Max Sidow (1897 –
1965), der in Calbe geboren wurde und später in Hamburg lebte,
machte sich hauptsächlich als Lyriker und Essayist einen Namen,
veröffentlichte aber auch Kurzprosa. 1927 erschien von ihm bei
Reclam ein Band mit fünf Novellen, deren längste und auch
eindrucksvollste den Titel „Hass“ trägt.
Das Hauptmotiv der nach der Diktion der Meister des 19. Jahrhunderts
gestalteten Novelle ist das Scheitern zweier Liebender an der - mehr
einseitigen - unversöhnlichen Zwietracht der beiden
Herkunfts-Familien. Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem
Dorfe“ hatte wohl ein wenig im Hintergrund Pate gestanden.
Max Sidows Sprachgestaltung und der episch-dramatische Aufbau des
Werkes erinnern an die Paradigmen der Stormschen und Kellerschen
Novellen.
Als geschichtlich-soziale Szenerie wählte der Schriftsteller das
Calbesche Fischermilieu des 19. Jahrhunderts, wobei er tatsächliche
Ereignisse, und zwar aus dem eigenen Verwandtenkreis, in
abgewandelter Form zu einer "unerhörten Begebenheit" verdichtete. Um
die noch existierenden beteiligten Familien nicht zu brüskieren,
benutzte er die urkundlich authentischen Namen bekannter Calbenser
vergangener Jahrhunderte. Nur die Figur des Pastors Scheele als gütiger, weiser
Schlichter wurde historisch-real übernommen. Nach einer
schriftlichen Auskunft von Herrn Hermann Kegel (Celle) an Frau Elke
Steinhausen aus Schwerin (Brief vom 12.4.2003) dienten für die drei
Raphuhn-Brüder der Novelle der 1858 dreizehnjährig an
Hirnhautentzündung verstorbene Heinrich Friedrich David, der 1850 im
Alter von 16 Jahren ertrunkene Gottlieb Friedrich und der spätere
Fischermeister Wilhelm August Daniel Kegel (1849-1917) als
Vorbilder. Der Schriftsteller war ein Enkel des letztgenannten. Max Sidows Mutter, die 1875 geborene Martha Luise Kegel (gestorben
1946), heiratete – wahrscheinlich 1896 – Hans Sidow aus Zeitz.
Dass die Handlung jedoch zum großen Teil eine Fiktion des
Schriftstellers ist, kann man schon an den völlig „unpassenden“
Lebens-Daten der Vorbilder zu denen der Novellen-Protagonisten
ersehen.
Hier eine kleine
Übersicht über den Inhalt der Novelle:
Das Werk beginnt
mit der Vorstellung des Ereignisses, das den sich steigernden Hass
auslöste.
„In C.,
einem an der Saale gelegenen Landstädtchen, kam im Jahre 1830 der
dreizehnjährige Sohn des Fischermeisters Zacharias Raphuhn auf sehr
merkwürdige Weise ums Leben. Melchior, so hieß der Junge, hatte sich
in der Schule, während der Rechenstunde, ungebührlich laut mit
seinen Nachbarn unterhalten, war daraufhin von dem Lehrer aufgerufen
worden und hatte, als er auf die an ihn gestellte Frage keine
Antwort wusste, vor die Klasse treten müssen, um an der Wandtafel
die Aufgabe vorzurechnen. Doch auch hier vermochte er das keineswegs
schwierige Exempel nicht zu bewältigen. Noch verwirrt von dem
unerwarteten Anruf, nicht fähig seine Gedanken zu sammeln und seinen
schwerfälligen Geist zu einer ihn überraschenden Wendung zu zwingen,
schrieb er zwar mit ungelenker Hand die Zahlen der Aufgabe an das
schwarze Brett, als es jedoch an die Lösung gehen sollte, begann er
umständlich zu stottern und schwieg endlich verstört. Der Lehrer,
Konrektor Kalow, über die Unaufmerksamkeit und, wie er meinte,
Dummheit des Schülers aufgebracht, trat an ihn heran und versuchte
durch unsanfte Rippenstöße den Unbeholfenen anzuspornen. Da aber die
erwünschte Wirkung ausblieb, und der Junge plötzlich in trotziger
Auflehnung das Kreidestück hinlegte und sich die von den
aufmunternden Püffen misshandelte Seite rieb, verlor der leicht
erregbare Pädagog die Beherrschung. In einem Anfall von Wut packte
er Melchior am Kragen und stieß dessen Kopf mehrere Male sehr heftig
gegen die Wandtafel. Diese Züchtigung begleitete er mit Worten wie
etwa: >>Ich werde dir schon helfen … Mit deinen Nachbarn kannst du
reden und hier vorn spielst du die dumme Jule! Da – dein Dummkopf
muß erst durcheinander geschüttelt werden, damit die Dummheit
herausfällt. Man muß dich mit der Nase daraufstoßen, eher begreifst
du es nicht.<< Melchior ertrug diese strafende Gewalt ohne einen
Laut auszustoßen, aber als ihn der Konrektor dann losließ, begann er
zu taumeln, röchelte, als müsste seine Lunge sich mühsam den Atem
erkämpfen, und sank schließlich um.“ (Sidow,
Max, Haß, a. a. O., S. 7f.)
Der erschrockene Lehrer lässt den Jungen, als sich auch noch
Erbrechen einstellt, nach Hause bringen. Ein herbei gerufener Arzt,
der eine schwere Gehirnerschütterung feststellt, vermag keine Hilfe
zu bringen. Als der schuldbewusste Konrektor den verunglückten
Jungen besuchen will, ist dieser bereits tot, und der vor Zorn
„völlig verwilderte Vater“ jagt den Lehrer davon.
„Dieser Vorfall, der in der kleinen Stadt beträchtliches Aufsehen
hervorrief, begründete den Haß der Familie Raphuhn auf den
Konrektor, einen Haß, der viele Jahre in unverminderter Heftigkeit
anhielt und noch durch den Umstand vermehrt wurde, dass die Tat des
unbeherrschten Erziehers keine entsprechende Sühne fand.“ (Ebenda,
S. 9)
In der Folgezeit findet ein Kleinkrieg Zacharias Raphuhns gegen den
Konrektor statt, der auch einer gewissen Komik nicht entbehrt. So
verbietet der Fischermeister seinen Genossenschafts-Kollegen, dem
Feind die begehrten Lachse zu verkaufen. Als sich Kalow die Fische
vom Saalemüller beschafft, lacht die ganze Stadt über den
verhinderten Boykottierer. Natürlich rächt sich die
Fischergemeinschaft am Saalemüller, indem sie sich im Winter
weigert, die Mühlengerinne vom Eis zu befreien.
Inzwischen wachsen die zwei verbliebenen Raphuhn-Söhne heran, „die
sich in Charakter und Lebensauffassung außerordentlich voneinander
unterschieden“, der starrsinnige, verschlossene, schwerfällige und
unflexible Heinrich und der 5 Jahre jüngere Friedrich (Fritz), ein
heiterer, freundlicher, empfindsamer und aufgeschlossener Bursche
mit regem Geist. Nach dem Tod Melchiors wird der noch
schulpflichtige Fritz aus der Schule Kalows genommen und zu Pfarrer
Scheele geschickt, der einige Schüler auf das Gymnasium vorbereitet.
Als der wendige Junge dort zu den besten Zöglingen gehört, wünscht
Scheele, dass Fritz die „höhere Schule“ in Magdeburg besucht. Der
Vater lehnt das jedoch schroff ab. Fritz muss bei dem Vorsteher der
Fischereigenossenschaft „St. Nicolai“ Klaus Ristorp in die Lehre
gehen und wird bei diesem Teilfahrer, später unter seinem Vater und
Bruder Fischerknecht. Anfänglich sieht es so aus, als wäre der Hass
des Vaters auf beide Söhne übergegangen, denn auch Fritz spielt dem
Konrektor, der nicht mehr sein Lehrer ist, manchen bösen Streich.
Aber mit zunehmender Reife lehnt er das fade Gefühl als primitiv ab.
Dafür steigert sich Heinrich um so mehr in die Feindseligkeit und
übertrifft darin bald sogar seinen Vater. Der ältere Bruder verlobt
sich mit Marie Klein, der klugen, sensiblen und heiteren Tochter
eines Ackerbürgers. Schon als Kinder haben die Fischerknaben
Heinrich und Fritz mit zwei Stadtmädchen am Saalestrand auf dem so
genannten Fischereianger gespielt, mit eben jener Marie und ihrer
Freundin Luise, der Tochter des Konrektors. Als Sechsjähriger hat
Fritz einmal der vierjährigen Lehrertochter das Leben gerettet.
Die Kalows haben ihr Haus an der Saalemauer innerhalb der Stadt, wo
die wie Schwalbennester über der Saale hängenden Erker auch Klein
Venedig genannt werden, unmittelbar am südlichen Stadttor. Das neu
erbaute stattliche Haus der Raphuhns, das von dem bescheidenen
Wohlstand des Fischermeisters zeugt, steht in der so genannten
Bernburger Vorstadt an der Chaussee (heute: Bernburger Straße Nr.
19) fast gegenüber der schmalen Gasse „Kleine Fischerei“.
Zufällig sieht der 21jährige Friedrich nach mehr als einem Jahrzehnt
die 19jährige Luise Kalow bei seiner künftigen Schwägerin wieder.
Die „sanfte Schönheit“ und Fritz, der Liebling der Calbeschen
Mädchen, verlieben sich ineinander. Natürlich müssen sie sich in der
folgenden Zeit in aller Heimlichkeit treffen.
Als Vater Zacharias das Paar in der Kirchgasse beim heimlichen
Plausch erwischt, ist er so schockiert, dass er Fritz beinahe
erwürgt. Bald darauf sieht der alte Raphuhn beim Arbeitseinsatz der
Fischer auf dem Mönchheger gegenüber Klein Venedig, wie Fritz die am
Fenster stehende Luise zärtlich grüßt. Er hebt, außer sich vor Wut,
das schwere Ruderblatt und ist drauf und dran, den Sohn zu
erschlagen. Der Anblick des Sohnes, der ruhig und mit tief traurigem
Blick den tödlichen Schlag erwartet, lässt den Vater erstarren.
Seitdem verfällt Zacharias Raphuhn zusehends, und die Mutter
verkümmert vor Gram.
Nach dem Tod des alten Raphuhn übernimmt Heinrich seine
Meister-Position in der Sechser-Gemeinschaft, und Fritz wird sein
Knecht.
Ein Jahr später heiratet Heinrich seine Verlobte. Durch diese Ehe
scheint der ältere Bruder etwas aufgeschlossener und heiterer zu
werden. Seine Zwangsvorstellung, der Erbe und Bewahrer des alten
Familien-Hasses zu sein, bleibt jedoch. Versöhnungsversuche Maries
enden mit einem heftigen Wutausbruch des neuen Sippenoberhauptes.
Als Heinrich, dem Gespött der Leute zum Trotz, seinem Bruder Fritz
immer intensiver nachspioniert, wendet dieser sich in seiner Not an
den alten verehrten Lehrer Scheele und erbittet Rat und Hilfe.
Pfarrer Scheele versucht sowohl Heinrich Raphuhn als auch Lehrer
Kalow in vertraulichen Gesprächen zu Versöhnungsschritten zu bewegen
– vergeblich. Der 22jährige Fritz bittet sogar einseitig den Lehrer,
der seinen Bruder auf dem Gewissen hat, um Verzeihung für den ihm
von seiner Familie zugefügten Schaden. Kühl und „mit fast höhnischer
Miene“, von oben herab nimmt Kalow die Entschuldigung entgegen.
Fritz erwägt, aus dem Machtbereich des älteren Bruders wegzukommen
und woanders eine neue Existenz aufzubauen.
Schwägerin Marie, die sich aufopfernd für die beiden Liebenden
einsetzt, kann ihre eigene immer stärker werdende Zuneigung zu Fritz
kaum verheimlichen.
Der strenge und lange anhaltende Winter 1844/45 (s. Tabelle oben)
bildet den historisch-realen Hintergrund für den zweiten Teil der
Novelle, in dem sich die Handlung zuspitzt und auf die – allerdings
katastrophale - Lösung des Konfliktes zu steuert.
Nach altem Brauch müssen die Calbeschen Fischer bei starkem Frost
das Wehr und die Mühlengerinne eisfrei halten. Für die harte und lebensgefährliche
Arbeit bedankt sich der Saale-Müller traditionell mit einem
Festgelage. Bei diesem „Fastnachtschmaus“ behauptet ein
angetrunkener Fischer, Friedrich Raphuhn und Luise Kalow am
Mägdesprung, einem erhöhten Saaleufer im Norden vor der Stadt, gesehen zu haben.
Tatsächlich haben sich die beiden Liebenden schon seit einiger Zeit
diesen ca. 2 Kilometer vor dem Stadtkern liegenden, verschwiegenen
Platz für ihre heimlichen Treffen ausgewählt. Die Situation ist für
Fritz äußerst bedrohlich; diesmal ist es nicht der Vater, sondern
der berauschte Bruder, der ihn mit einem großen Bierseidel zu
erschlagen droht. Erst die ruhige Bemerkung des alten Ristorp, das
sei nicht Fritz, sondern der junge Lehrer Schröder gewesen, der um
Luise seit einiger Zeit werbe, lässt die Lage sich entspannen.
Die beruhigenden Worte des Vorstehers haben zwar dem jungen
Protagonisten das Leben gerettet, zugleich aber den Keim des
Zweifels und der Eifersucht in seine Seele gepflanzt. Fieberhaft
sucht er eine Unterredung mit Luise. Diese gesteht ihm, dass Lehrer
Schröder ihr zwar den Hof mache und ihr Vater sie zu einer
standesgemäßen Verlobung dränge, sie aber strikt abgelehnt habe.
Luise versichert Fritz, dass sie nur ihn liebe, macht ihm aber auch
klar, dass aus einer Ehe nur etwas werden könne, wenn er eine eigene
wirtschaftliche Existenz gegründet habe, denn zur Zeit sei er nichts
anderes als der Knecht seines Bruders. Es dauert einige Zeit, bis
Friedrich erkennt, dass ihn, den einst Tatkräftigen und
Unternehmungslustigen „ der Haß des Vaters und des Bruders… zur
Schwermut, zur Untätigkeit und Mutlosigkeit verwandelt“ hat, „so daß
er seiner selbst nicht mehr sicher war und an kein Gelingen glauben
konnte. Endlich aber vermochte er die stummen Vorwürfe im Auge der
Geliebten nicht mehr zu ertragen, er mußte sich aufraffen, zur
Sicherung seiner Zukunft und seines Glückes Schritte unternehmen, so
wenig er sich auch davon versprach.“ (Ebenda,
S. 79)
In der ersten Märzwoche fährt also Fritz mit dem Schlitten nach
Tornitz, einem Dörfchen ca. 6 km nordöstlich vor Calbe, wo sein
sparsamer Onkel Thomas Waade mit seiner Frau auf einem kleinen, aber
einträglichen Bauerngut lebt. Das Paar, das in der Verwandtschaft
als etwas sonderbar gilt, entpuppt sich als warmherzig und
aufgeschlossen. Als Fritz davon spricht, sich von seinem Bruder zu
trennen und eine eigene Existenz zu gründen, findet er die
Zustimmung des alternden Bauernpaares. Nach dem Mittagessen ziehen
sich Onkel und Tante längere Zeit zurück. Danach eröffnen sie ihm
umständlich mit ernsten, feierlich-bewegten Mienen, dass sie soeben
beschlossen hätten, ihren Neffen, da sie kinderlos seien, zu sich zu
nehmen. Später könne Fritz dann den Hof überschrieben bekommen. So
könne auch ihre eigene Zukunft gesichert werden. Die beiden alten
Leute sind stark berührt von der Freude ihres Patensohnes, „die ihn
so augenscheinlich verwandelt hatte… Als Friedrich gegen Abend das
Pferd anspannte und zurückfuhr, dünkte er sich der glücklichste
Mensch auf der Erde zu sein.“ (Ebenda,
S. 84 f.)
Nun stehen einem glücklichen Ausgang noch der auf eine gute Partie
bedachte Vater Luises und der unberechenbare Hass Heinrichs im Wege.
Fritz weiht zwar die Mutter ein, ein klärendes Gespräch mit dem
jähzornigen Bruder verschiebt er aber auch weiterhin. Eine
nächtliche Vision anlässlich eines seltenen Naturschauspiels, eines
von Zirruswolken hervorgerufenen, szintillierenden dreifachen
Mondes, lässt Friedrich die nahende Entscheidung in der nächsten
Zeit erfühlen.
Gegen Ende des Monats März lässt der strenge Frost nach, Sturm und
Regen setzen ein. „In der Nacht vom 26. zum 27. März 1845 (s.
Tabelle oben) dröhnte die Saaleniederung wie von Kanoneschüssen. Das
Eis barst, aber noch hielt es sich in der Fläche, nur da und dort
klafften tiefe Risse in der durchsichtiger werdenden weißlich-grauen
Decke, als hätten gewaltige Scheren sie wie Pergament
durchschnitten, oder rasch zerstörende Blitze hätten ihre Bahn im
Zickzack hinterlassen.“ (Ebenda, S. 90
f.)
Die Fischer haben in dieser gefährlichen Situation zur Rettung der
Mühle und des Wehres Großeinsatz, die Arbeit soll aber bald darauf
wegen der ständig wachsenden Gefahren für die Fischer eingestellt
werden. Am Nachmittag des 27. März kommt Marie aufgeregt zu Fritz
gelaufen, Luise sei ihr sehr blass und ernst begegnet und warte
versteckt auf dem Friedhof, um dringend mit Fritz zu sprechen. Bei
der Unterredung mit der Geliebten stellt sich heraus, dass Lehrer
Schröder um ihre Hand angehalten hat und die Zeit in Richtung einer
Entscheidung drängt. Fritz bittet Luise, noch einmal den Vater um
ihres Glückes willen anzuflehen, einer Verlobung der beiden nicht im
Wege zu stehen.
Unterdessen ist der Saalemüller verzweifelt dabei, noch einmal alle
Fischer zum Einsatz zu bewegen, die Mühle und das Wehr sind in
akuter Gefahr. Ristorp kommt zu Heinrich und bittet ihn, zusammen
mit Fritz zu Hilfe zu eilen. Es drängt. Während der junge Meister
seinen Bruder und Gehilfen sucht, ruft ihn mehrmals eine innere
Stimme, die er für die warnende Stimme seines Vaters vom Friedhof
hält und die ihn völlig verwirrt. Endlich erreicht er Fritz am
Friedhofseingang, als dieser gefasst und zuversichtlich nach dem
Gespräch zusammen mit Luise und Marie den Gottesacker verlässt, -
aber die gefürchtete Katastrophe bleibt aus. Der ältere Bruder, noch
verwirrt von der Stimme, reagiert wie in Trance und wirkt abwesend.
Auch bei der gefährlichen Arbeit auf dem tauenden und sich
spaltenden Eis wundern sich die Fischer über seine ungewöhnliche
Teilnahmslosigkeit. Und als Heinrich sieht, wie Luise und Fritz sich
zwischen Fenster und Eis heimlich zuwinken, bleibt er immer noch
gefasst und hält sich wie in einem schweren inneren Kampf zurück.
Fritz verspürt das dringende Bedürfnis, ihm dafür zu danken und ihm
etwas Liebes zu sagen.
Mit dem immer stärker einsetzenden Eisbruch erklären die
Fischermeister ihre Arbeit für beendet. Während sie schon ihre
Geräte aufnehmen und in Richtung Fischerei-Ufer gehen wollen, kommt
ein kleiner Junge von der Saalemauer über das Eis mit einem Zettel
in der Hand auf Fritz Raphuhn zu gelaufen. Nach dem Überfliegen der
Nachricht erhellt sich das Gesicht des jüngeren Bruders zu einem
Strahlen. Auf dem Papier steht die Nachricht von Luise, dass ihr
Vater schweren Herzens seiner Tochter zuliebe mit einer Heirat der
beiden Liebenden einverstanden ist. Freudig will Fritz auf den
Bruder mit ausgestreckter Hand zu gehen, „da stand schon Heinrich
mit geschwungener Hacke vor seinem Bruder, wutroten Gesichts,
brüllend wie ein verwundetes Tier, und schrie: >>Wer hat dir den
Brief geschickt?<< Erblaßt wich Friedrich vor dem Rasenden bis zum
äußersten Rande der Eisfläche zurück, aber furchtlos und mit
blitzenden Augen sah er ihn an und erwiderte mit der leisen Stimme
großer Erregtheit: >>Meine Braut, Luise Kalow.<< Einen Herzschlag
war es, als wollte Heinrich die schwere Spitzhacke auf den Bruder
niedersausen lassen, aber bevor noch der Schlag herabzucken konnte,
waren ihm schon die umstehenden Fischer in den Arm gefallen, hielten
den wild sich Wehrenden fest, so daß er sich nicht frei machen
konnte, und redeten ihm zu wie einem Fieberkranken, der die Arznei
verweigert.
Der alte Ristorp trat zwischen die Brüder, wie schon damals beim
Fastnachtessen, versuchte Frieden zu stiften und bat den Jüngeren,
nach Hause zu gehen, um für den Augenblick wenigstens dem peinlichen
Auftritt ein Ende zu machen. Aber Friedrich hörte nicht auf ihn,
streckte die Hand nach Heinrich aus, als könnte allein diese
rührende Gebärde schon den vor Zorn toll Gewordenen versöhnen, und
flehte mit Tränen in den Augen: >>Laß mich doch glücklich werden,
wie du selbst glücklich bist. Ist denn Liebe ein Verbrechen? Ich bin
doch dein Bruder!<<
Der Wütende schrie laut: >>Du bist nicht mein Bruder! Ich habe
keinen Bruder!<< und wand und warf sich unter den Fäusten der ihn
haltenden Fischer…Plötzlich fühlten die Kämpfenden, wie Wasser um
ihre Knöchel rauschte, das Eis senkte sich unter ihnen und schnellte
dann mit heftigem Ruck wie ein federndes Brett zurück… Da aber
gellte ein furchtbarer Schrei aus Heinrichs Munde, und entsetzt
sahen sie, wie eine große Scholle sich von der Fläche gelöst hatte,
und von der Strömung bereits erfaßt, mit großer Geschwindigkeit dem
Wehr zutrieb. Auf ihr stand Friedrich, noch immer bittend die Arme
nach dem Bruder ausstreckend, als hätte er die Gefahr, in der er
schwebte, noch nicht bemerkt“ (Ebenda,
S. 116 ff.)
Zu spät entdeckt Fritz die tödliche Bedrohung. Als er von der
Scholle abspringt, wird er in den nächsten Sekunden über die schon
eisfreie Wehrkrone gespült und unter die sich stapelnden Eisstücke
gedrückt. Luise, die von ihrem Fenster aus das Entsetzliche mit
ansehen muss, hilft bei der sofort einsetzenden Suche nach dem
Verunglückten mit.
Noch
wochenlang, auch während des einsetzenden gewaltigen Hochwassers (s.
Tabelle in "Die Fischer von Calbe") und der nachfolgenden Frühjahrsbestellung, sucht
Heinrich wie von Sinnen nach der Leiche seines Bruders. Luise stirbt
zwar nicht an der schweren Lungenentzündung, die sie sich in der
nasskalten, stürmischen Unglücksnacht zugezogen hat, sie verfällt
aber sichtlich. Ihre einstige Schönheit ist dahin, ihr Gesicht von
Krankheit und Trauer entstellt. Marie, die des geliebten Schwagers
oft unter Tränen gedenkt, entfremdet sich von ihrem Mann. „Sie lebte
erst wieder auf, als sie nach einem halben Jahre eines Knaben genas,
der in der Taufe den Namen Friedrich empfing und der, je mehr er
heranwuchs, seinem auf so unselige Art verunglückten Onkel immer
ähnlicher wurde.“ (Ebenda, S. 123)
Am Tag nach Pfingsten wird einige Kilometer saaleabwärts von Kindern
und auf dem Feld arbeitenden Bauern die entsetzlich entstellte
Wasserleiche Friedrichs in einer mit Weiden bestandenen Bucht
gefunden. Der apathisch und teilnahmslos wirkende Heinrich Raphuhn
bringt die Überreste seines jüngeren Bruders unter Aufbringung
seiner letzten seelischen Kräfte im Kahn nach Hause. Die Mutter wird
beim Eintreffen ihres toten Sohnes ohnmächtig und muss fortan das
Bett hüten. Nach einigen Monaten stirbt sie.
„Am selben Abend noch wurden die Überreste des Ertrunkenen neben den
Gräbern seines Vaters und Bruders beigesetzt.
Konrektor Kalow war bei der Beerdigung zugegen. An der offenen Gruft
reichte er dem Bruder des Toten die Hand zur Versöhnung, die dieser
bewegt ergriff.“ (Ebenda, S. 125) |