagen aus Calbe nach Magdeburg gebracht.

Wie die Realität eines Liebesgaben-Empfanges unter Feldbedingungen aussah, schilderte der Feldpostbrief eines Calbensers: Während des mörderischen Hagels von Geschossen wurden die im Regen im Schützengraben schlafenden Soldaten geweckt: „Liebesgaben empfangen!“ 6 Mann teilten sich eine Flasche Bier und ein Stück Schokolade. Dann wurde, vom Wachestehen unterbrochen, stundenweise weitergeschlafen, bis es sechs Stunden später hieß. „Sturmangriff vorbereiten!“ (vgl. SLZ vom 28.10.1914).

 

Weihnachten 1914 im Schützengraben

 

Auch für die Verwundeten, die in Calbe der Genesung entgegengingen, und für die Landsturmmänner gestalteten der VFV und EFV sowie der Kriegshilfe-Ausschuss Weihnachtsfeiern mit Geschenken. Die Mittagstafeln für die Verwundeten, die in der Bernburger Straße 1 gegeben wurden, sollten allerdings nicht als gleichzeitige Speisung der Armen angesehen werden, hieß es seitens des Magistrats. 1916 musste der Verwundeten-Mittagstisch um Kartoffel-Spenden der Calbenser bitten (vgl. SLB vom 15.6.1916), nach den Missernten und dem derzeit herrschenden Hunger der Bevölkerung ein fast aussichtsloses Unterfangen (s. unten).

In den fünf Monaten Krieg hatte sich die Zahl der Armen erhöht, die der Arbeitslosen verdoppelt (vgl. SLZ vom 23.12.1914). Deshalb wurde auch um Weihnachtsspenden für die Calbenser gebeten, die ihre Arbeit verloren hatten.

Das Versenden von Paketen an deutsche Kriegsgefangene in der Fremde war mit größeren Schwierigkeiten verbunden; Sendungen kamen oft erheblich dezimiert an.

Auch auf die Schulen, besonders die Volksschulen, hatte der Krieg seine negativen Auswirkungen. Weil viele Lehrer an den Fronten waren, fielen Unterrichtstunden aus oder wurden gekürzt bzw. reduzierte man die gesamte Stundentafel. Kriegsuntaugliche Pädagogen hatten Dienst als Helfer im Roten Kreuz zu tun. In diesen schweren Zeiten nahmen die Lehrer Rücksicht auf die Belastung in den Familien, denn viele Schüler mussten jetzt, wenn Vater und/oder Bruder fehlten, mehr im Haushalt mit zupacken oder wurden zu Einsätzen in der Landwirtschaft herangezogen (vgl. SLZ vom 29.11.1914). Hausaufgaben wurden deshalb kaum aufgegeben; Fortbildungskurse für Schulentlassene entfielen meist ganz (vgl. SLZ vom 6.11.1914). Während der Kriegsjahre blieb, wie so vieles andere, auch die Volksbildung auf der Strecke (vgl. Klamm, Uwe, Lebenserinnerungen eines Calbensers (bes. Teil 4 und 5), Calbenser Blatt 10 und 11/2004).

Die Kosten des Krieges beliefen sich für das Deutsche Kaiserreich in den ersten 5 Kriegsmonaten auf 6,5 Milliarden, d. h. täglich auf 150 Millionen Mark (vgl. SLZ vom 23.12.1914).

Der Mangel im zivilen Bereich trat im Spätherbst immer einschneidender zutage. Permanent wurden die Calbenser erinnert: „Wer Brotgetreide verfüttert, versündigt sich am Vaterlande und macht sich strafbar!“ Die Behörden verteilten an alle Einwohner Zählscheine, mit denen die Vorräte an Getreide und Mehl erfasst werden sollten. Per Verfügung wurde das Brot für Frontsoldaten mit 5% Kartoffelextrakt, das für Kriegsgefangene mit 20% versetzt. Für die deutsche Zivilbevölkerung war ein Wert dazwischen zulässig. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr stieg auch der Substitut-Anteil des so genannten K-Brotes.

Um die seit dem Erstarren der Fronten gesunkene Moral der Bevölkerung zu heben, fand am 1. Dezember 1914 um 20 Uhr im Saal der Gaststätte „Reichskapelle“ in der Schlossstraße (später: Kino) ein „Patriotischer Kriegs-Unterhaltungsabend für Familien“ statt. Gemeinsam wurden Lieder gesungen, Chöre und Rezitatoren traten auf, und nach mehreren Reden über den Weltkrieg und seine Folgen berichtete ein Calbescher Beamter, der einen „Wollzug“ (Spenden-Zug mit Wintersachen) hinter die Front begleitet hatte, über „Erlebnisse im Feindesland“ (vgl. Ankündigung in SLZ vom 25.11.1914).

Ebenfalls in der „Reichskapelle“ und in anderen Gasthöfen mit Bühne-Sälen traten nun immer häufiger Schauspieler-Ensembles von bekannten Theatern mit patriotischen Stücken auf. Das Lustspiel „Kam´rad Männe“ des gastierenden Magdeburger Zentraltheaters sollte wieder die ursprüngliche zackige Fröhlichkeit und Forschheit der ersten Kriegstage aufkommen lassen, was aber wohl bei der derzeitigen Lage an den Fronten und zu Hause nicht so richtig gelang. Dem Ernst der Situation eher angepasst war da das Stück „Durch Not und Tod zum Sieg“.

Das Weihnachtsgebet in der St.-Stephani-Kirche hatte in der Bitte gegipfelt: „Herr, lasse Frieden werden!“

Aber das neue Jahr 1915 mehrte die Leiden der Calbeschen Zivilbevölkerung und der Frontsoldaten weiter, und ein Ende des Krieges rückte weiter in die Ferne.

Zwar war die Zeit von Ende 1914 bis zum Frühjahr 1916 die Periode größerer militärischer Erfolge für die Mittelmächte und deren umfangreichsten Gebietseroberungen, aber lange konnten sie dem zahlenmäßigen Übergewicht an Menschen (besonders Soldaten aus den Kolonien) und Material seitens der Entente nicht mehr standhalten. Durch große Disziplin der Soldaten und hervorragende logistische und pioniertechnische Leistungen konnte die deutsche Armee trotz massiver Angriffe der Entente im Westen die Stellungen halten sowie im Osten bedeutende strategische Erfolge erzielen.

Dazu musste auch die Heimat mit empfindlichen Opfern beitragen. Der Siegestaumel der Anfangszeit wich in Calbe mehr und mehr einer Konzentrierung auf die Versorgung mit dem Notwendigsten. Zwar wurde immer noch eifrig für die Frontsoldaten aus Mitleid und Verehrung gespendet, aber die Zahlen und Umfänge der Liebespakete gingen zurück. Die Einwohner hatten nämlich selbst kaum noch Lebensmittel.

Um den harten Winter, besonders in Russland, für die Soldaten etwas zu lindern, wurde im Januar eine Sammelaktion für warme Wintersachen durchgeführt, die Reichs-Wollwoche. Mitgefühl für die Männer, "wie sie frieren und leiden und sterben" (SLZ vom 23.1.1915), brachte ein beachtliches Spendenergebnis, auch an „Pelzen für das Ostheer“ (vgl. SLZ vom 9.1.1915).

Um die Seeblockade zu durchbrechen und den Nachschub an Kriegsmaterial, der teilweise über Handelsschiffe nach England gelangte, zu verhindern, setzte das Deutsche Reich auf einen massiven U-Boot-Krieg. Als am 7. Mai 1915 die „Lusitania“, ein britisches Dampfschiff der Cunard-Linie, ohne Vorwarnung vor der Südküste Irlands von einem deutschen U-Boot torpediert wurde und 1198 Menschen, darunter 128 Amerikaner, ums Leben kamen, kippte die ursprünglich prodeutsche Stimmung in den USA. Die Stimmen nahmen zu, die für einen Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg auf der Seite der Entente plädierten. Deutschland musste auf diplomatischem Wege versprechen, vom uneingeschränkten U-Boot-Krieg Abstand zu nehmen. Auch ein anderes deutsches Vorhaben erwies sich als Bumerang. Nach französischen Experimenten mit nicht tödlichem Reizgas bliesen am 22. April 1915 unter Bruch der Haager Landkriegsordnung von 1899 während der zweiten Ypern-Schlacht deutsche Spezialtrupps 180 Tonnen Chlorgas aus 5730 Stahlflaschen in die feindlichen Schützengräben, um den lange überfälligen Durchbruch zu erzielen. Die Wirkung des von Prof. Fritz Haber entwickelten Gases war verheerend. 3000 französische Soldaten starben unter schrecklichen Qualen, und 7000 Gasgeschädigte waren zu beklagen. Die Spitze der OHL, die zu diesem Zeitpunkt nichts von der Wirksamkeit der neuen Waffe hielt, nutzte die Chance zum Durchbruch nicht. Schnell stellte sich die Gegenseite auf die veränderte Situation ein. Noch schlimmere Giftgase wurden entwickelt und das Gasblasen, bei dem von umschlagenden Winden die Giftschwaden auch in die eigenen Gräben getrieben werden konnten, wurde durch Gasgranaten ersetzt. Gasmasken wurden durch „Maskenbrecher“, d. h. Gase, welche die Schutzfilter durchdrangen, wirkungslos.

 

Gasangriff

 

Die Bevölkerung Calbes konnte über dieses grauenvolle Kapitel des Ersten Weltkrieges aus den Zeitungen nichts erfahren. Eisern wurde darüber geschwiegen, auch als der Gegner diese geächtete Waffe anwandte. Vor dem Chlorgasangriff bei Ypern wurde vom deutschen Generalstab am 21. April in der Presse an Spitzenposition verbreitet: „Unsere Feinde im Westen wie im Osten können im ehrlichen Kampf gegen uns nichts ausrichten. Deshalb greifen sie zu Geschossen mit giftiger und Ekel erregender Gaswirkung… Die gebührende Antwort bleibt ihnen unsere Heeresverwaltung natürlich nicht schuldig.“ (SLB vom 23.4.1915.) Eine deutliche Drohung, die den schwerwiegenden Bruch des Völkerrechtes am nächsten Tag vorbereitend rechtfertigen sollte. Nach dem englischen Protest gegen den Einsatz von Giftgas „entgegen allen Gesetzen zivilisierter Kriegführung“ ließ das Große Hauptquartier verbreiten, die deutschen Gasgeschosse seien bei weitem nicht so gefährlich wie die französischen, russischen und englischen. In infamer Weise wurde beim Gasblasen verharmlosend von „Rauchentwicklern“ gesprochen, die nicht gefährlicher als der Rauch eines Strohfeuers seien. „Da der erzeugte Rauch auch in dunkler Nacht deutlich wahrnehmbar ist, bleibt es jedem überlassen, sich seiner Einwirkung rechtzeitig zu entziehen.“ (SLB vom 25.4.1915.) Welch eine Verhöhnung der Tausende von schutzlosen Opfern. Das Ganze war im SLB unter der fetten Überschrift „Großer Sieg bei Ypern“ zu lesen. Nur einmal gab es einen Hinweis auf einen deutschen Einsatz von Giftgas, als eine amtliche Meldung veröffentlicht wurde, in der es perfide hieß, dass ein französischer Graben „heute Nacht gesäubert“ worden sei (vgl. SLZ vom 7.11.1915).

Beide Seiten hatten außerdem das Unterminieren entwickelt, um entscheidende Breschen in die Fronten zu schlagen, jedoch auch ohne Erfolg. Unter großen Mühen gruben Pioniere Hunderte von Metern lange Stollen bis unter die feindlichen Gräben, brachten dort Minen an, die dann über Drähte ferngezündet wurden und gewaltige Lücken rissen.

Die Menschen und Material verschlingenden Winterschlachten in der Champagne und in den Masuren hatten im Westen den Durchbruchsversuch der Franzosen stoppen und im Osten die russischen Truppen endgültig aus Ostpreußen zurückdrängen können. Im Mai verschaffte die Karpatenoffensive den Mittelmächten große Geländegewinne. Die drei großen Schlachten bei Ypern (belgisch: Ieper) brachten die dort verlaufende Front nicht ins Wanken. Die Verluste der Franzosen und der Deutschen waren gewaltig. Durch die Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn (Mai) und den Eintritt Bulgariens auf der Seite der Mittelmächte (Oktober) in den Krieg kam nur wenig Veränderung in die noch herrschende kräftemäßige Pattsituation der beiden gegnerischen Bündnisse. Auf Dauer aber schadete die Zunahme der Zahl der Kriegsschauplätze vor allem dem Deutschen Reich. Als im Oktober 1915 der deutsche Vormarsch im Osten zum Stillstand kam, begann auch hier in einer Frontlinie zwischen Riga und Rumänien der Stellungskrieg. Die vier Monate dauernde deutsche Offensive auf die starken Festungsanlagen von Verdun begann am 22. Februar 1916 und kostete die Franzosen Verluste von 350.000, die deutsche Seite von 330.000 Mann. Mit Verdun und dem eröffnenden achtstündigen Trommelfeuer aus 1500 deutschen Geschützrohren begann das Zeitalter der Materialschlachten, deren Ziel es war, durch einen Einsatz bis an den Rand der Erschöpfung der materiellen Reserven die entscheidenden Durchbruch zu erzwingen. Die Soldaten nannten die „Hölle von Verdun“ die „Blutpumpe“ und die alles vernichtende „Maasmühle“. Bis heute ist die Erde bei Verdun gespickt mit Überresten dieser Ausblutungs-Schlacht. Nach dem erfolglosen Angriff auf Verdun begann seit dem Sommer 1916 die Krise der Mittelmächte.

Soldaten aus Calbe waren an fast allen deutschen Kriegsschauplätzen eingesetzt. Auch im belgischen Ostende stationierte Seesoldaten waren unter ihnen (vgl. SLB vom 11.5.1915). In der Zeit des Stellungskrieges und der Materialschlachten ließ die Zahl der militärischen Auszeichnungen deutlich nach. Das lag aber nicht an der eventuell abnehmenden Courage unserer Soldaten, sondern an den nun entstandenen trostlosen Situationen. Wer wochenlang in einem schlammigen Granat-Trichterloch an seinem MG vor den Befestigungen von Verdun liegt, hat kaum Gelegenheit, ein EK zu erringen, obwohl er mehr Qualen aushält, als ein tollkühner Reiter, der im Bewegungskrieg die Feinde überrascht. Auffällig war, dass es vor allem die Offiziere aus Calbe waren, die EK-Ritter wurden, z. B. die Söhne des Amtmannes Kricheldorff (vgl. SLZ vom 1.1.1915) oder Generalmajor Georg Nicolai aus der Calbeschen Fabrikantenfamilie (vgl. SLZ vom 27.1.1915).

Für die  vielen tapferen Soldaten, die enttäuscht waren und sich schämten, kein Eisernes Kreuz bekommen zu haben, eigentlich aber für deren Familien, wurden in der SLZ tröstende Worte seitens des stellvertretenden Generalkommandos des 7. Armeekorps veröffentlicht: „Wie viele tapfere Krieger sind schon seit Monaten draußen und haben das Kreuz nicht erworben? Sind sie deshalb weniger gute Soldaten? Alle können es nicht haben… Hat der einzelne etwa stets Gelegenheit dazu wie der andere? Manchen, der tapfer dem Feinde die Stirn bietet, streckt gleich die erste Kugel nieder. Hätte er nicht sonst vielleicht auch das Kreuz verdient… Aber herabwürdigende Urteile über die, die das Kreuz nicht haben, sind grobe Taktlosigkeiten und zeugen von einer völligen Unkenntnis in derartigen Kreisen des Publikums…“(SLZ vom 25.4.1915.)

Die in der Calbeschen Presse veröffentlichte „Schützengraben-Poesie“ verstummte fast völlig, und wenn sie noch einmal auftauchte, dann drückte sie mehr die Sehnsucht nach zu Hause aus, als die dümmlich-primitive Begierde, den Franzmann totzuschlagen, wie das in den ersten Kriegstagen noch der Fall gewesen war. Heimat-Urlaub strich das „Generalkommando des 4.Armeekorps (Feld)“ vorerst generell (vgl. SLB vom 23.5.1915). Es herrschte in der Situation des Stellungskrieges, der Schlachten bei Ypern und der sich abzeichnenden Materialschlachten Mangel an Soldatennachschub, um gehörigen Druck auszuüben bzw., um dem Druck der Alliierten standhalten zu können. Nun wurden bereits die 45jährigen Landsturmleute für den Einsatz an der Front gemustert (vgl. SLB vom 27.4.1915). Auch die Ärmsten der Armen zog man jetzt ein. Großes Elend brachte der Tod des Häuslers (Dorfarmen) Friedrich Schmidt aus Chörau, der vor Ypern am 7. Mai als Ersatz-Reservist gefallen war, über dessen Familie. Das ganze Dorf kümmerte sich um die gramgebeugte Frau und die unmündigen Kinder (vgl. SLB vom 23.5.1915).

Feldpostbriefe wurden kaum noch veröffentlicht, die Familien wussten ohnehin weitestgehend über die Leiden ihrer Väter, Männer, Söhne und Brüder Bescheid. Um den Kampf „unserer ausharrenden Feldgrauen“ gegen das Ungeziefer zu unterstützen, wurde Läusepulver zum Versand an die Front angepriesen.

Noch immer bereitete man die 15- bis 20jährigen Calber Jungen in der Jungwehr auf ihre blutige Opferung in den Schlachten-Höllen vor, und noch immer fanden sich begeisterte junge Männer, die danach drängten, sich im „Stahlgewitter“ beweisen zu können, wenn auch der Zustrom zur Jungwehr in Calbe nachgelassen hatte und in der Zeitung für Nachwuchs geworben werden musste (vgl. SLB vom 1.5.1915). Ausdrücklich wies man hin „auf das heldenmütige Verhalten der jungen Mannschaften, deren Eingreifen oftmals den Sieg ermöglichte.“(SLZ vom 9.1.1915.) Am 28. November fand bei -10°C zwischen dem Wartenberg und Mühlingen eine Winterübung der Jungwehren aus Calbe, Mühlingen, Groß-Salze, Schönebeck, Barby und Magdeburg statt. Nach der Übung schätzte der Polizeipräsident von Magdeburg das Kampfgeschehen ein, wobei er sich sehr lobend über die Jungen äußerte. Danach marschierten die Kompanien in die Stadt ein, wo auf dem Markt die Magdeburger Jungwehrkapelle spielte. Auf dem Heeger begrüßte Bürgermeister Dr. Büttner die angetretenen Mannschaften. Im Parademarsch ging es dann durch die Stadt in verschiedene Lokale zum „einfachen, kräftigen Mittagessen“. Anschließend fand ein Umzug durch die Stadt zur „Reichskapelle“ statt, wo die Jungwehrkapelle ein Konzert veranstaltete. Mit einem Dank an die Veranstalter und einem dreifachen Hurra auf den Kaiser „und die siegreiche Armee“ wurde das Treffen geschlossen (vgl. SLB vom 30.11.1915).

Die allgemeine Stimmung in der Calbeschen Bevölkerung war aber trotz der Siege an der Ostfront eher gedrückt. Zwar kam es nicht zu Ausfällen in „gemeinen Worten gegen den Kaiser, die Generale“ und den Krieg wie bei einem Bürger in Frankfurt/Main (vgl. SLB vom 27.4.1915), der dafür zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden war, aber der Unmut über den Krieg kam hin und wieder in den Zeitungen Calbes in den seit Anfang 1915 veröffentlichten Nachrufen für Gefallene zum Ausdruck. So hieß es u. a. in der Todesanzeige für den Landwehrmann Kurt Meissner, dass der treu sorgende Vater, innigst geliebte Ehemann und herzensgute Sohn, Bruder, Onkel usw. als „Opfer des schrecklichen Weltkrieges“ gefallen sei, und es wurde gebeten, dass ihn die Erde Russlands sanft umschließen möge (vgl. SLZ vom 31.12.1915). Pömmelte meldete, dass in dem kleinen Ort 4 Männer „diesem Weltbrande zum Opfer gefallen“ seien (vgl. SLB vom 22.4.1915). Auch in den Todesanzeigen, in denen statt vom glorifizierten Heldentod ganz profan vom „Bauchschuss beim Sturmangriff in Russland“ oder vom Tod „im Feldlazarett an den Folgen eines Kopfschusses“ die Rede war, zeigen sich Ernüchterung und Verzweiflung der Hinterbliebenen, die meist nicht einmal die Stelle im fernen Land kannten, wo ihr geliebter Gefallener in fremder Erde lag. „Wann endlich hat ein Ende der schreckliche Krieg?“ riefen die Kollegen des Schiffervereins „Undine“ zwei  gefallenen Mitgliedern nach (vgl. SLB vom 24.11.1915). Als in Nienburg wegen der vermeintlichen deutschen Siege bei Ypern und der verbündeten Türken an den Dardanellen festlich geflaggt wurde (vgl. SLB vom 30.4.1915), unterblieb dergleichen in Calbe. Schulfrei bekamen aber die Kinder in Calbe nach dem Patt-„Sieg“ der deutschen Flotte im Skagerak am 31.Mai/1.Juni 1916 (vgl. SLB vom 4.6.1916). (Die deutsche Flotte hatte elf ihrer 110 Schlachtschiffe und 1 545 Soldaten, die Briten 14 ihrer 149 Schiffe und 6 274 Mann verloren. Nach dem Abdrehen der Flotten versuchten beide Seiten, ihren Völkern den mehr oder weniger unentschiedenen Kampf als Sieg zu „verkaufen“.) Die Bürger Calbes hatten wohl wegen der deutschen Sieg-Propaganda erwartet, dass nun die qualvolle Blockade durch weitere Vorstöße der deutschen Flotte beendet werden könnte. Erneute Angriffe vermied aber die kaiserliche Admiralität tunlichst. Dafür setzte sie erneut auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der ihr jedoch von der kaiserlichen Führung verboten wurde, weil es im März 1916 durch die Torpedierung des französischen Dampfers „Sussex“, der amerikanische Bürger an Bord hatte, wiederum zu einem Eklat mit den USA gekommen war. Noch war die Furcht vor einem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten größer als vor den Auswirkungen der Blockade. Laufend berichteten die Calbeschen Zeitungen unter der Rubrik „Unser U-Boot-Krieg“ 1916 aufgebauscht über die in Wahrheit unerheblichen Erfolge der deutschen U-Boote, um die Hoffnungen der Calbenser auf ein Ende der wirtschaftlichen Misere zu nähren.

Ein beispielloses Unternehmen war bereits 1915 in der neu gegründeten „Deutschen Ozean-Rhederei“ (DOR) durch den Großkaufmann A. Lohmann geplant worden. Handels-U-Boote sollten die dringend benötigten Rohstoffe aus den USA und anderen Ländern heranbringen, indem sie mit ihren Lasten einfach unter den Blockadeschiffen wegtauchten. Diese Fracht-U-Boote wurden von vornherein als zivile, unbewaffnete U-Boote konzipiert, damit sie den vollen völkerrechtlichen Schutz als Kauffahrteischiffe in Anspruch nehmen konnten. Im März 1916 lief die „Deutschland“ und im Juli die „Bremen“ vom Stapel. Während die letztere auf ihrer im August angetretenen Fahrt nach Übersee aus bis heute ungeklärtem Grund verloren ging, absolvierte Handels-U-Boot „Deutschland“ zwei viel beachtete und bejubelte Reisen in die USA und zurück nach Bremen. Das Fracht-Tauchboot besaß eine Tragfähigkeit von 750 Tonnen und fuhr auf dem Wasser 11,5 Knoten (21,3 km/h) und unter Wasser 7,7 Knoten (14,3 km/h). Die 30 Besatzungsmitglieder brachten synthetische Farbstoffe in hoch konzentrierter Form, deutsche Arzneimittel, wie z. B. ein nur in Deutschland hergestelltes, begehrtes Medikament gegen Kinderlähmung, und Diplomatenpost in die Vereinigten Staaten. Dafür bekamen sie Kautschuk, Nickel und Zinn, die in Deutschland dringend benötigt wurden und den Bedarf der deutschen Kriegsindustrie für mehrere Monate deckten. Von den bei der ersten Fahrt zurück gelegten 15.650 km (8.450 sm) musste U „Deutschland“ 351 km (190 sm) auf Tauchfahrt gehen, um besonders auf der Rückfahrt den 7 Entente-Kriegsschiffen zu entgehen, die dem Heldenboot auflauerten (vgl. König, Paul, Die Fahrt der Deutschland, Berlin 1916). Sowohl die Ankunft in Baltimore als auch die heile Rückkehr in Bremen gestalteten sich zu triumphalen Ereignissen, der Kaiser gratulierte, die Presse überschlug sich.

 

Der Held und Kapitän des Fracht-Tauchbootes, der in Deutschland über Nacht zum Star geworden war und es bis an sein Lebensende blieb, hieß Paul Leberecht König. Die Königs sind eine alte Calbesche Familie, die mindestens seit 1622 in unserer Stadt lebt (vgl. Reccius, Chronik, a. a. O., S. 53). Der Großvater des Helden war Brauer und Lohgerber (nach: Taufregister St. Stephani 1829, S. 115, Nr. 39.) der Vater Pfarrer und Rektor in Calbe gewesen. Wegen einer schweren Erkrankung des Vaters musste die Familie nach Thüringen ziehen, wo Paul König 1867 geboren wurde. Als der Junge vier Jahre alt war, starb der Vater. Die Mutter zog mit den drei Kindern nach Gnadau zwischen Schönebeck und Calbe. Mit 11 Jahren verlor Paul auch seine Mutter, die 1878 der Tuberkulose zum Opfer fiel. Da war er schon 2 Jahre Zögling in den „Frankeschen Stiftungen“ Halle, denn er sollte wie sein Vater Pfarrer werden. Mit 16 Jahren riss er jedoch nach Bremen aus und wurde Schiffsjunge bei der Handelsmarine. 1894 legte der begabte junge Mann die Prüfung als „Schiffer für große Fahrt“ ab und wurde zwei Jahre später vom Norddeutschen Lloyd als Offizier eingestellt. 1901 heiratete Paul König eine Engländerin, mit der er zwei Kinder hatte. 1911 wurde er Kapitän auf zwei Handelsschiffen, im Ersten Weltkrieg aber durch die Seeblockade wieder arbeitslos. König wurde eingezogen und 1. Offizier auf einem Kriegsschiff. Als er von dem Vorhaben erfuhr, ein U-Boot als Handelsschiff auszurüsten, bewarb er sich sogleich als Kapitän des ersten Unterwasser-Frachtschiffes „Deutschland“. In vier Monaten wurde er in einem Blitz-Kursus in die ihm unbekannte U-Boot-Technik eingewiesen, suchte sich eine 29köpfige Mannschaft aus, die nun ebenfalls in kürzester Zeit ausgebildet werden musste, und lief mit ihr am 20. Juni 1916 nach Baltimore aus, wo sie am 9. Juli, auch von den Amerikanern enthusiastisch gefeiert, eintrafen. Die Helden-Crew fuhr als zivile Seeleute. Königs kurze Militärdienst-Zeit als Offizier eines Kriegsschiffes wurde geheim gehalten und aus den Akten getilgt. Von seiner Heldentat erfuhr seine Frau erst aus den Zeitungen und konnte die Nachricht nicht glauben, weil ihr Paul doch nie etwas mit U-Booten zu tun gehabt hatte. Als die USA 1917 in den Krieg eintraten (s. unten), wurden die Handels-Tauchfahrten hinfällig, und aus der „Deutschland“ wurde unter einem anderen Kommandanten das U 155.  Bis zu seinem Tod 1933 und darüber hinaus blieb Paul König der „Held von U Deutschland“. Auf dem Friedhof in Gnadau findet man sein Grab.

Solche engagierten Taten wie die Paul Königs und seiner 29 Männer konnten die Seeblockade nicht oder nur geringfügig entschärfen. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands verschlechterte sich weiter.

 

Nach acht Monaten Krieg hieß es in einem redaktionellen Artikel mit dem Titel „Bluttaumel“: “Wie eine durch keine Dämme und Deiche aufzuhaltende Flut breitet das Blutmeer sich über die Welt aus, die wir bis vor kurzem die zivilisierte zu nennen gewohnt waren.“ Der Krieg, der, nachdem er entfesselt worden war, fatalistisch wie eine Naturgewalt angesehen wurde, hatte sich seuchenartig über die christliche und nichtchristliche Welt ausgebreitet. „Aber der Blutrausch ist nun einmal entfesselt, und so muß die Zerfleischung der Völker ihren Fortgang nehmen. Grauenhaft die geschichtliche Verantwortung derjenigen, die zu dieser kriegerischen Wendung der Dinge den Anstoß gegeben haben.“ (SLB vom 11.5.1915). Dass das Deutsche Kaiserreich mit den Kriegserklärungen an Russland und Frankreich sowie mit dem Einmarsch ins neutrale Belgien einen wesentlichen Anstoß zu diesem Weltgemetzel gegeben hatte, wurde geflissentlich ignoriert. Durch die Propaganda gespeist, sahen sich auch die Calbenser als Opfer einer Verschwörung der Feinde Deutschlands.

Beim Jahresrückblick auf 1915 schätzte die Redaktion ein, dass die Deutschen sich in diesem Jahr wiederum wacker behauptet und auf die Gebietsgewinne stolz sein könnten, wenn auch die Menschen-Verluste und die wirtschaftliche Not schwer auf Deutschland lasteten. Vom Hunger- und Wirtschaftskriege erhofften sich die Gegner wohl das, was ihre Waffen nicht erreichten. „Deutschland weiß es besser, weiß, daß die wirtschaftliche Not wie jede Kriegsnot überwindbar ist um des Sieges willen, weiß, daß den in siebzehn Monaten immer siegreichen Armeen auch der letzte Sieg nicht fehlen kann, der die Gegner zwingt, den für Deutschland ruhmreichen Frieden als ihr verdientes Schicksal endlich anzuerkennen.“ (SLB vom 1.1.1916). Der Redakteur des SLB träumte also immer noch davon, dass die Deutschen lediglich einen grandiosen Sieg erringen müssten, um endlich den Frieden zu bekommen - eine völlig irreale Einschätzung der militärischen Bedingungen in einem Weltkrieg wie diesem, in dem die Alliierten tatsächlich auf ein wirtschaftliches „Ausbluten“ Deutschlands hinarbeiteten - eine Strategie, die sich in der Folge als wirksam erweisen sollte.

Die enorm hohen Verluste, die Stellungskrieg und Materialschlachten mit sich brachten, ließen auch die Zahlen von Vermissten und Invaliden in die Höhe schnellen. Besonders rückte die „Fürsorge für Kriegsbeschädigte, die in letzter Zeit weite Kreise unseres Volkes so lebhaft bewegt“, in den Vordergrund. So wurde in der preußischen Provinz Sachsen, also auch in unserem Territorium, im Sommer 1915 eine staatliche Fürsorge-Organisation ins Leben gerufen, die im laufenden Jahr 50.000 Mark bewilligt bekam, mit der Maßgabe, dass sich auch die Landesversicherungs-Anstalt und der Provinzialverein des Roten Kreises mit entsprechenden Beträgen beteiligten (vgl. SLB vom 28.4.1915).

In dem Artikel „Unsere Kriegsinvaliden“ schrieb ein Mitarbeiter des SLB: „Die hochstehende Technik und Wissenschaft unserer Zeit weiß nicht nur in dem jetzt tobenden fürchterlichsten aller Kriege, dem mit Recht so benannten ,Maschinenkrieg’, schwerste Wunden zu schlagen, sondern sie weiß sie auch zu heilen und, was noch mehr des Fortschritts gegen frühere Epochen besagen will, sie findet auch Wege, den im Kriege Verstümmelten das segensreiche Gut der Menschheit, die Arbeit in einem Friedensberuf, zu sichern.“ Der Stelzfuß werde wohl nach dem Kriege nicht mehr in den Straßen zu sehen sein (eine Annahme, die tatsächlich aber nicht für die Ärmsten galt - D. H. St.), dafür gäbe es derzeit künstliche Beine, ebenso wie die technisch hochentwickelten künstlichen Arme. Für die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben existierten Einrichtungen, die Umschulungs-Kurse anboten, z. B. das Umlernen im Hantieren und Schreiben von der rechten auf die linke Hand. Das traurigste Kapitel in der “Kriegskrüppelfürsorge“ sei aber die Betreuung der Kriegsblinden“. Die Fortschritte in der Blindenschulung und -technik (Blindenschrift und Blindenbücher) machten es möglich, dass sie nicht mehr ihr Brot als Korbflechter, sondern auch in allen möglichen Berufen, besonders im Kunsthandwerk verdienen könnten (vgl. SLB vom 25.4.1915).

In einem Vortrag des Direktors der Pfeifferschen Anstalten Magdeburg-Krakau wurde auch herausgestellt, dass es nicht allein eine humane Tat sei, den Verstümmelten zu helfen. Die 30.000 „Kriegsverstümmelten“ (bis zum April 1915 - D. H. St.) würden für den Staat einen jährlichen Verlust von einer Milliarde Mark bedeuten, überließe man sie ihrem Schicksal. Deshalb sei eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess auch im Interesse aller. Nach dem Kriege 1870/71 mussten sich die Kriegskrüppel meist bettelnd ihren Unterhalt verschaffen. Es sei nun Aufgabe der früheren Arbeitgeber, des Heeres und der Kommunen, dass die Verstümmelten angemessene Arbeitsplätze möglichst in ihrem alten Bereich erhielten. Zum Beispiel könne ein verstümmelter Schrankenwärter Bahnsteigschaffner werden (vgl. SLZ vom 30.4.1915). Das Kriegsbekleidungsamt Magdeburg stellte „Kriegsverletzte aller Art“ als Schuhmacher und Schneider ein, gab den in Frage Kommenden Unterkunft, guten Verdienst und die Versicherung, sie auch im Frieden weiter zu beschäftigen (vgl. SLB vom 20.11.1915). Künstler und Laien gestalteten mehrere Wohltätigkeits-Veranstaltungen in der „Reichskapelle“ und im Hohendorfer Busch, deren Erlöse der Kriegsinvaliden-Organisation zugute kamen.

Das Schicksal der Kriegsblinden beschäftigte auch in Calbe die Menschen stark, trotz der eigenen Not sammelten sie für die Unterstützung der Kriegsbinden-Organisation (vgl. SLB vom 25.3.1915). Dass die Erblindung im Feld meist auf Einwirkung chemischer Waffen zurückzuführen war, wurde in der Calbeschen Presse auch weiterhin schamhaft verschwiegen.

Ein weiteres schlimmes Kapitel der Kriegsauswirkungen war die hohe Anzahl von Vermissten. Auch in Calbe gab es Hunderte von Angehörigen, die nicht wussten, in welchem Lazarett die eventuell verwundeten Soldaten lagen, in welchem Lager sich potentielle deutsche Gefangene befanden bzw. ob diese überhaupt noch lebten. Die Zahl der Vermissten in den anwachsenden Verlustlisten für den Kreis Calbe wuchs unaufhörlich. Die Angehörigen erhielten, wenn ein Soldat nach längerer Zeit z. B. nach einem Sturmangriff nicht wieder in seiner Abteilung auftauchte und kein Kamerad seinen Tod bestätigen konnte, die Nachricht vom Zugführer, dass er als vermisst anzusehen sei. In ganz seltenen Fällen tauchten bei dieser zwangsläufig oberflächlichen Art der Todesfeststellung sogar als tot Gemeldete wieder auf. Ein solches „Wunder“ erlebte eine Familie aus Schwarz bei Calbe. „Ein Kriegsfreiwilliger von dort wurde nach einem Kampf an der Weichsel vermißt. Sein Kamerad meldete dies den Eltern, und wenige Tage erfahren sie von demselben Kameraden und dem betr. Feldwebel, daß der junge Kriegsfreiwillige tot aufgefunden sei. Ihm sei ein Grab bereitet und ein Holzkreuz mit Namen gesetzt. Tiefe Trauer entstand in der betreffenden Familie um den lieben Gefallenen. Vor wenigen Tagen ist nun eine Karte von dem angeblich Gefallenen bei den Eltern eingetroffen, worauf ihnen von dem Sohne mitgeteilt wird, daß er sich seit dem Gefecht Ende Juni in russischer Gefangenschaft befindet. Nun hat sich die Freudenbotschaft schnell verbreitet, und die Tränen sind abermals bei den Eltern, jetzt aber vor Freude, geflossen.“ (SLZ vom 14.8.1915.) Diese Geschichte machte den vielen Angehörigen, die noch im Ungewissen über das Schicksal ihrer Soldaten waren, und sogar denen, die schon eine Todesnachricht erhalten hatten, schwache Hoffnung; aus diesem Grunde wurde sie auch, um ein größeres Publikum zu erreichen, im „Magdeburger Generalanzeiger“ gedruckt. Tatsächlich aber waren viele der Kämpfer, die man als vermisst gemeldet hatte, gefallen.

In Calbe waren 1915 108 Gefallene zu beklagen (vgl. Verzeichnis der im Feindesland und in der Heimat verstorbenen Krieger, a. a. O.). Ein Soldat war in der Heimat auf dem Ausbildungsgelände in Altengrabow ums Leben gekommen. Von diesen 108 toten Soldaten wurden 7 auf dem Calber Krieger-Friedhof beerdigt (vgl. ebenda), d. h. 91% blieben in fremder Erde. Rechnet man die in dieser Zahl noch nicht enthaltenen Vermissten dazu, die nachträglich als tot erkannt wurden, kommt man auf ca. 95%. Mit anderen Worten: 95 von 100 gefallenen Calbensern hatten ein meist unbekanntes Grab in fremder Erde.

Ein Soldat war in der Heimat auf dem Ausbildungsgelände in Altengrabow ums Leben gekommen. Von diesen 65 toten Soldaten wurden 7 auf dem Calber Krieger-Friedhof beerdigt (vgl. ebenda), d. h. 91% blieben in fremder Erde. Rechnet man die in dieser Zahl noch nicht enthaltenen Vermissten dazu, die nachträglich als tot erkannt wurden, kommt man auf ca. 95%. Mit anderen Worten: 95 von 100 gefallenen Calbensern hatten ein meist unbekanntes Grab in fremder Erde.

Angesichts des immer deprimierender wirkenden Kriegsgeschehens gab es keine Festlichkeiten in Calbe mehr, außer den ernsten Kirchenfeiern. Weihnachten wurde dem „Ernst der furchtbaren Zeit" (SLZ vom 31.12.1915) entsprechend gefeiert, und Silvester ging es still zu. Faschingsfeiern waren 1915 verboten; stattdessen wurden Sühnetage zur Erflehung des Friedens angeordnet (vgl. SLZ vom 9.1.1915). Das Wort „Frieden“ war seit Beginn des Jahres 1915 immer stärker im Gebrauch. Noch war es die Sehnsucht nach dem „Siegfrieden“, aber seit 1916 kam auch ein potentieller „Verständigungsfrieden“ ins Gespräch.

Mit dem Herbst 1915, als die langen Tage und damit das verstärkte Grübeln der Heimgebliebenen über das Schicksal ihrer Frontsoldaten begannen, kamen auch wieder die fremden Schauspielertruppen in die „Reichskapelle“, um den Mut der Heimatfront aufzufrischen. Bezeichnenderweise beglückten sie die Calbenser nicht nur mit Schwänken wie „Die schöne Holländerin“, sondern auch mit dem pathetischen Stück „Wenn die Friedensglocken läuten“ (vgl. SLZ vom 11.10. und 7.11.1915). Ebenfalls in der überfüllten „Reichskapelle“ fand am 15. Dezember 1915 ein Familienabend des Evangelischen Vereins mit Gesang und Vorträgen von Pfarrern über Kriegsverlauf und Kriegsschauplätze statt.

Auch eines der wichtigsten Feste im Leben der Menschen bekam den grauen Stempel des Kriegsalltags aufgedrückt. Eheschließungen waren nun größtenteils Kriegstrauungen. 1915 wurden in der St.-Stephani-Kirche von 34 Brautpaaren 23 kriegsgetraut (68%).

Wie war die wirtschaftliche Situation in Calbe während der zweiten Etappe des Ersten Weltkrieges?

1915 wurde die bislang prosperierende Grube „Alfred“ geschlossen und 260 Bergleute wurden arbeitslos, was Hunger und Not für ca. 1000 Menschen in Calbe und der Umgebung bedeutete. Die Legende entstand, der Besitzer, Hugo Sholto Oskar Georg Graf von Douglas (vgl. Abschn. 7), habe als Angehöriger eines alten schottisch-schwedischen Geschlechtes die Schließung der Grube aus politischen Gründen angeordnet. In Wahrheit war der Graf da schon 3 Jahre tot, und die Aufgabe der Grube durch die Douglassche Familien-Verwaltung geschah aus Rentabilitätsgründen. Frisch erschlossene Tagebaue bei Bitterfeld-Gräfenhainichen, zu deren Abraumbeseitigung die neuesten Dampfbagger und reichlich vorhandene Kriegsgefangene eingesetzt wurden, arbeiteten bedeutend kostengünstiger, um die in der Halle-Merseburger Chemieindustrie dringend benötigte Braunkohle zu fördern. Außerdem wurden die Nachfolger des großindustriellen Grafen nicht mehr mit den immer stärkeren Wassereinbrüchen fertig. Die Nachkommen zogen sich aus dem Bergbaugeschäft zurück, verkauften die Gruben und Anlagen und teilten den erheblichen Erlös unter sich auf.

Die Preise stiegen für Bekleidung und alle Lebensmittel, insbesondere für Fleisch, Butter, Fisch, Getreide, Kartoffeln, Bier usw. unaufhörlich weiter. Die staatlichen Höchstpreise wurden laufend überschritten; Händler rebellierten, und man drohte ihnen verschärfte Strafen an. Brot, Kartoffeln, Milch, Wolle, Hülsenfrüchte, Petroleum, Spirituosen u. a. mussten rationiert werden. Schüler setzten sich zum Schularbeitenmachen unter Straßenlaternen, um Petroleum zu sparen (vgl. SLZ vom 22.1.1915). Um ihren Hunger zu stillen, überboten einige Leute die von den Händlern geforderten staatlichen Höchstpreise und trieben so die illegalen Preise selbst in die Höhe (vgl. SLB vom 30.6.1916).

Die notwendig gewordene Rationierung brachte die Einführung von Lebensmittelkarten (Brotkarte bzw. Brotbuch, Fleisch- und Fettkarte). Wer nicht pünktlich zum festgelegten Termin der monatlichen Ausgabe erschien, erhielt keine überlebensnotwendigen Karten. Der Fleischverkauf fand an festgesetzten Tagen in der Woche in bestimmten für die Straßen zuständigen Verkaufsstellen nach Einwohnerlisten statt (vgl. SLB vom 1. u. 15.7.1916). Experten sagten voraus, dass bei dem derzeitigen Tiefstand der deutschen Wirtschaft die Lebensmittelkarten auch in Friedenszeiten noch einige Zeit bestehen bleiben würden (vgl. SLZ vom 20.11.1915); wie wir wissen: eine richtige Prognose. Ab 1. August 1916 sollte auch die Kleiderbezugskarte eingeführt werden. Das führte dazu, dass die Konfektions- und Stoffhändler ihre vorrätigen Sachen den Einwohnern noch zu sehr günstigen Preisen anboten, um nicht durch die Rationierungen auf ihren Waren sitzen zu bleiben (vgl. SLB vom 6.7.1916)

Weil das Halten von Schweinen zu viel Futter, insbesondere für die Front dringend benötigte Getreidevorräte, verschlang, wurde ein Schlachtverbot erteilt. Dafür wurde nun mehr Freibank- und Pferdefleisch angeboten. Um weiteres Fleisch zu beschaffen, setzte man staatlicherseits die Schonzeiten des Wildes herab.

Im Februar 1916 ging die Reichsregierung auch noch einen anderen Weg. Man konnte für den Staat bis zum 31. August Schweine mästen und bekam zu diesem Zweck pro Schwein 5 Zentner Futter. Für die Provinz Sachsen war so die Mästung von 400.000 Schweinen vorgesehen. Die gemästeten Tiere wurden mit dem derzeit staatlich festgelegten Höchstpreis für Schweinefleisch vergütet. Bei Nichterreichung des Mindestgewichtes von 112,5kg hatte der Mäster eine Konventionalstrafe von 100 Mark zu zahlen. Bei Erreichung von Gewichten ab 115,5 bis 135kg winkte eine Zusatzprämie von 10 Mark. Wer ein noch höheres Schweinegewicht erzielte, bekam 15 Mark zusätzlich (vgl. SLB vom 26.2.1916). Wie viele Calbenser von diesem Angebot Gebrauch machten, ist nicht bekannt.

Die Weihnachtsbäckerei musste seit 1915 ebenfalls verboten werden, um Butter und Fett zu sparen. Aus dem gleichen Grund gab es auch ein generelles Schlagsahne-Verbot (vgl. SLZ vom 12.9.1915). Da der Verbrauch an Kraftfahrzeugen, besonders der neu entwickelten Lastkraftwagen, an der Front rapide anstieg, musste seit 1916 auch die Benutzung von Fahrrad-Gummibereifung stark eingeschränkt, später sogar verboten werden (vgl. SLB vom 18.6.1916). Die Seeblockade hatte Deutschland auch von der Kautschukzufuhr abgeschnitten, und synthetischer Kautschuk war damals noch unbrauchbar. Die Radfahrer zogen Ersatzreifen aus Stahlspiralen auf.

Man ging dazu über, die Vorräte an Mehl und Getreide, Spinnstoffen, Zucker, Tee, Kaffee, Kakao usw. zu erfassen, um die Kriegswirtschaft besser planen und die Beschlagnahmungen gezielter einsetzen zu können. Außerdem hatte 1915 eine schwere Missernte das Reich getroffen (s. unten). Konfisziert wurden u. a. die deutsche Schafschur 1914/15, Baumwolle, Getreide und Mehl. 1916 beschlagnahmte man bei den Calber Bauern bereits die Zwiebeln (vgl. SLB vom 27.2.1916). Bei der Lebensmitteleintreibung musste auch Zwang angewendet werden (vgl. SLZ vom 28.1.1915). Geschäftsleute wurden vom Magistrat vor der Zurückhaltung von Lebensmitteln gewarnt, Hamsterern schwere Strafen angedroht (vgl. SLB vom 26.2. u. 3.6.1916) Alle Bestände an Salpeterstickstoff, Glycerin, Schwefel, Chlor usw. zog der Staat ein. Die Buntmetall- und Silber-Abgabe beruhte noch auf „freiwilliger“ Basis.

Ein großer Teil der Wissenschaftler war vorwiegend damit beschäftigt, den Mangel durch Ersatzstoffe zu kompensieren: K-Brot (s. oben) erhielt einen Kartoffelzusatz; Hafer musste im Verhältnis 6:1 durch Zucker, der in der Calber Gegend reichlich vorhanden war, gestreckt werden; Mehl wurde mit Stärke versetzt; Petroleum-Ersatz kam in den Handel; Ölseife trat an die Stelle der unparfümierten braunen Seife. In der Presse wurde den Hausfrauen mitgeteilt, wie man „Kriegsbutter“ herstellen konnte, nämlich, indem man Butter und Milch erhitzte, unter Salzzusatz  verrührte und das Ganze erstarren ließ. Dadurch erzielte man eine Streckung bis zu 100% (vgl. SLZ vom 24.10.1915). Dr. Oetker bot den Müttern für ihre Babys sein „Gustin“ statt des englischen „Mondamin“ an. Als Ersatz für die Petroleum-Lampen, die trotz elektrischer Beleuchtung immer noch stark im Gebrauch waren, kamen Spiritus-Kriegs-Brenner auf den Markt. Statt Schokolade sollte man Kandiszucker als Nervennahrung zu sich nehmen. Das wurde auch für Frontsoldaten empfohlen (vgl. SLZ vom 31.12.1915).

Aber auch bei den Ersatzstoffen versuchten sich Betrüger an der Not der Bevölkerung zu bereichern. Untaugliche und gefährliche Streck- und Ersatzstoffe wurden in die Lebensmittel gemischt, so dass der Bundesrat mit mehreren Verordnungen gegen diese verbrecherischen Täuschungen vorgehen musste (vgl. SLB vom 30.6.1916).

Die vom neutralen Schweden kommenden Holz- und Zelluloselieferungen reichten bald nicht mehr aus, anstelle der fehlenden Baumwolle den ungeheuren Bedarf für die Schießpulvererzeugung zu decken. Deshalb sollte man die Streichholzschachteln sammeln, denn  seit Sommer 1915 gab es die Zündhölzer nur noch lose (vgl. SLZ vom 19.2.1915). Auch die Abgabe von Lumpen wurde angeordnet (vgl. SLB vom 7.7.1916)

Eine nützliche Aufforderung war es, Sonnenblumen und Rüben als Viehfutter anzubauen. Wer diesem Gebot folgte, tat gut, denn bald schon brauchte man die Steck-Rüben für die menschliche Ernährung.

Der Sommer und Herbst 1915 brachte die erste große Missernte in Deutschland während des Krieges. „Die Roggen- und Weizenernte des Jahres 1815 war… um volle 4 Millionen geringer als die des letzten Friedensjahres… auf den Kopf der Bevölkerung 123 Pfund weniger! Dazu kam der Ausfall an Futtermitteln…  [37 - 40% Verluste bei Hafer und Sommergerste, 20% bei Heu – D. H. St.] Wir hatten keinerlei nennenswerte Einfuhr, weder in Brotgetreide noch in Futtermitteln, wir hatten dagegen schwere Ernteausfälle, die für die vier Hauptgetreidearten Weizen, Roggen, Gerste und Hafer… 279 Pfund auf den Kopf der Bevölkerung betrugen… Das deutsche Volk aber darf für sich in Anspruch nehmen, dass es durch Selbstüberwindung und durch Selbstzucht, durch die mit bewunderungswürdiger Geduld ertragenen Entbehrungen und Erschwerungen der Ernährung Größeres geleistet hat, als die Bevölkerung irgend eines anderen der kriegführenden Staaten.“ (SLB vom 4.6.1916.) Der redaktionelle Mitarbeiter meinte, dass die Ernte 1916 besser ausfallen werde; aber das blieb illusorisch. Die Meldungen über einen zu kalten und zu nassen Sommer 1916 verhießen nichts Gutes. Im Juni lag die Schneegrenze bei 1000 Metern (vgl. SLB vom 18.6.1916). Schon zu Beginn des Sommers 1916 wurde eine „Reichskartoffel-Stelle“ für die Versorgung im Winter eingerichtet (vgl. SLB vom 18.6.1916). Als dieses wichtige Nahrungsmittel wegen der nässe- und kältebedingten Kartoffelfäule zu 50% ausfiel und als Substitut die Steckrübe auf Lebensmittelmarken ausgegeben werden musste, kam es zum schlimmen Hunger-Winter 1916/17, der als „Kohlrübenwinter“ in der Geschichtsliteratur und in der Erinnerung der Menschen traurige Berühmtheit erlangte (s. unten).

Wiederholt wurden in der Calbeschen Presse Ratschläge für eine günstige, vitaminreiche Ersatzernährung (Wiesenkräuter u. dgl.) gegeben (vgl. SLB vom 7.7.1916). Jeder Küchenabfall müsste als Viehfutter verwertet werden, so hieß es noch 1915. Blutabfälle, z. B. aus den Schlachthöfen, sollten, mit Mehl verrührt, zum Backen benutzt oder zum Kochen von Blutsuppen und Hafergrützen verwendet werden, um den Eiweißmangel zu kompensieren. Vom Schälen der Kartoffeln wurde abgeraten, ebenso vom Wässern und Einweichen von Hülsenfrüchten u. ä. Man riet, das Einweichwasser auf alle Fälle zum Garkochen zu verwenden. 1916 sollten Küchenabfälle dann schon für die menschliche Ernährung verwertet werden, und es wurde angeregt, auf den abgeernteten Feldern die Kornreste zu sammeln (vgl. SLB vom 30.6. u. 7.7.1916) Zum Anlegen von Konserven wurde geraten (vgl. SLB, Beilage vom 28.4.1915). Dazu sollte das neue Weck-Verfahren („Einwecken“) in Gläsern genutzt werden (vgl. SLZ vom 23.1.1915).

Auch auf den Wert von richtigem Fasten, einem vergessenen alten Brauch, verwiesen die Redakteure (vgl. SLZ vom 19.2.1915). Besonders wurden die Hausfrauen gelobt, die trotz des Mangels in der Heimat in ihrer Küche Wunder vollbrachten. In einem umfangreichen Artikel unter der Überschrift „Wie unsere Frauen mitkämpfen – Häuslicher Kriegsdienst“ wurde nicht etwa einer Emanzipation die Lanze gebrochen, im Gegenteil. Anders als in England und Frankreich, wo Suffragetten und weibliche Soldaten von sich reden machten, sehe die deutsche Frau im Haushalt und im Pflegebereich ihre Domäne, wo sie Hervorragendes vollbringe. Die „Anpassung der Hausfrau, die für die Siegeshoffnungen ebenso wichtig ist wie die charitative Hilfe für die Kämpfer und für die vom Kriegselend getroffenen minderbegüterten Volksgenossen“, sei ein Garant, „um dem mit Aushungerung drohenden Feind diese Waffe aus der Hand zu winden und somit den Sieg für uns zu sichern. Zu diesem Werke ist in erster Linie die Hausfrau berufen.“ (SLB, Beilage vom 28.4.1915.)

Wie sich die 1915 von Hindenburg angeregten Bundesratsverordnungen zur Lebensmittelbeschränkung auswirkten, hatte eine hessische Frau in einem Gedicht festgehalten, welches die Redaktion den Calbensern am Heiligen Abend 1915 nicht vorenthalten wollte:

 

„Montags koch’ man ohne Fett
Dienstags fleischlos (auch ganz nett),
Mittwochs kann man alles essen
Donnerstags das Fett vergessen!
Freitags gibt’s ein Fischgericht,
Schweinefleisch am Sonnabend nicht,
Sonntags hat man endlich Ruh –
Denn da sind die Läden zu!“

 

Diebereien aller Art, besonders die so genannten Felddiebstähle, nahmen drastisch zu (vgl. SLB vom 15.7.1916). So verurteilte man u. a. eine Frau aus Calbe zu einer Woche Gefängnis, weil sie Kartoffeln entwendet hatte (vgl. SLZ vom 30.11.1915). Auch Zwiebeldiebstähle aus Feldscheunen und Entwendung von Federvieh aus den privaten Ställen wurden häufiger gemeldet (vgl. SLB vom 30.6.1916). Zur zusätzlichen Bestrafung von ertappten Dieben wendete man außerdem den Entzug der Lebensmittelkarte an (vgl. SLB vom 15.7.1916), eine der empfindlichsten Strafen.

Der Calber Gemüse-Händler („Produktenhändler“) Assmann wies in einem Presseartikel darauf hin, dass es wegen des Ausfalls ägyptischer und belgischer Importe dringend notwendig sei, Frühkartoffeln, Gurken und Zwiebeln selbst anzubauen. Natürlich bot er den notwendigen Samen auch gleich selbst an (vgl. SLB vom 1.1..1916).

Es ist wenig bekannt, dass bis zum ersten Weltkrieg „der Zwiebelbedarf… in hohem Maße im Auslande gedeckt“ wurde (vgl. SLZ vom 23.1.1915), und es ist wohl eine der wenigen positiven Errungenschaften im Gefolge des Krieges, dass der noch umfangreichere Anbau von Zwiebeln und Gurken um Calbe herum durch die Versuche zur Linderung des Mangels in Gang gekommen ist. Ein Gewinn für die Zukunft war auch die deswegen vom Staat geförderte Selbstversorgung der Städter, hier der Calbenser, durch Anlegen von so genannten Schrebergärten (Kleingartenanlagen). Wiederholt stellte man in der Presse die Mitglieder des Schrebergartenvereins an der Salzer Chaussee (heute Salzer Straße) als vorbildliche Selbstversorger dar. Aus dieser Kleingartenanlage wurde später die Siedlung „Am Hänsgenhoch“. Hier lernten die weniger bemittelten Einwohner, die keine Ackerbreite besaßen, auf einem kleinen Stück Land intensiv Nahrungsmittel, vorwiegend Gemüse, für den Eigenbedarf zu produzieren.

Auch die Erklärung des Reichskanzlers Bethmann Hollweg in der Presse, er werde die Ernährungsfrage selbst in die Hand nehmen (vgl. SLZ vom 24.10.1915), konnte kaum Hoffnung aufkommen lassen. Wegen der bedrückenden Lage an den Fronten gewährte man den Soldaten auch keinen Heimaturlaub mehr, in dem sie bei der landwirtschaftlichen Arbeit helfen konnten (s. oben). Nun mussten vermehrt Kriegsgefangene, „militärfreie ältere“ Männer und die Schuljugend zur Mithilfe in der maroden Wirtschaft herangezogen werden.

Kriegsgefangene, insbesondere russische, standen reichlich zur Verfügung. Sie wurden auch auf die Haushalte verteilt, in denen es kaum männliche Arbeitskräfte gab. Hier aber und bei Einsätzen in der Feldarbeit, wo eine totale Beaufsichtigung nicht immer gewährleistet war, ergaben sich günstige Gelegenheiten zur Flucht (vgl. SLB vom 17.6.1916). Es kam auch vor, dass ein russischer Gefangener aus einer Calbeschen Familie geflohen war (vgl. SLB vom 15.6.1916). Andere russische (auch französische) Gefangene wurden in der Chemischen Fabrik Calbe (vgl. SLB vom 23.5.1915), in der Zuckerfabrik, der Saline Schönebeck (vgl. SLZ vom 19.5.1915) usw. zur Arbeit eingesetzt. Französische Gefangene durften auch an den Messen in der katholischen Kirche teilnehmen (vgl. SLB vom 25.1.1916), die russischen wohl deshalb nicht, weil es in Calbe keine Gottesdienste nach russisch-orthodoxem Ritus gab.

Frauen brachen nun, abgesehen von ihrer weit verbreiteten, aufopferungsvollen Tätigkeit als „Freiwillige Laien-Krankenschwestern“ [Laien = nicht kirchlich – D. H. St.], im Verlauf des Krieges immer mehr in die beruflichen Domänen von Männern ein. Aus Dessau wurde gemeldet, dass Ehefrauen von Straßenbahnschaffnern die Funktion ihrer eingezogenen Männer übernommen hatten. Auch bei der Eisenbahn gab es deshalb immer mehr Schaffnerinnen. Da sie die Dienstmützen der Männer trugen, waren sie verpflichtet, ihre vorgesetzten männlichen Kollegen militärisch zu grüßen, was zu Reibereien führte, weil sie das angeblich zu nachlässig taten (vgl. SLZ vom 25.4.1915). Für die Frauen hatte der „Männerberuf“ gleichzeitig den Vorteil, dass sie in den Genuss der Eisenbahner-Lohnzulagen (vgl. SLZ vom 20.11.1915) kamen.

Je mehr die Calbenserinnen wohl oder übel die Tätigkeiten ihrer Männer übernehmen mussten, den Hof und/oder den Handwerksbetrieb mehr oder weniger gut über den Krieg brachten bzw. Ladengeschäfte führten und in öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Büros u. a.) arbeiteten, desto mehr verflog der Nimbus von der „göttlichen Rolle der Frau“. Das war ein Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung.

Schüler wurden fast überall, ihrem Alter entsprechend, eingesetzt: in Zuckerfabriken, auf den Feldern, beim Gummi- und Buntmetall-Sammeln (s. oben) usw. Es fiel so viel Unterricht aus, dass die Schüler bei Kriegsende realiter nicht 8, sondern nur 6 Klassen besucht hatten (vgl. Klamm, a. a. O.). Von den rund 100.000 Lehrern, die im Deutschen Reich vor dem Krieg unterrichtet hatten, waren 40.000 im Krieg, 5000 waren im ersten halben Jahr gefallen und 5000 verwundet (vgl. SLZ vom 28.1.1915). Das bedeutete auch für Calbe, dass rund 40% der alten Lehrkräfte für die Unterrichtung der Schuljugend fehlten. So viele ausgebildete weibliche Lehrkräfte standen nicht als Ersatz zur Verfügung, weil man auf keinen Fall mit einer solchen Kriegsdauer gerechnet hatte. Auch die Lehrlingsausbildung war nicht mehr gewährleistet, weil so viele Meister durch den Krieg nicht mehr zur Verfügung standen (vgl. SLZ vom 1.1.1915).

Ein Ergebnis davon war, dass Jugenddelikte, „gefährlicher Unfug“ und Zusammenrottungen der Heranwachsenden zunahmen (vgl. SLB vom 25.1. und 27.2.1916).

Ein besonders trauriges Kapitel war die hohe Kindersterblichkeit, die in den ersten Monaten des Krieges alarmierend zugenommen hatte. Deutschlandweit stieg sie um 50%. „Für die Zukunft unseres Volkes hängt unendliches davon ab, daß von den Kindern in den ersten Lebensjahren nicht so viele wegsterben… Hier in der r i c h t i g e n Weise zu helfen, ist etwas Großes und Schönes.“ (vgl. SLZ vom 14.1.1915.) Es betraf besonders die Bedürftigen, die breite Schicht der Minderbemittelten.

1915 waren in der Stephanigemeinde, die rund 60% der Einwohner von Calbe umfasste, 149 Kinder (davon 4 tot) geboren worden. In diesem Jahr starben in der Gemeinde als Säuglinge (0 – 1 Jahr) 42, als Kleinkinder (2 – 6 J.) 30, als Schulkinder (7 – 14 J.) 12 Kinder (vgl. SLZ vom 4.1.1916), d. h. bis zum 6. Lebensjahr mehr als die Hälfte (51%), bezogen auf die Geburtenziffer.

Bei 231 (einschließlich der Gefallenen) 1915 Gestorbenen bedeutete eine Geburtenziffer von 149 (3 Tote auf 2 Neugeborene) eine demografische Katastrophe.

 

Im Oktober 1916 musste die Oberste Heeresleitung auch die letzten bescheidenen Bodengewinne vor Verdun wieder aufgeben, die erste große Materialschlacht hatte „außer“ Hunderttausenden von Toten, Verwundeten und Vermissten, unter denen auch viele Soldaten aus Calbe und Umgebung waren, nichts gebracht.

Inzwischen eröffneten die Engländer und Franzosen im Juli eine noch größere Offensive an der Somme auf einer Breite von 70 bis 80km mit einer erdrückenden vierfachen Übermacht an Artillerie, der dreifachen Luftüberlegenheit und der doppelten Anzahl von Menschen. Erstmals kamen dabei auch Tanks in größerer Menge zum Einsatz. Das Grabensystem der deutschen Linien wurde in dem massiven Trommelfeuer der Alliierten auf einer Länge von 40km weitestgehend vernichtet - „weggetrommelt“, wie sich der Calber „Stadt- und Landbote“ entsetzt ausdrückte (vgl. SLB vom 28.12.1916). Die Soldaten mussten nun in den Geschosstrichtern liegen. Das war zwar gefechtstaktisch von einigem Vorteil, für die Männer aber mit noch größeren Strapazen verbunden. Essen und Nachschub blieben häufiger aus, die Kampfmoral sank rapide. „Man begreift nicht, wie die Deutschen es in  dieser Hölle aushalten konnten“, hieß es in der Calber Presse (vgl. SLB vom 6.7.1916). Vom Gaseinsatz der Franzosen wurde wiederholt berichtet, nicht aber von dem der Deutschen.

Die Schlacht an der Somme, die bis dahin größte Materialschlacht, brachte auch für die Entente nicht den erhofften Durchbruch, weil die Deutschen unter Aufbietung all ihrer Reserven und durch Umverteilung der Kräfte standhalten konnten und ihre Stellungen seit Anfang 1917 bis in die gut befestigte und ausgebaute "Siegfriedlinie" zurück verlegten. Die Sommeschlacht lief im Frühjahr 1917 aus. Sie hatte bei den Alliierten zu Verlusten von 756 000, bei den Deutschen von 500 000 Mann geführt. Zwar waren die Defizite der Alliierten höher, aber diese verfügten über größere Reserven an Menschen und Material, während die Deutschen die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hatten. Nun wurden in Calbe die bisherigen Zurückstellungen aufgehoben (vgl. SLB vom 24.12.1916). Bereits im Sommer 1916 hatte man auch schon die Fünfzigjährigen gemustert (vgl. SLBvom 14.7.1916). Überdies suchte man 15jährige Freiwillige für die Unteroffiziersschule (vgl. SLZ vom 15.11.1917).

Das massenhafte Sperrfeuerschießen ließ den Granatenbedarf drastisch in die Höhe schnellen. Mehrere Tausend verschlissener und zerstörter Geschütze, die für solche extremen Belastungen nicht konstruiert waren, mussten ersetzt werden. Das konnte die deutsche Rüstungsindustrie kaum noch leisten. Menschen fehlten nicht nur an den Fronten, um die erschöpften Mannschaften austauschen zu können, sondern auch in den Munitionsfabriken. Die Heimat sollte in dieser bedrohlichen Situation zur Nutzung der letzten Reserven auf den "totalen Krieg" umgestellt werden, was im Sprachgebrauch von 1916 das "Gesetz für den vaterländischen Hilfsdienst" hieß (vgl. SLB vom 22.11. und 31.12.1916). Um die "Leistungen der Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft... zu einem Höchstmaß" zu steigern, wurden alle geistig und körperlich befähigten "hilfsdienstpflichtigen Personen" in unserem Gebiet aufgefordert, sich für die wirtschaftlichen Brennpunkte, z. B. in der Rüstungsindustrie und im Verkehrswesen, freiwillig dem "stellvertretenden Generalkommando des VI. Armeekorps, Magdeburg, Abt. IIb Fabriken" zur Verfügung zu stellen und nicht der drastischen Anwendung des Gesetzes, "das im Arbeitszwange gipfelt, entgegenzusehen" (vgl. ebenda). Auch in der Calber Presse ging man ungeschönt darauf ein, dass im Deutschen Reich nun die Militärdiktatur immer mehr Fuß fasste, und man erhoffte sich davon eine Wende zu Gunsten eines deutschen Endsieges.

Durch dieses Hilfsdienstgesetz kam es zu einer erneuten Welle des Eindringens von Frauen in die bisherige Arbeitswelt der Männer. Frauen, besonders jüngere, arbeiteten nicht nur in den Rüstungsbetrieben in Schönebeck und Magdeburg, sondern besetzten nun auch „Büroposten“, z. B. als Buchhalterinnen in Banken (vgl. SLB vom 8.11.1917). Auch Mädchen und Frauen aus der Oberschicht wurden als „hilfsdienstpflichtige Personen“ zur Arbeit in den Rüstungsfabriken verpflichtet (vgl. SLZ vom 13.9.1917). Für Frauen aus den Unterschichten konnte die Arbeit in den Rüstungsbetrieben das Überleben der Kinder sichern, denn auch die weiblichen Rüstungsarbeiter erhielten die Schwerstarbeiterzulagen (vgl. SLB vom 16.11.1916).

Die zunehmende erzwungene Berufstätigkeit der Frauen führte in Calbe zur Einrichtung einer Kinderkrippe (Säuglingskrippe) im Schwesternheim in der Magdeburger Straße – heute das Gebäude der Dr.-Loewe-Apotheke (vgl. SLZ vom 19.7.1917 und SLB vom 8.11.1017).

Wegen der erschöpften Reserven ließ sich die deutsche Militärführung erneut auf ein gefährliches Vabanquespiel ein: Sie ging im Februar 1917 zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg im Sperrgebiet um Großbritannien und im Mittelmeer über. Täglich berichtete nun die Calber Presse über die „Erfolge“ der deutschen U-Boote bei der Versenkung alliierter Schiffe und über den Umfang der vernichteten Bruttoregistertonnen in der Rubrik „Unser U-Boot-Krieg“. Bei den Lesern musste der Eindruck entstehen, dass die Entente-Staaten schwer geschädigt wurden, in Wahrheit aber waren deren Verluste insgesamt unerheblich.

Der erneute totale U-Boot-Krieg der Deutschen bewogen die USA andererseits nun endgültig, dem Deutschen Kaiserreich im April den Krieg zu erklären. Im Juni landete in einem symbolischen Akt die erste amerikanische Division (ca. 27.000 Mann) in der Bretagne. Auch als Ende 1917 vier USA-Divisionen in Frankreich standen, konnten diese nicht unmittelbar in den Kampf eingreifen, sondern mussten erst umfassend auf ihren Einsatz in der Materialschlachten-Hölle vorbereitet werden. Viel wichtiger war die materielle Unterstützung der alliierten Länder durch die USA, die damals schon militärtechnisch auf hohem Niveau standen. Das brachte eine weitere Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten der Entente.

Auch der Verbündete Deutschlands, Österreich-Ungarn, war durch die s. g. Brussilow-Offensive im Früh-Sommer 1916 an der Südostfront in eine bedrohliche Situation geraten. Außerdem verschlechterten der Kriegseintritt Rumäniens auf Seiten der Entente und die Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich im August 1916 die Lage der Mittelmächte. Immer stärker wirkte sich die Frontenvielzahl verhängnisvoll für Deutschland aus.

Die oktroyierte Gründung des von Russland losgelösten Königreiches Polen im November 1916 führte nicht zum erhofften Kriegseintritt des neuen Staates an der Seite der Mittelmächte. Auch durch die Februarrevolution 1917 in Russland kam es zu keiner Entspannung der verzweifelten Lage des Vierbundes, denn die bürgerlichen Regierungen Lwow und Kerenski übernahmen das zaristische Erbe und standen voll zur Bündnistreue gegenüber der Entente. Nicht nur im russischen Volk äußerte sich nun immer stärker der Unwille über die Fortführung des Krieges, auch bei den Franzosen, Italienern und Deutschen sowie in der Habsburger Monarchie kam es 1917 zu Protestaktionen der "Heimatfront", zu Streiks und Hungerunruhen sowie zu Meutereien der Matrosen und Soldaten, ausgelöst durch Enttäuschung, Erschöpfung und Friedenssehnsucht (vgl. SLZ vom 6.7., 19.7., 10.8. 21.8., 23.9.1917). Auch in unserer Heimat äußerte sich Unmut über die Kriegszwangswirtschaft, der auch zaghaft in der Presse zugegeben wurde (vgl. SLB vom 22.10.1916). Sozialistische Agitationen in den Dörfern um Calbe gegen Krieg  und Kriegsanleihen wurden in altbewährter Weise dubiosen Entente-Agenten in die Schuhe geschoben (vgl. SLZ vom 16.10.1917). Wie sehr auch die deutsche Armee bereits vom Bazillus der Kriegsmüdigkeit ergriffen war, merkten die Calbenser, als zwei ihrer Hilfsgendarmen einen deutschen Deserteur festnahmen, der von einem Truppentransport nach Flandern entwichen war und sich in der Calber Gegend versteckt gehalten hatte (vgl. SLZ vom 13.11.1917).

Zwar hatten die Mittelmächte durch den militärischen Zusammenbruch Rumäniens Ende 1916 und der italienischen Isonzo-Front im Oktober 1917 Erfolge zu verzeichnen, aber neue Kriegsgegner waren inzwischen hinzugekommen, im Juni Griechenland und im August China (Kriegserklärung an Österreich-Ungarn).

Erst die bolschewistische Revolution im November 1917 und der Friedensvertrag mit Russland zu Beginn des Jahres 1918 brachte für die Mittelmächte die schon lange erhoffte Entspannung an der Ostfront. Die deutsche Führung hatte den linken Umsturz in Russland indirekt durch die Genehmigung der ungehinderten Durchreise Lenins und einiger seiner Kampfgefährten durch Reichsterritorium gefördert, was auch in der Calber Presse unumwunden herausgestellt wurde (vgl. SLB vom 26.11.1917).

Die Entente reagierte auf den vertragswidrigen Ausstieg Russlands mit dem Einmarsch ihrer Interventionstruppen, unter denen die leidgeprüfte, nach Frieden dürstende russische Bevölkerung weiterhin zu leiden hatte.

Schon seit der Februarrevolution, ganz besonders aber seit der Oktoberrevolution nahmen die Ereignisse in Russland einen beachtlichen Raum in der Berichterstattung der Calber Presse ein, während die Frontmeldungen auf weniger als eine Spalte schrumpften. Die Biografien der Bolschewiki-Führer, die Verhältnisse in der bürgerlichen Regierung und in der Umsturzpartei, die Leiden des russischen Volkes und seine Sehnsucht nach Frieden, besonders aber die Forderungen der Linken nach Frieden und Brot wurden in der Calber Presse umfangreich dargestellt und besprochen. Die deutschen Hoffnungen, die auf eine Beendigung des Krieges im Osten gerichtet waren, erfüllten sich durch das bolschewistische Friedensangebot „An alle, an alle!“ (vgl. SLB vom 9.11.1917). So konnte man am Jahresende 1917 wegen der Beendigung des Krieges an der Russlandfront, der Verluste der Italiener und der „Erfolge“ der deutschen U-Boot-Waffe optimistisch verkünden: „Sieg und Erfolg allenthalben bei den Waffen Deutschlands und seiner Verbündeten im Jahre 1917… Mit Zuversicht treten wir in den neuen Zeitabschnitt. Wollen die Feinde es 1918 auf neue Kraftproben ankommen lassen – wohlan, wir sind bereit. Bereit wie zum Frieden so zur Abschüttelung und Zerschmetterung jedes Angreifers…“ (vgl. SLB vom 29.12.1917).

Wenn die Feinde nicht in einen „Frieden ohne Sieger“ einwilligen wollten – so die trotzige Schlussfolgerung -, sah sich Deutschland gezwungen, den Krieg unter Aufbietung aller Kräfte bis zum siegreichen Ende zu führen.

Während rechtsnationale deutsche Kräfte weiterhin in unrealistischer und abenteuerlicher Weise auf einen "Siegfrieden" setzten, sprachen sich seit 1916 immer mehr Parlamentarier von links bis zum Zentrum für einen vom US-Präsidenten Wilson angeregten und vom Papst in mehreren Noten unterstützten "Verständigungsfrieden" aus. Das hatte schließlich dazu geführt, dass die Mittelmächte unter Deutschlands Führung im Dezember 1916 ein Friedensangebot an die Alliierten richteten, das aber von diesen abgelehnt wurde. Nun hofften die Deutschen nach dem Ausscheiden Russlands und der veränderten Frontenlage erneut auf ein Einlenken der Alliierten und einen für die Mittelmächte günstigen Frieden.

Um die Bevölkerung in ihrer Hoffnung auf Frieden zu stärken, wurden auch Wunder bemüht. Die s. g. Friedenspappel von Fehmarn hatte 1916 erstmals seit dem Kriegsende 1871 im Sommer geblüht, was als Zeichen für baldigen Frieden ausgelegt wurde (vgl. SLB vom 7.7.1916). Militärexperten erklärten den staunenden Zeitungslesern, wie eine Demobilisierung, also die Rückführung in den Friedenszustand, vor sich gehe (vgl. SLB vom 9.11.1917). Der Mindest-Anspruch Deutschlands auf einen Verständigungsfrieden wurde 1917 durch Artikel geltend gemacht, in denen die bisherigen Geländegewinne der Mittelmächte gegen die der Alliierten aufgewogen wurden (vgl. u. a. „Wer ist Sieger?“, SLB vom 6.8.1916). Dass aber auch ein Siegfrieden durchaus möglich sei, sollte eine Serie verdeutlichen, in der täglich mit Hilfe von Grafiken und Diagrammen an ausgesuchten Beispielen auf die teils erhebliche Überlegenheit der deutschen Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft usw. gegenüber den Gegnerländern hingewiesen wurde (vgl. SLZ vom 30.8.1917 ff.). Jedoch bezogen sich diese Propaganda-Statistiken auf die Friedenszeit, und es wurde einfach verschwiegen, dass die deutschen Reserven aufgebraucht waren. Zumindest wurde damit aber der Stolz auf das große Erbe wieder wachgerufen und der Durchhaltewille gestärkt.

Insgesamt hatte die propagandistische Beeinflussung in der dritten Etappe des Krieges erheblich nachgelassen. Neben einigen Militärkonzerten (u. a. im Bürgergarten), die gleichzeitig als Wohltätigkeitsveranstaltungen für Krieger und Krankenschwestern ausgewiesen waren, und einigen Rezitationsabenden zur Weihnachtszeit gab es keine Theateraufführungen mit patriotischem Hau-Ruck-Pathos mehr. Ein Gastspiel des Wiener Johann-Strauß-Operettentheaters im Deutschen Kaiser (vgl. SLZ vom 23.9.1917) war der gehobenen, angenehmen Unterhaltung verpflichtet. Ablenkung vom elenden, feldgrauen Alltag stand nun im Vordergrund, was auch an den Fronten durch Einsatz von Kino-Korps gefördert wurde (vgl. SLB vom 23.7.1916).

In der gesamten deutschen Presse erschienen 1917 – wahrscheinlich staatlich angeregt - Aufrufe, keine Jammerbriefe an die Front zu schicken, um die Soldaten nicht zu demoralisieren. Auch in den Calber Zeitungen wurden dick umrahmte Sprüche abgedruckt wie dieser:

Ruf von der Front!

Nur jetzt nicht mehr klagen!

Nur jetzt stumm und stolz die Nägel ins Fleisch gegraben!

Mein Haus mag leer und kalt und allen, allen Prunks entladen sein –

Aber deutsch muß es sein!“ (vgl. SLZ vom 7.12.1917)

Um die Soldaten von ihrem blutigen und tristen Dasein abzulenken, wurden für sie im Namen Hindenburgs Bücher mit unterhaltendem Inhalt bzw. Geld für den Bücherkauf bei der Bevölkerung gesammelt (vgl. SLZ vom 3.7.1917), und noch immer spendeten die Calbenser die „Weihnachtsliebesgaben“ (vgl. SLZ vom 6.11.1917), auch wenn sie selber kaum noch etwas zum Überleben besaßen. Immerhin kamen 1917 unter der Regie des Evangelischen Frauenvereins ca. 1000 Weihnachtspakete aus Calbe zum Versand an die „ärmsten Soldaten“ (vgl. SLZ vom 19. und 21.11.1917). Zur Unterstützung der aufopferungsvollen Arbeit der Lazarettschwestern ergingen ebenfalls Spendenaufrufe (vgl. SLB vom 8.11.1917). Kurz vor Weihnachten 1917 lief eine Haus-Sammlung zur Unterstützung von Hinterbliebenen der Gefallenen (vgl. SLZ vom 14.12.1917). All diese Spendenaktionen bedeuteten eine große Belastung der verarmten Bevölkerung, zumal nebenher noch die Zeichnung der bereits 7. Kriegsanleihe (s. unten) lief.

Ein bezeichnendes Licht auf die Haltung der Bürger von Calbe in dieser Zeit wirft die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an den Durchhalte-Feldmarschall Hindenburg nicht durch die Kreisstadt Calbe, sondern durch die rivalisierende, stark gewachsene Nachbarstadt Schönebeck (vgl. SLZ vom 28.11.1917). Dieser Vorgang ist symptomatisch für die zurückhaltend-liberale Gesinnung der calbischen Bürger, die sich auch in den späteren Zeiten des nationalsozialistischen Regimes nicht so weit rechts postierten wie die Schönebecker. Übrigens wurde das Ereignis in der Calber „Stadt- und Landzeitung“ nur mit 7 Zeilen erwähnt.

Stattdessen tat sich Calbe und sein Verschönerungsverein (wie das die Calber Presse sah) durch einen Akt der Toleranz gegenüber dem feindlichen Frankreich hervor. Der Fabrikant und Vorsitzende des Verschönerungsvereins, Major d. Res. Hans Nicolai, hatte 1917 das verfallende Erbbegräbnis der für Calbe bedeutenden französischen Emigranten- und Tuchmacherfamilie Tournier (s. Kapitel 1680 bis 1815) auf dem Lorenzfriedhof restaurieren und eine Gedenkinschrift anbringen lassen. „So wird... der Nachwelt vor Augen geführt, daß wir in den schwersten Zeiten,… mitten in den Kriegsnöten des Weltkrieges, tolerantes Denken und Handeln nicht verloren.“ (SLZ 5.7.1917) Die Hugenotten-Familien Tournier aus Frankreich und Nicolai aus der Pfalz waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Begründer der calbischen Tuchindustrie gewesen. Auch der Lutherstein wurde vom Verschönerungsverein 1917 anlässlich des 400. Jubiläums des Reformationsbeginns auf dem gleichen Friedhof errichtet.

1916 war wiederum eine schlechte Ernte eingefahren worden, besonders der Mangel an Kartoffeln führte im Winter zu Hungersnöten. Kühle und feuchte Witterung im Sommer hatte das massenhafte Auftreten des s. g. Netzschorfes begünstigt. Stattdessen waren bei diesen Wetterbedingungen die ursprünglich als Viehfutter angebaute Kohl-, Steck- oder Krautrübe und die Wasserrübe umso besser gediehen. Nun musste besonders die Kohlrübe als menschliche Ersatznahrung herhalten, und es kam zum historischen „Kohlrübenwinter“ 1916/17.

In diesem Winter sah der Speiseplan der Masse der Calber Einwohner so aus:

Kohlrübensuppe, Kohlrübenauflauf, Kohlrübenkoteletts, Kohlrübenpudding, Kohlrübenmarmelade usw.

In der Calber Presse wurde dazu eine kleine Geschichte kolportiert: In einer calbischen Familie traten Durchfall und Erbrechen auf. Die kleine Tochter des Hauses wurde schleunigst zur Apotheke geschickt, um s. g. Cholera-Tropfen zu besorgen. Das Kind hatte aber den fremden Namen noch nicht gehört und missverstanden. Nun verlangte sie in der Apotheke: „Einmal Kohlrübentropfen bitte!“ (vgl. SLB vom 25.10.1917). Diese galgenhumorige Episode war, abgesehen von den bissigen Karikaturzeichnungen über die Gegner, weit und breit der einzige Anflug von Heiterkeit in der Calber Presse.

Auch als die Kartoffelversorgung 1917 wieder etwas besser wurde, kaufte der Feldfrucht-Großhändler Paul Assmann weiterhin jede Menge Kohlrüben auf (vgl. SLB vom 18.10.1917). Die Kartoffeln reichten ohnehin nicht aus, und als Ergänzungsnahrung musste die Kohlrübe auch künftig dienen. Neue Schrebergärten auf dem Land der St.-Stephani-Gemeinde wurden angelegt, aus denen sich die „kleinen Leute“ mit überlebensnotwendigen Früchten selbst versorgen konnten (vgl. SLZ vom 13.11.1917).

Vor Freibank- und Pferdefleischereien standen die Calbenser Schlange, um durch minderwertiges oder unübliches Fleisch ihren Bedarf an tierischem Fett und Eiweiß wenigstens in geringem Maße zu decken. Empfindlich machte sich 1917 – wohlgemerkt in einer Gegend der in Friedenszeiten nicht unerheblichen Rüben-Zuckerproduktion – ein gravierender Zuckermangel bemerkbar (vgl. SLZ vom 11.7.1917). Dringlich wurden per Zeitungsinserate laufend Zuckerrübenköpfe zu kaufen gesucht, einige Menschen wollten sich wohl auch selbst Zuckersirup kochen. Gemüse- und Obstkonservierung für den Winter in „Einweck“-Gläsern war nahezu unmöglich geworden, weil es keine Dichtungsringe aus echtem Gummi mehr gab (vgl. SLZ vom 25.8.1917). Heute lächerlich wirkend, damals aber durchaus nicht ohne Sinn, beschäftigten sich Zeitungsartikel mit der Bedeutung des ausgiebigen Kauens bei der effektiven Ausnutzung der letzten Nahrungsreserven, das lange Kauen wurde als „patriotische Tat“ herausgestellt (vgl. SLZ vom 22.10.1917 Beil.).

Überall machte sich Personalmangel bemerkbar. Der zivile Eisenbahnverkehr musste stark eingeschränkt werden, weil viele Eisenbahner des technischen Personals im Bereich der Fronten eingesetzt waren (vgl. SLB vom 31.12.1916). Am schwerwiegendsten wirkte sich aber der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft aus. Deshalb setzte man verstärkt Kriegsgefangene ein, die jedoch auf den Feldern intensiv durch berittene Aufseher-Kordons bewacht werden mussten (vgl. SLZ vom 27.7.1917), da im vierten Kriegsjahr besonders durch die russischen Revolutionen die Fluchtbestrebungen der Männer, die in ihre Heimat zurück wollten, zugenommen hatten. Kriegsgefangene, die in wichtigen Produktionszweigen arbeiteten, waren ebenso versorgungsberechtigt wie deutsche Arbeiter. Wütende Proteste hungernder Deutscher gab es, als sie beobachteten, dass ein starker Russe von seinem Calber Bauern mit Leberwurststullen gefüttert wurde (vgl. SLZ vom 19.7.1917). Fraternisierung war streng verboten. Eine Arbeiterin in einer Bernburger Fabrik, die mit einem Kriegsgefangenen beim Geschlechtsverkehr erwischt wurde, musste das mit drei Monaten Gefängnis büßen (vgl. ebenda). Als französische Gefangene immer öfter Sabotageakte verübten, wusste sich die staatlich-militärische Führung nicht anders zu helfen, als bei Schädigung der Wirtschaft durch Kriegsgefangene die Todesstrafe zu verhängen.

Inzwischen wurde bei der Zivilbevölkerung so gut wie alles - vom Papiergarn bis zu Heizkörpern und Honigbeständen - erfasst und beschlagnahmt. Die Calbenser sollten ihr noch vorhandenes Gold und alle nicht dringend benötigte Kleidung abgeben. Anzüge musste man sich bei Bedarf stundenweise aus einschlägigen Geschäften ausleihen (vgl. SLZ vom 11.7.1917). Die Goldablieferung der Calbenser im Wert von 4500 Mark bei 12000 Einwohnern erschien den Behörden entschieden zu gering (vgl. SLB vom 3.11.1916). Dafür war man mit der Zeichnung der ein Jahr lang laufenden 7. Kriegsanleihe, besonders durch die Bauern-Genossenschaften, sehr zufrieden  (vgl. SLZ vom 21.10. und 10.11.1917). Der Kauf einer solchen Anleihe, zu der auch Schüler angeregt wurden, bedeutete eine Kreditgewährung für die Regierung durch die Bevölkerung.

Der Tabakmangel führte dazu, dass Kirschbäume reihenweise stark geschädigt wurden, weil sie von Rauchern völlig entlaubt worden waren (vgl. SLZ vom 19.7.1917), denn Kirschblätter waren ein beliebter Tabakersatz.

Die einzige noch verbliebene, die größte Glocke wurde unter Trauerbekundungen der Calber Bevölkerung am 30.6.1917 um 12.15Uhr vom Südturm der St.-Stephani-Kirche gehievt, zum Bahnhof Calbe-West transportiert  und von dort in die Eifel zum Einschmelzen gebracht, um daraus weiteres, dringend benötigtes Kriegsmaterial herzustellen (vgl. SLZ vom 2.7.1917).

Am 12. 11. 1916 erschien in der Beilage des SLB der Artikel „Was wird aus mir? Die Frage des deutschen Mittelstandes?“, in dem der damals bekannte linksliberale Autor Ludwig Eschwege mit schonungsloser Offenheit klarmachte, dass der Krieg nur der maßlosen Bereicherung der Konzerne gedient, die „Schicht der Millionäre kaninchenhaft vermehrt“, den Mittelstand aber durch die katastrophale Wirtschaftslage und die erdrückende „Konkurrenz des durch den Krieg noch mächtiger gewordenen Großunternehmertums“ scharenweise ruiniert habe. Auch die Arbeiterschaft besitze eine gute Chance, sich nach dem Krieg eine neue Existenz einzurichten, da sie beim Wiederaufbau der Wirtschaft benötigt werde, aber die bankrotten kleinen Gewerbetreibenden hätten aus Gründen des Kapitalmangels kaum noch eine Möglichkeit, ein neues wirtschaftliches Dasein aufzubauen. Tatsächlich wurden in Calbe in und nach dem Krieg viele kleine Betriebe und Läden insolvent. Die ruinierten Kleinbürger verstärkten nun die Reihen der Arbeiterschaft, aber auch die Selbstmordrate stieg 1917 weiter an.

Die immer größer werdende Not führte zu einem erschreckenden Ausmaß der Nahrungs-Beschaffungskriminalität. Diebstähle und Betrügereien aller Art nahmen rapide zu.

Um die Massen-Felddiebstähle einzudämmen, wurde ein Jahr Gefängnis über jeden verhängt, den man eine Stunde nach Sonnenuntergang in den Calber Feldmarken antraf (vgl. SLZ vom 5.7.1917). Schiffer klauten Kohle, Drescher ließen Getreide verschwinden und Einbrecher holten sich Zucker aus der Zuckerfabrik oder Kohl aus Gemüsefabriken usw. usw. Illegal wurden Lebensmittelkarten gedruckt, und Hochstapler ergaunerten sich im Stil des Hauptmanns von Köpenick Lebensmittel. Wucher jeglicher Art nahm zu, das Kriegswucher-Amt schien machtlos zu sein.

Hunger und Elend unter der Zivilbevölkerung führten auch zur Ausbreitung gefährlicher Krankheiten wie Ruhr, Tuberkulose und Diphtherie. Allein in der Woche vor Weihnachten 1916 erkrankten 25 Menschen im Kreis an Scharlach, Diphtherie, Lungen- und Kehlkopftuberkulose, von denen in diesem Zeitraum 5 starben. Sechs der Erkrankungsmeldungen kamen aus Calbe, hier gab es in dieser Woche einen Diphtherie- und einen Tuberkulose-Todesfall (vgl. SLB vom 28.12.1916). In der zweiten Juliwoche 1917 wütete in Groß- und Klein-Rosenburg die Ruhr, der besonders Kinder zum Opfer fielen ((vgl. SLZ vom 19.7.1917).

1917 waren in der Stephanigemeinde, die rund 60% der Einwohner von Calbe umfasste, 79 Kinder geboren worden. Das bedeutete einen Geburtenrückgang gegenüber 1915 (- für 1916 liegen derzeit keine diesbezüglichen Daten vor -) um 47%. 1917 starben in der Gemeinde als Säuglinge (0 – 1 Jahr) 17, als Kleinkinder (2 – 6 J.) 12, als Schulkinder (7 – 14 J.) 9 Kinder (vgl. SLZ vom 3.1.1918), d. h. bis zum 6. Lebensjahr 36%, bezogen auf die Geburtenziffer.

Das deutete zwar auf einen Rückgang der Sterblichkeit der 0 bis 6jährigen (bezogen auf die Geburten) in den letzten zwei Jahren hin, der wohl auf die staatlich bewirkte verbesserte Betreuung und Versorgung der kleinen Kinder zurückzuführen war, gleichzeitig hatte sich aber die relative Sterbezahl bei den Schulkindern von 8,3% auf 11,4% erhöht. Bei 154 (einschließlich der Gefallenen) 1917 Gestorbenen bedeutete aber eine Geburtenziffer von 79 (2 Tote auf 1 Neugeborenes) eine noch größere demografische Katastrophe als zwei Jahre zuvor (s. oben).

Calbe trauerte 1916 um 70 und 1917 um 73 Gefallene (vgl. Verzeichnis der im Feindesland und in der Heimat verstorbenen Krieger, a. a. O.).

 

Rechnet man die Zahl 86 der bis Anfang November 1918 getöteten Calber Soldaten auf 12 Monate hoch, so kommt man auf eine etwa gleich hohe Gefallenen-Quote wie im Jahr 1915, dem Jahr des beginnenden Stellungskrieges und der Menschen verschlingenden Materialschlachten.

Das hängt damit zusammen, dass 1918 das Jahr der Entscheidung werden sollte und von beiden Kriegsparteien noch einmal alles Verfügbare an Menschen und Material in die Wagschale geworfen wurde.

 

Das Jahr 1918 begann für die Calbenser, wie 1917 aufgehört hatte: Die kaiserliche Militärregierung zog weiterhin das noch in der Heimat Vorhandene ein, um in einem letzten Vorstoß im Westen das Blatt wenden zu können. Vom Milchvieh und von Menschenhaaren bis zur Wäsche und Oberbekleidung mussten die Menschen alles, was entbehrlich und verwertbar war, abliefern. Dabei wurden sie immer wieder daran erinnert, welche gewaltigen Opfer ihre Soldaten brachten. Wer nicht seinen letzten Goldschmuck abgeben wollte, wurde mittels massiver Propaganda zum Schmarotzer abgestempelt (vgl. SLZ vom 26.1. ff.). In der 8. und 9. Kriegsanleihe brachte der Kreis Calbe 1918 noch einmal beachtliche Geldsummen auf.

Die Ersatzstoffwirtschaft trieb immer bizarrere Blüten: Den erstaunten Lesern wurde mitgeteilt, dass Eicheln und Kastanien für die Nahrungsmittel- und Seifenherstellung benötigt und die Backwaren mit Fichtennadeln gestreckt würden. Als Seifen- und Handtuchersatz sollte Sägemehl dienen. Um die Eierproduktion zu fördern, galt es, für die Hühner möglichst viele Fliegen zu fangen. Kleidungsstücke wurden nun immer mehr aus Papier und Brennnesselfasern hergestellt. Anstelle mit teuer gewordenen Ziegelsteinen führte man Bauarbeiten wieder mit Lehm aus. Das Vieh sollte mit Schilfrohr gefüttert werden; und da man die Zootiere in Magdeburg nicht mehr ernähren konnte, musste eine ganze Reihe von Notschlachtungen durchgeführt werden. Sie kamen u. a. auch die Calbenser in den "Genuss" von Elefantenwurst (vgl. SLZ vom 13.1., 25.1., 29.3., 4.4., 22.5., 17.7., 16.8. und 8.10.1918). Die Hungerkriminalität betraf immer mehr Frauen und Jugendliche (vgl.  u. a. 1.2., 3.3., 15.3. und 28.5. 1918). Einige Frauen der weniger besitzenden Unterschichten, deren Männer eingezogen waren, versuchten - oft mit Hilfe ihrer halbwüchsigen Kinder - durch Betrügereien und Diebstähle den zermürbenden Hunger zu bekämpfen. Die Jugendkriminalität war (nicht nur) in unserem Gebiet erschreckend angestiegen. Sie hatte sich zwischen 1914 und 1917 verachtfacht. In einer Zeitungsmeldung hieß es:  "Das Amtsgericht Halle hat im Jahre 1914 237 Anklagen gegen Jugendliche erhoben, diese stiegen schon 1917 bis 1.920, auch sind in zahlreichen Gemeinden schulpflichtige Kinder bestraft worden." (SLZ vom 10.6.1918.) Die permanente Furcht vor Dieben führte zu Überreaktionen. Ein Kriegsgefangenen-Aufseher aus Calbe, der einen Dienstrevolver besaß, schoss im Dunkeln ein vierzehnjähriges Mädchen nieder, das er für einen Einbrecher gehalten hatte (vgl. 10.4.1918).

Seit dem dritten Kriegsjahr ließen das patriotische Hochgefühl und die Aktivitäten der Frauenhilfsvereine deutlich nach, 1918 waren sie kaum noch zu spüren. Lediglich bei praktischer Überlebenshilfe traten diese Gesellschaften noch in Erscheinung. Der einstmals stolze "Vaterländische Frauenverein" z. B. bot nun Kurse zur Selbstreparatur von Schuhen an (vgl. SLZ vom 2.2.1918). Das war wohl auch von existentieller Bedeutung, denn die auf Bezugsscheine erhältlichen Schuhe, Kriegsstiefel genannt, waren von solch minderwertiger Qualität, dass sie wütende Proteste hervorriefen (vgl. SLZ 28.5.1918). Mit schwarzgalligem Humor nannten die Calbenser die Menschenschlangen, die sich vor den Ausgabe-Stellen bildeten, wenn es einmal etwas Überlebensnotwendiges gab, "Polonäsen" (vgl. ebenda).

Noch nie seit 1914 seien die Bedingungen für die Frühjahrsbestellungen so schlecht gewesen wie 1918, hieß es in der calbischen Kreispresse (vgl. SLZ vom 20.2.1918).

Es gab kaum Zugtiere und Landarbeiter, und für abgezogene Kriegsgefangene konnte kein Ersatz gestellt werden (vgl. SLZ vom 2.6.1918).Deshalb galten auch nach dem Frieden mit Russland die russischen Soldaten, die noch nicht von der Bürokratie der Rückführung erfasst worden waren, weiterhin als Gefangene und wurden in Calbe und Umgebung zu Arbeiten eingesetzt (vgl. SLZ vom 29.4.1918). Geeignete Zuchthäusler hatte man begnadigt und in Arbeitsbataillonen für die Landwirtschaft zusammengefasst (vgl. SLZ vom 29.3.1918). Zum Arbeitskräfte- und Zugtier-Mangel kam unglücklicherweise hinzu, dass die Ernte auf Grund von Frostschäden, Frühjahrstrockenheit und einem extrem kalten und verregneten Juni schlecht ausfiel (vgl. SLZ vom 20.6. und 27.6.1918 f.), weshalb man dem Winter mit Bangen entgegensehen musste (vgl. SLZ vom 2.10.1918). So dienten die robusten Kohlrüben auch weiterhin als Ersatz-Grundnahrungsmittel (vgl. SLZ vom 15.1.1919). Einen solch schlimmen Kohlrübenwinter wie 1916/17 gab es jedoch nicht noch einmal, da nach dem Kriegsende die Heeresbestände allmählich für die Bevölkerung freigegeben wurden (vgl. SLZ vom 2.1.1919). Seit dem Sommer 1918 lähmte außerdem eine Pandemie die ohnehin schwer geschädigte Wirtschaft: die s. g. Spanische Grippe, die besonders bei den von Hunger und Entbehrungen geschwächten Menschen rasch um sich greifen konnte. Frauen waren mehr als Männer betroffen (vgl. SLZ vom 8.11.1918). Todesopfer forderte die weltweite Seuche auch in Calbe und im Kreis.

1918 waren in der St.-Stephani-Gemeinde 153 Menschen im zivilen Bereich gestorben, davon 15 Kinder im ersten, 13 im zweiten bis sechsten und 9 im siebenten bis 14. Lebensjahr, 6 Jugendliche (15. - 20. Jahr). Im Erwachsenenalter vom 21. bis 40. Lebensjahr starben 1918 29 Personen, 26 im 41. bis 60., 46 im 61. bis 80. und nach dem 80. Lebensjahr 9 Calbenser. Zwei Menschen hatten sich das Leben genommen (vgl. SLZ vom 3.1.1919). Auffällig ist dabei der hohe Anteil der im jungen und im "besten" Erwachsenalter zivilen Verstorbenen, die wohl zum Teil Opfer der Spanischen Grippe geworden waren.

Geburten- und Sterbe-Statistik der St.-Stephani-Gemeinde in Calbe, die etwa 40% der Stadtbevölkerung umfasste,  während des Ersten Weltkrieges (ohne 1916).

  In der Gesamtzahl der Gestorbenen sind die damals bekannten Zahlen der gefallenen Soldaten aus Calbe enthalten.

 

Wie stark die Wirtschaft 1918 geschädigt worden war, spiegelte sich in den Annoncen der calbischen Zeitungen wider, die nun kaum noch den fünften Teil einer Seite füllten und sich oft auf Geschäfts- und Häuserverkäufe sowie auf Versteigerungen bezogen.

Viel Kummer bereitete der Wohnungsmangel in Calbe, der 1918 seinen Höhepunkt während des Krieges erreichte. Es gab in der Stadt etliche Bauern, die - wie es in kritischen Artikeln hieß - durch den Krieg zu Wohlstand gelangt waren, das heißt, die sich durch Schiebereien und Spekulationen eine goldene Nase verdient hatten. Sie wollten Wohnungen nur zu unangemessen hohen Mietpreisen zur Verfügung stellen (vgl. SLZ vom 8.6.1918).So kam es zu dem Paradoxon, dass 1918 in Calbe 50 Familien vergeblich eine Wohnung suchten, obwohl viele große Ackerbürger-Häuser teilweise leer standen. Die begüterteren Landwirte weigerten sich, "Habenichtse" in ihren Häusern aufzunehmen. Den Behörden gegenüber erklärten sie, als Bauern wären sie während der meisten Stunden des Tages auf den Feldern tätig und könnten in dieser Zeit ihr Anwesen nicht unbeaufsichtigt Fremden überlassen (vgl. SLZ vom 11.1.1919).

Der Wohnungsmangel ließ sich hauptsächlich darauf zurückführen, dass der Krieg viele Arbeitgeber in den Ruin getrieben hatte und dadurch immer mehr Menschen arbeitslos geworden waren. Die Arbeitslosen konnten die Mieten für ihre Behausungen nicht mehr aufbringen, was wiederum Exmittierungen mit sich brachte. Dieser Prozess ging im ländlichen Bereich stärker als in der Stadt vor sich (vgl. ebenda), so dass in der Folge die Arbeits- und Wohnungslosen ihr Heil in der Stadt suchten. In der SLZ wurde darauf hingewiesen, dass in den Dörfern "Sorgen,... Leid und Tränen" an der Tagesordnung waren (vgl. SLZ vom 7.2.1918). In Calbe jedoch gab es kaum noch eine Bautätigkeit (vgl. SLZ vom 29.3.1918), und viele der für Vermietungen in Betracht kommenden Hausbesitzer weigerten sich, bei der Linderung der Wohnungsnot zu helfen. Auf Profit bedachter Geschäftssinn war bei ihnen ausgeprägter als christliche Nächstenliebe. Das Schändlichste an den Exmittierungen und dem Elend der Wohnungssuchenden aber war, dass sie auch Familien betrafen, deren Väter und Söhne an den Fronten Leben und Gesundheit opferten. Militärische und zivile Behörden gaben sich gegenüber dieser Niedertracht hilflos (vgl. u. a. SLZ vom 5.4. und 17.7.1918).

 

Im Osten war inzwischen am 3. März der für die Russen verlustreiche Frieden von Brest-Litowsk abgeschlossen worden. Dabei musste die neue Arbeiter-und-Bauern-Regierung rund ein Zehntel an Land, Menschen und Produktionsstätten abtreten. Besonders schmerzhaft war für die russische Seite der Verlust fast aller Ölquellen. Jubel mit Fahnenschmuck wurde beim Friedensschluss auch in Calbe angeordnet, die Kinder bekamen schulfrei (vgl. SLZ 12.2. und 4.3.1918). Gegen den Raub der russischen Gebiete und für einen gerechten Frieden waren in Berlin und anderen Städten, auch in Magdeburg, die Arbeiter in einen machtvollen Streik getreten, dabei immer auch die eigene Situation vor Augen. Dieser politische Massenstreik war ein Wetterleuchten vor dem Gewitter der Novemberrevolution. Die calbische Presse beschwor die Arbeiter, von diesem zerstörerischen Werk abzulassen, oder erging sich in Bosheiten gegen diejenigen, die angeblich das Ende des Krieges hinauszögerten bzw. die Not vergrößerten (vgl. SLZ vom 29. bis 31.1.1918). Um in den nun selbständig gewordenen Gebieten ein Ausbreiten des Bolschewismus zu verhindern, ließ die OHL besonders im Baltikum, in der Ukraine und im Kaukasus weiterhin deutsche Truppen stationiert, die bei den Offensiven im Westen fehlten. Immer wieder wurde vom Partisanenkrieg und den Aktivitäten der Bolschewiki in diesen Gebieten berichtet (vgl. SLZ vom 14.2., 11.3. und 6.8.1918). Nach Kriegsende fand auch in der calbischen Presse eine breit angelegte Werbekampagne für das so genannte Ostheer statt (vgl. SLZ 31.1.1919 ff.) Die Soldaten dieser in Osteuropa stationierten Truppe wurden später im Volksmund die "Baltikumer" genannt, sie spielten in den politisch-sozialen Kämpfen der Nachkriegszeit eine unrühmliche Rolle als militärische Wegbereiter rechtsgerichteter Kräfte.

 

Das deutsche Kaiserreich versuchte im Frühjahr 1918 noch einmal mit letzter Kraft, das Blatt des Kriegsverlaufes zu seinen Gunsten zu wenden.

Am 21. März begann der Entscheidungsfeldzug mit der gigantischen deutschen Großoffensive „Michael“ in der Picardie mit 76 Divisionen und massiver Luftunterstützung von rund 1000 Flugzeugen auf einer Breite von 70 Kilometern. Dazu waren neue Taktik-Konzepte erarbeitet worden (Stoßgruppen, präziseres Schießen der Artillerie, Infanterieangriff dicht hinter einer Feuerwalze, inzwischen ungenierter Einsatz von Giftgas, Unterstützung durch Schlachtflieger, dichte Maschinengewehrangriffe).

Deutsche Artillerie 1918, aus: Der Weltkrieg im Bild, Bd. 1: Originalaufnahmen des Kriegs-, Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, München 1928.
(Seit 1916 trugen die Deutschen statt der gefährlichen Pickelhauben die sichereren Stahlhelme)

Ziel dieser Offensive war es, einen Keil zwischen die englischen und französischen Truppenverbände zu treiben. Tatsächlich gelang es den Deutschen, in einem großen Bogen einen Durchbruch von 60 Kilometern Tiefe zu erzielen. Diese erste deutsche Offensive des Jahres 1918, die auf deutscher Seite Verluste von ca. 240000 und auf alliierter Seite von 220000 Mann brachte, kam Anfang April zum Stehen, weil der Nachschub an ausgeruhten Mannschaften stockte. Außerdem machten sich die mangelhafte Motorisierung der deutschen Artillerie sowie das fast völlige Fehlen einer Panzerwaffe äußerst nachteilig bemerkbar. Bei der Anzahl der Tanks besaßen die Alliierten eine mehr als 90fache Überlegenheit. Der durch die deutsche Offensive entstandene Bogen brachte eher strategische Nachteile, weil er mehr Kräfte zur Verteidigung benötigte, welche die OHL aber kaum besaß.

Deshalb sollte ein erneuter deutscher Vorstoß im April gegen das englische Heer mit 29 Divisionen und ca. 500 Flugzeugen die Front im Norden bis zur Kanalküste begradigen. Auch diese zweite deutsche Offensive („Georgette“) bei Ypern brachte einen großen Geländegewinn, die deutschen Verluste betrugen 8600 Mann, die französisch-englischen dagegen über 100000, das Zwölffache. Doch wiederum konnte dieser Erfolg wegen fehlender Reserven nicht entscheidend genutzt werden.

In der dritten Offensive auf 55 km Breite mit 38 Divisionen, 5300 Geschützen und ca. 500 Flugzeugen  (französische Seite 21 Divisionen und 1400 Geschütze) zwischen Soissons und Reims (27. Mai bis 3. Juni) wurden 3 französische Armeen überrannt und ein Höhenzug 10 km südwestlich vor Laon mit dem erbittert umkämpften „Chemin des Dames“ (Damenweg) gestürmt. Die deutschen Truppen konnten in einem 60 km tiefen Keil über die Aisne bis an die Marne vordringen, bevor den Franzosen die Stabilisierung ihrer Front gelang.

Deutsche Truppen auf den Höhen am Chemin des Dames in der Picardie, aus: Der Weltkrieg im Bild, Bd. 1: Originalaufnahmen... , a. a. O.

 

Auch die vierte deutsche Offensive zwischen Montdidier und Noyon (9. bis 14. Juni) führte noch zu bedeutenden Geländegewinnen und einer großen Beute an gegnerischen Geschützen (französische Verluste 175000 Mann). Aber diesmal war der deutsche Angriff schon auf einen besser vorbereiteten Gegner gestoßen. Besonders die eingesetzten 150 Panzer brachten die deutsche Angriffswelle nach 5 Tagen zum Stehen. Die vier deutschen Offensiven hatten die Deutschen erneut bis an die Marne und Amiens gebracht, in der günstigsten Distanz nur ca. 60 km von Paris entfernt, das sie aus psychologischen Gründen mit Ferngeschützen beschossen und mit Flugzeugen bombardierten. (vgl. Otto, Helmut; Schmiedel, Karl, Der erste Weltkrieg..., a. a. O., S.382 ff.)

In calbischen Presseartikeln wurde der gewaltige, verzweifelte Frühjahrs-Vorstoß der Deutschen an der Westfront gefeiert. Die Propaganda-Maschinerie kam wieder in Gang. Von dem "entscheidenden Kriegsabschnitt" und der "letzten viertel Stunde des Krieges" war nun die Rede (vgl. SLZ vom 23.und 30.3.1918). Da sich die kriegsmüden Calbenser nicht so recht über das erneute Gemetzel im Westen freuen konnten, riefen die Zeitungsleute dazu auf, die gleiche Begeisterung wie in den ersten Kriegstagen zu zeigen (vgl. SLZ vom 30.3.1918), was aber bei dem bereits erfahrenen Leid für die meisten illusorisch blieb. Anlässlich des Osterfestes wurde versprochen, der Osterhase, der sich 1918 noch zurückhalten müsse, werde im nächsten Jahr den Deutschen goldene Eier ins Nest legen (vgl. ebenda), das heißt, man ging bereits wieder von einem deutschen "Siegfrieden" aus. Im April kam es auf Grund der deutschen Kriegserfolge in der Kreispresse zu einem spürbaren Aufleben der Annoncen-Werbung. Einige Geschäftsleute glaubten wohl tatsächlich erneut an ein für Deutschland siegreiches Ende des Krieges. Sogar eine "Helden"-Feldpost eines Kriegsberichtserstatters unter der Überschrift "Rasch vorwärts!" wurde nun wieder abgedruckt. Sie handelte von forschen Soldaten aus dem Bezirk Magdeburg auf dem Chemin des Dames, die wie einst 1914 beim Sturmangriff-Signal im Handstreich eine gegnerische Stellung überrannten (vgl. SLZ vom 27.6.1918). Doch es gab auch eine vorsichtige Presse-Stimme mit der Frontzeile "Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben", die nicht nur vor großen Ernteerwartungen, sondern versteckt auch vor hochfliegenden militärischen Hoffnungen warnte (vgl. SLZ vom 20.4.1918).

Die fünfte deutsche Offensive (15. bis 17. Juli) an der Marne und in der Champagne brach indessen schon nach kurzer Zeit zusammen, beide Seiten hatten Verluste von je 50000 Mann.

Am 18.Juli stießen 26 französische Divisionen mit 400 Tanks (!) und 1100 Flugzeugen (!) gegen einen völlig überraschten und erschöpften Gegner vor und eroberten bis zum 3. August Soissons zurück.

Es deutete sich an, dass der strategische Plan der OHL gescheitert war. Bei einem monatlichen Ersatzbedarf von 160.000 Mann standen Mitte 1918 nur noch etwa 60.000 zur Verfügung. Die ungeheuren Verluste der Deutschen an Toten, Verwundeten, Gefangenen und Vermissten in Höhe von bis dahin mehreren Millionen Mann (- die Calber Presse schrieb schamhaft "nur" von einer Million -) konnten lediglich zu einem geringfügigen Teil wieder ersetzt werden. Im Unterschied zu den Ententetruppen, die im allgemeinen ausreichend verpflegt wurden, litten die deutschen Soldaten wie die Heimat unter dem Hunger, denn die Hektarerträge in Deutschland waren gegenüber 1913 teilweise auf die Hälfte gesunken.

Zwischen März und Juli 1918 trafen 658.000 amerikanische Soldaten in Frankreich ein, die zu 24 Divisionen formiert wurden. Damit waren dort inzwischen über eine Million Amerikaner stationiert, die auf ihren Einsatz warteten. Die Entente konnte nun ab Mitte Juli die strategische Gegenoffensive vorbereiten, die am 18. Juli unter dem neuen Oberbefehlshaber General Foch begann. Den erschöpften Deutschen blieb nur noch der Rückzug.

Der Anfang vom Ende der deutschen Armee kam mit der Schlacht bei Amiens (8. bis 11. August), bei der die Alliierten 450 Tanks einsetzten, mit denen ihnen am 8. August, dem "schwarzen Tag des deutschen Heeres" (Ludendorff), ein tiefer Durchbruch gelang. Von nun an war die deutsche Widerstandskraft gebrochen.

Am 8. August berichteten die calbischen Zeitungen noch von der beginnenden Rücknahme der deutschen Front, und am 25.9.1918 mussten sie das endgültige Scheitern der letzten deutschen Offensive zugeben.

Ludendorffs Plan, durch eine Summe bedeutender taktischer Erfolge die Front der Westmächte zum Zusammenbruch zu bringen, war gescheitert, ebenso wie der uneingeschränkte U-Bootkrieg, dessen „Erfolge“ eher gering waren. Während das deutsche Heer von den Alliierten im geordneten Rückzug von Stellung zu Stellung bis auf die „Antwerpen-Maas-Stellung“ zurückgedrängt wurde, brachen auch die Verbündeten der Deutschen - Bulgarien und die Türkei - im Herbst 1918 zusammen. Die Habsburger Monarchie befand sich im Oktober ebenfalls in voller Auflösung.

Die Katastrophen der gescheiterten letzten deutschen Offensive und des Zusammenbruchs der Verbündeten führten zu einer "Verstimmung der Bevölkerung über alles Maß", wie die calbische Presse führende Regierungsmitglieder zitierte (vgl. SLZ vom 25.9.1918)

 

Im Deutschen Reich selbst, wo Hindenburg und Ludendorff, der 4 Wochen später zurücktrat, Ende September die Niederlage eingestanden hatten, beeilte man sich, durch politische Reformen die "über alles Maß" aufgebrachte und Not leidende Bevölkerung zu besänftigen. Eine neue, parlamentarisch verbrämte Regierung unter Prinz Max von Baden wurde am 3. Oktober gebildet, um revolutionären, gegen die Monarchie gerichteten Aktionen die Spitze zu nehmen. Der neue Reichskanzler unterbreitete einen Tag später dem amerikanischen Präsidenten ein Waffenstillstandsersuchen. (Im Verlauf des Oktobers verschwanden in den calbischen Zeitungen die boshaften Karikaturen, die die Feinde lächerlich machen sollten, fast gänzlich.) Auf Wilsons Forderung nach militärischer Kapitulation Deutschlands antwortete Hindenburg mit dem Befehl an die Truppe,  den „Widerstand mit äußersten Kräften“ zu führen. 

Die SLZ signalisierte "helle Entrüstung" über "das Dokument der Schande" (vgl. SLZ vom 17.10.1918).

Als es am 3. November zum Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und der Entente kam und die deutsche Hochseeflotte, um bessere Verhandlungsbedingungen zu schaffen, in den sinnlosen Opfertod gegen die Alliierten auslaufen sollte, begann bei den meuternden Matrosen in Kiel eine demokratische Revolution, die sich in Windeseile über Deutschland ausbreitete. Arbeiter-und-Soldaten-Räte nach russischem Vorbild wurden allerorts gebildet, und der Reichskanzler beeilte sich, am 9. November in Berlin die Abdankung des Kaisers bekannt zu geben. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief die demokratische Republik, der Spartakist Karl Liebknecht die sozialistische Räterepublik aus. Die Kämpfe zwischen monarchistisch-militaristischen, nationalistischen, bürgerlichen, sozialdemokratischen und kommunistischen Gruppierungen um die Vorherrschaft im parlamentarischen Deutschland, das später Weimarer Republik genannt wurde, zogen sich, zum Teil sehr blutig, bis 1923 (und teilweise noch länger) hin.

Für den 14. November 1918 hatte die Entente eine neue Offensive geplant, die bis zum Saar- und Rheinland vor getrieben werden sollte. Der Waffenstillstand vom 11. November verhinderte das. An allen Fronten schwiegen die Waffen in dem Kriege, in dem mehr als 10 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten und über 20 Millionen verkrüppelt und verwundet worden waren, nicht mitgerechnet die ungezählten Hunger- und Seuchen-Toten unter der Zivilbevölkerung, besonders bei den Kleinkindern. Im Ersten Weltkrieg fielen 393 Soldaten aus Calbe, in den nächsten Jahren starben noch viele der verwundeten Heimkehrer, so dass die Opferzahl auf über 420 stieg (vgl. Verzeichnis der im Feindesland und in der Heimat verstorbenen Krieger, a. a. O.).

Die Novemberrevolution hatte auch die Calbenser mit ihrem "rasenden Lauf der Dinge" völlig überrascht (vgl. SLZ vom 16.11.1918). Eine Umwälzung in einer "ungeahnten Art" war in Gang gekommen (vgl. SLZ vom 9.11.1918). Über allem aber schwebte die Furcht vor dem Abgleiten ins Chaos, die Angst, dass in Deutschland "russische Verhältnisse überhand nehmen könnten. Ein Bürgerkrieg sollte um jeden Preis vermieden werden; besonders die SPD-Führung ließ Aufrufe zu Ruhe und Ordnung verbreiten (vgl. u. a. SLZ vom 7.11. und 12.11.1918 f.). Gleich zu Beginn der Revolution hatte sich auch in Calbe ein Arbeiter- und Soldaten-Rat gebildet, von dem der Aufruf an die "Bürger von Calbe" erging. Darin hieß es u. a.: "Pflicht eines jeden Volksgenossen ist es, dazu beizutragen, daß die Entwicklung in den bisherigen ruhigen Bahnen weitergeht... Arbeiter, Bürger, Soldaten, beherzigt diese an Euch gerichteten Worte! Bewahrt die Ruhe und Ordnung! Helft mit zum guten Gelingen der Sache des Volkes! Es lebe der Friede! Es lebe die deutsche Republik!" (SLZ vom 11.11.1918).

Während die Presse meldete, dass die Revolutionsbewegung auf das gesamte Reich übergegriffen hatte, wehte auf dem Rathaus in Calbe bereits die rote Fahne. Eine solch beeindruckende demokratische Kundgebung auf dem Markt, bei der u. a. der SPD-Funktionär Holzapfel aus Magdeburg die Einwohner zur Disziplin beim Übergang zum "Volksstaat" aufrief (vgl. SLZ vom 13.11.1918), hatte die Kreisstadt bis dahin noch nicht gesehen.

Am 14.11. konnte die SLZ beruhigt ihren Lesern mitteilen, dass die Umwälzung im Kreis Calbe friedlich verlaufen sei. Aus proletarischen Ballungszentren des Reiches, wie z. B. aus Berlin und dem Rheinland, trafen immer wieder beunruhigende Nachrichten über blutige Kämpfe ein, die dazu beitrugen, Abscheu der Calbenser vor den "deutschen Bolschewisten", womit die spartakistisch-kommunistischen Linken gemeint waren,  zu schüren.

Im Wesentlichen pegelte sich die calbische Presse auf die Positionen der SPD-Führung ein.

Nur selten kamen Artikel reaktionären Inhalts zum Abdruck. Unter diesen wenigen war eine "Dolchstoß"-Anschuldigung, die revolutionären Matrosen von Kiel trügen durch die Verhinderung einer letzten Seeschlacht gegen die Entente die Schuld an den für Deutschland erniedrigenden Friedensbedingungen (vgl. SLZ vom 18.1.1919) , und eine Korrespondenz, in welcher der Autor bedauerte, dass Deutschland nicht mehr wie einst in der Welt gefürchtet würde (vgl. SLZ vom 24.12.1918). Die Kreispresse stellte sich ansonsten schnell auf die neuen demokratischen Spielregeln um, und die Rubrik "Aus dem deutschen Reich" hieß nun ganz selbstverständlich "Aus dem neuen deutschen Volksstaat". Ohne Bedauern wurde der politische Untergang des preußischen Herrscherhauses, der Hohenzollern, und der Großmacht Preußen konstatiert (vgl. SLZ vom 17.12.1918). In einem Gedicht hieß es u. a.:

"Das alte Reich hat schwer gefehlt,

Und neu zu bau´n das Vaterland

Sind Herz und Geist so frisch beseelt..." (SLZ vom 16.1.1919.)

 

Seit dem 15.11. 1918 wurden fast täglich die Programme und Maßnahmen der "neuen Volksregierung", manchmal auch "sozialistische Regierung" genannt, veröffentlicht (z. B. "wirtschaftliche Demobilisierung", Wahlrecht, Frauenrechte, Demokratisierung des Militärs, Abschaffung der Gesindeordnung und Umgestaltung der Landwirtschaft).

Die Calbenser, besonders die Frauen, machten regen Gebrauch von ihren neuen Rechten. So viele politische Versammlungen mit so vielen Beteiligten hatte es bis dahin noch nie in Calbe gegeben.

Aber auch das bürgerlich-gesellige Leben blühte in bescheidenem Maße wieder auf: Ende Dezember 1918 gab es erneut Tanzkränzchen in fünf Lokalen - wie vor dem Krieg.

Weihnachten 1918 war "einer der sehnlichsten Wünsche in Erfüllung gegangen, endlich gab es seit 1913 wieder die erste Friedens-Weihnacht (vgl. SLZ vom 24.12.1918). Diese Weihnachtszeit bedeutete für die Calbenser aber alles andere als Harmonie und Seeligkeit. Sie zeigte sich ungewohnt, verwirrend und Furcht einflößend. Beim Jahresrückblick 1918 hieß es in der SLZ: "Nie wieder so ein entsetzliches Jahr wie 1918" (SLZ vom 31.12.1918). der Frieden war anders ausgefallen als erwartet und erwünscht. Die Sieger stellten gnadenlos harte Forderungen, das Land lag wirtschaftlich am Boden, Armut und Not herrschten überall, viele der Besten waren gefallen oder verkrüppelt, und nun drohte das Land im Chaos der blutigen Kämpfe zwischen den radikalen Linken, den bürgerlich-demokratischen und den radikal-rechten Kräften zu versinken.

Schon vor der Revolution hatte die calbische Presse wiederholt vor den linken "Volksaufhetzern" gewarnt (vgl. SLZ vom 5.11.1918), im Dezember und Januar überschlug sie sich geradezu im Hass gegenüber den "dunklen Elementen" und "Verbrechern", als in Berlin Regierungstruppen auf linke Demonstranten schossen (vgl. SLZ vom 11.12.1918) und zu Weihnachten ein Aufstand der roten Matrosen im Berliner Marstall losbrach. Berlin sei "spartakistisch verseucht" und "Mittelpunkt des deutschen Bolschewismus" (vgl. SLZ vom 30.12.1918). Spartakus führe das Land in den Abgrund, hieß es in den Kreiszeitungen (vgl. u. a. SLZ vom 11.12.1918). Wenn aber Deutschland im linken Chaos versinke, würden die Siegermächte Besatzungstruppen schicken (vgl. ebenda). Schließlich wollten die Spartakisten die Diktatur des Kaisers auch nur durch eine kommunistische Diktatur ersetzen (vgl. SLZ vom 20.12.1918). Ob Deutschland endlich zu Ruhe und Frieden komme, machten die Redakteure von der Zerschlagung des deutschen Bolschewismus und Kommunismus abhängig (vgl. SLZ vom 4.1.1919). Endlich trafen aus Berlin, während im Rheinland die Kämpfe noch tobten (vgl. SLZ vom 16.1.1919 f.), die für die meisten Calbenser beruhigenden Nachrichten "vom Ende des Terrors" ein, u. a. mit einem Bericht unter der Überschrift "Wie die Reichshauptstadt gesäubert wurde" (vgl. SLZ vom 15.1.1919). Die SPD-Regierung ließ in der Presse verkünden, dass die "braven" Regierungstruppen siegreich gegen die "Fanatiker" und "Verbrecher", die überall Gräuel verübt hätten, vorgegangen seien (vgl. SLZ vom 17.1.1919). Für diese "braven Truppen", die später Reichswehr genannt wurden, warb auch die calbische Kreispresse. Den vielen jungen Kriegsfreiwilligen, die keinen anderen Beruf als das Töten erlernt hatten und die im für sie ungewohnten Frieden ohne Perspektive da standen, bot der Eintritt in die Reichswehr oder in die "Ostarmee" eine Möglichkeit, nicht in Arbeitslosigkeit und Not abzugleiten.

Die calbischen Zeitungen feierten die "Säuberung" Berlins durch die Noske-Truppen als Sicherung der Wahlen zur Nationalversammlung (vgl. SLZ vom 15.1.1919).

Für die Interessen und Ziele links stehender Berliner Industrieproletarier konnten die Arbeiter und Bauern aus Calbe kaum Verständnis aufbringen, schon gar nicht für eine Räterepublik. Wenn es denn keinen Kaiser mehr gab, wollte man sich doch wenigstens auf die Obrigkeit der SPD-"Volksregierung" verlassen können. Und die machte das wohl schon richtig, wenn sie in Terror-Orgien Berliner und rheinländisches Arbeiterblut vergoss. Die Calbenser standen mehrheitlich loyal zur SPD und der neuen Regierung.

Die massive Hetze in der Presse gegen die Linken in Verbindung mit der "Säuberung Berlins" durch die Noske-Truppen hatte dann schließlich zur furchtbaren Folge, dass Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Betroffen hielten auch die Redakteure der SLZ in ihrer antikommunistischen Stichelei inne und versuchten auf der Basis der regierungsoffiziellen Erklärungen ihr Bedauern darüber mitzuteilen, dass Frau Dr. Luxemburg das Opfer einer wütenden Menschenmenge, vor der man sie schützen wollte, geworden und Dr. Liebknecht bei einem Fluchtversuch im Dunkeln von einer Kugel tödlich getroffen worden waren (vgl. SLZ vom 18.1.1919). Aber schon zwei Tage später erfuhren die Leser, dass die Kommunistenführer selbst an ihrem Tode schuld gewesen seien. Regierungsmitglied Scheidemann erklärte, die "beiden Volksverführer" Liebknecht und Luxemburg wären "Opfer ihrer eigenen Terrortaktik geworden" (vgl. SLZ vom 20.1.1919).

Wie fest die Calbenser in Mehrheit zur SPD und zur "Volksregierung" standen, zeigte ein Demonstrationszug am 1.Januar 1919 durch die Kreisstadt Calbe, der von der Presse als "Heerschau der Parteigenossen" gewertet wurde (vgl. SLZ vom 2.1.1919). Fast alle Gewerke, viele Soldaten und Zivilisten, besonders auch Frauen, bekundeten bei dem eindrucksvollen Marsch ihre Zustimmung zur SPD-Politik (vgl. ebenda).

Diese Zustimmung zeigte sich auch nachhaltig bei den Wahlen zur Nationalversammlung und zur Preußischen Nationalversammlung, dem preußischen Landesparlament, in Calbe und im Kreis.

Im Vorfeld dieser Wahlen hatten die zum Teil neu gegründeten Parteien eine intensive Propaganda betrieben. Eine rege Versammlungstätigkeit war die Folge, Parteiprogramme wurden erläutert und diskutiert, wobei die Frauen, die erstmals wählen durften, besonders in Erscheinung traten.

Außer der schon seit dem 19. Jahrhundert bekannten und aktiven Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und ihrer linken Abspaltung, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), traten nun die Deutsche Demokratische Partei (DDP) mit linksliberalen Intentionen, die Deutsche Volkspartei (DVP) als rechtsliberale Variante und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) mit rechtsradikalen, nationalistischen Zielsetzungen im Kreis Calbe zu den Wahlen an. Die in anderen Teilen Deutschlands starke Zentrumspartei versank hier in der Bedeutungslosigkeit, da ihre vorwiegend katholische Klientel in unserem Gebiet weitestgehend  fehlte.

 

 

In der Zustimmung zur SPD lag Calbe mit 67,9 Prozent der Wählerstimmen fast gleichauf mit dem "roten" Magdeburg (69,8%). Auch die calbischen Ergebnisse für die linksbürgerliche DDP waren beachtlich. Radikale Linke (USPD) und Rechte (DNVP) hatten hier kaum eine Chance. In der Zeit der Weimarer Republik galt die Kreisstadt als "das rote Calbe".

 

Der am 28. Juni 1919 in Versailles zwischen dem Deutschen Reich und der Entente geschlossene und am 1. Januar 1920 in Kraft getretene Friedensvertrag, der wichtigste der Pariser Vorortverträge, legte mit seinen extrem harten Bedingungen den Keim für deutsche Revanchegedanken und damit für einen erneuten Weltkrieg: Insgesamt verlor das Deutsche Reich über 70 000 Quadratkilometer seines ehemaligen Reichsgebietes mit etwa sieben Millionen Einwohnern, die deutschen Kolonien und die im Frieden von Brest-Litowsk okkupierten Gebiete. Die von Deutschland zu leistenden Reparationen beliefen sich auf die unfassbare Gesamthöhe von 132 Milliarden Goldmark.

 

Die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie der Erste Weltkrieg genannt wird, führte auch in unserem Heimatgebiet, besonders in Calbe, zu drastischen Veränderungen: Calbe büßte seinen Status als ein Tuchindustrie-Schwerpunkt ein, den es seit anderthalb Jahrhunderten innegehabt hatte. Aus der Kreisstadt mit einem ansehnlichen bürgerlichen Wohlstand um 1900 war 1918 das "erbärmlichste Städtchen des Kreises" geworden, wie es in Kommentaren auswärtiger Zeitungen hieß (vgl. SLZ vom 3.12.1918). Die in Calbe Wohnungssuchenden, die durch die Bankrotte während des Krieges ihre Arbeit und damit auch ihre Unterkünfte in den ländlichen Regionen verloren hatten, wurden zunächst in leer stehenden Fabrikgebäuden und Gasthöfen untergebracht (vgl. SLZ vom 11.1.1919). In der Zeit der Weimarer Republik konnte die Wohnungsnot in Calbe durch sozialen Wohnungsbau beseitigt werden. Vor dem Zweiten Weltkrieg kam es wieder zu einem bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung in der Kreisstadt. Jetzt dominierte die Gemüse-Produktion, und die Stadt baute ihren Ruf als "Bollen-Calbe" weiter aus.

Die SPD-Hochburg, in der Juden geachtete und geschätzte Mitbürger (auch SPD-Stadtverordnete) waren, hat sich mehrheitlich nie begeistert zum Nationalsozialismus bekannt, wohl aber versucht, sich in ihm einzurichten und sich mit ihm zu arrangieren.

 

 

Copyright: Dieter H. Steinmetz

 

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