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Calbe und die Till-Eulenspiegel-Legende
Wer war dieser Till Eulenspiegel?
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Der Holzschnitt in einem der ersten Eulenspiegel-Drucke zeigt einen durchaus zeitgemäß normal gekleideten Eulenspiegel als Reisenden mit seinen sprechenden Insignien, der Eule und dem Spiegel, auch wenn diese nichts mit der Bedeutung seines Namens zu tun haben. |
Der niederdeutsche Name „Ulenspegel“ (auch: Ulenspiegel, Ulenspeygel) tauchte im 14. Jahrhundert in der Gegend um Braunschweig auf und hatte nichts mit den Eulen und dem Selbstbetrachtungsgegenstand zu tun, sondern bedeutete „Ule n’ Spiegel“, „Wisch’ mir n’ Hintern“ oder noch vulgärer: „Leck’ mich am Arsch“.
In Prozess-Akten (Femgerichtsordnung und im Deghedingebuch [Gerichtsbuch]) der Stadt Braunschweig ist in jener Zeit tatsächlich der anstößige Name Ulenspegel aufgeführt, ob in Bezug auf Ann Ulenspiegelin, die Mutter des Schalks, ist bislang nicht zu erfahren, da der Vorname nicht angegeben wurde (vgl. Sosseh, Marina, Eine "kurtzweilige" Abhandlung über Till Eulenspiegel, http://www.mamiwata.de/Till.htm).
Der Braunschweiger Zollschreiber und Schriftsteller Herman Bote (1476 bis ca. 1520) bezeugte in seiner „Weltchronik“ sogar die Existenz eines Till (Tyl, Tile, Dyl, Dil) Ulenspegel, der nach der neueren Eulenspiegelforschung etwa 1290/1300 bis 1350 lebte. Er muss also als Vagant in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts tatsächlich sein gefürchtetes und belachtes Unwesen in unserem Gebiet getrieben haben.
In den Schenken und auf den Straßen erzählte man sich mit dem zwiespältigen Gefühl zwischen Schadenfreude und Schauder die neuesten haarsträubenden Bosheiten des Schalks. Als Schalk oder Schelm wurden im Mittelhochdeutschen schlimme, boshafte und hinterhältige Menschen bezeichnet. Erst etwa 400 Jahre später trat eine Begriffsmilderung ein. Auch das Gesicht des freundlichen, gewitzten Burschen, den man später als „Narren“ bezeichnete, bekam Eulenspiegel erst im 19. Jahrhundert, gleichzeitig wurden viele der schlimmsten und ekelerregendsten Geschichten gestrichen oder entschärft.
Zur Ehrenrettung des wahrhaftigen Till Eulenspiegel, von dem wir der Einfachheit halber annehmen, dass er keine Erdichtung Herman Botes war, sei aber gesagt, dass ihm viele der Geschichten von sensationslüsternen Zeitgenossen angedichtet wurden.
Das Eulenspiegelbuch
Nach der Erfindung des modernen Buchdrucks um 1450 kamen clevere Männer auf die Idee, die in Niedersachsen so beliebten, aber auch brisanten Eulenspiegel-Storys aufzuschreiben und als Buch herauszugeben. Von der ersten Fassung in mittelniederdeutscher Sprache konnte bislang kein Exemplar mehr aufgefunden werden. Die ersten Druckexemplare, die uns erhalten sind, stammen von 1510/11 und sind in mittelhochdeutscher Sprache (mit einigen niederdeutschen Sprachelementen) verfasst.
„Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel geboren uß dem Land zuo Brunßwick. Wie er sein Leben vollbracht hatt. XCVI. Seiner geschichten“ wurde wahrscheinlich von mehreren damals bekannten und gelehrten Schriftstellern zusammengestellt, die sich einen Spaß daraus machten, den Zeitgenossen unter dem Deckmantel der Anonymität einen deftigen literarischen Scherzartikel in 96 Histörchen zu servieren. Mit dem Riesenerfolg eines der ersten Prosa-Romane, der bis heute in aller Welt anhält, hatten sie aber gewiss nicht gerechnet.
Mit dem deklassierten Vaganten und Anti-Helden schuf sich das städtische Bürgertum eine literarische Gegenwelt zum idealisierenden Ritterroman des Adels. Thematisierte die Feudalschicht eine unwirkliche edle Traumwelt, setzte das frühkapitalistische Bürgertum höhnisch das real existierende Böse dagegen. Das ist nicht verwunderlich, denn das 15. Jahrhundert war mit seinem Zusammenbruch der alten Werte an der Schwelle zur Neuzeit eine Epoche gewaltiger Umwälzungen im sozialen und damit auch im moralischen Bereich.
Herman Bote, dem wohl das Leben und Treiben des wirklichen Till Eulenspiegel nach anderthalb Jahrhunderten noch einigermaßen bekannt war, lieferte in der Gemeinschaftsarbeit des „Volksbuches“ sicherlich auch die biografischen Eckdaten. Und so erfahren wir in der ersten „Historia“:
„Bei dem Walde Melbe genant, in dem Land zu Sachsen, in dem Dorff Knetlingen, da ward Ulenspiegel geboren.“ Er war „eins Buren Sun“ (Vorrede), und seine Eltern hießen Clawes (Claus) Ulenspiegel und Ann Wibcken.
Eulenspiegel im magdeburgischen Land an der Saale
Die Eltern müssen Haus und Hof durch irgendeinen Umstand in Kneitlingen verloren haben, denn als Till noch ein Kind war, zog die Familie von dannen in ein Dorf, aus dem die Mutter stammte, „im Magdeburgischen Land an der Saal“ (3. Historia). Mit dem magdeburgischen Land war das Erzbistum Magdeburg gemeint. Dieses besaß - günstig für unsere Lokalisierungsversuche – nicht allzu viel Territorium an dem Fluß Saale. Außerdem wird uns in der 6. Historia mitgeteilt, dass der jugendliche Till von seinem „Flecken“ aus einen Fußmarsch nach Staßfurt unternahm, um Brot zu besorgen. Klammern wir einmal vorsichtig die Exklave des Erzbistums bei Halle aus, die natürlich auch in Frage kommen könnte, dann kämen wir auf das damals noch existierende „Hondorp“ (Hoendorp). Dieses Hohendorf, das sogar eine eigene, dem Heiligen Nicolaus geweihte Kirche besaß, die neben einem alten vorchristlichen Kultplatz, der Wunderburg (s. dort), errichtet worden war, wird von manchen Heimatforschern (A. Hansen-Ostfalen, H. Schwachenwalde) als der Flecken an der Saale favorisiert, in den die landlose Familie Ulenspiegel gezogen war (s. auch Beschreibung des Dorfes in "Die Wunderburg bei Calbe").
Die 3. Historie sagt, wie Claus
Eulenspiegel von Kneitlingen hinweg zog an den Fluß Saale, woher Tills
Mutter gebürtig war, dort starb, und wie sein Sohn auf dem Seil gehen
lernte.
Danach zog sein Vater mit ihm und
seiner Familie von dannen in das magdeburgische Land an den Fluss Saale.
Von dorther stammte Eulenspiegels Mutter. Und bald darauf starb der alte
Claus Eulenspiegel. Die Mutter blieb bei dem Sohn in ihrem Dorf, und sie
verzehrten, was sie hatten. So wurde die Mutter arm. Eulenspiegel wollte
kein Handwerk lernen und war doch schon etwa 16 Jahre alt. Aber er
tummelte sich und lernte mancherlei Gauklerei. (Übertragung ins Neuhochdeutsche) |
Wenn die Quellenbelege fehlen, ist schöpferische Phantasie auf Indizienbasis erlaubt.
Für Eulenspiegels ersten Auftritt als Seiltänzer über der Saale käme dann sicherlich auch das niedrig gespannte Seil in Frage, an dem die Fähr-Kähne aus Sicherheitsgründen gegen die starke Strömung mit einer Öse befestigt waren und das bei durchfahrenden Lastkähnen heruntergelassen werden musste. Nachdem der gutmütige Vater Claus früh gestorben war, zog Mutter Ann mit dem halbwüchsigen Lümmel wahrscheinlich von dem hoch gelegenen Dorf in die ärmlicheren Häuser am Ufer der Saale, denn Till konnte vom Dach des Hauses aus das Seil erreichen.
Deutlich ist das Seil an der Tippelskirchener Fähre in einem Stich von 1850 zu erkennen |
Wenn diese Überlegungen alle richtig sind, dann spielte der Unruhestifter Till Eulenspiegel im Alter von 16 Jahren den ca. 150 anwesenden Leuten von Hohendorf seinen ersten berühmten Streich (mit dem Schuh-Chaos) etwa 1200 Meter vor den Toren unserer Stadt.
Die 4. Historie sagt, wie
Eulenspiegel den Jungen etwa zweihundert Paar Schuhe von den Füßen
abschwatzte und machte, daß sich alt und jung darum in die Haare
gerieten.
Kurze Zeit danach wollte
Eulenspiegel seinen Schaden und den Spott wegen des Bades rächen, zog
das Seil aus einem anderen Haus über die Saale und zeigte den Leuten an,
daß er abermals auf dem Seil gehen wolle. Das Volk sammelte sich bald
dazu, jung und alt. Und Eulenspiegel sprach zu den Jungen: jeder solle
ihm seinen linken Schuh geben, er wolle ihnen mit den Schuhen ein
hübsches Stück auf dem Seil zeigen. Die Jungen glaubten das, und alle
meinten, es sei wahr, auch die Alten. Und die Jungen huben an, die
Schuhe auszuziehen, und gaben sie Eulenspiegel. Es waren der Jungen
beinahe zwei Schock, das sind zweimal sechzig. Die Hälfte der Schuhe
wurde Eulenspiegel gegeben. Da zog er sie auf eine Schnur und stieg
damit auf das Seil. Als er nun auf dem Seil war und hatte die Schuhe mit
oben, sahen die Alten und die Jungen zu ihm hinauf und meinten, er wolle
ein lustig Ding damit tun. Aber ein Teil der Jungen war betrübt, denn
sie hätten ihre Schuhe gern wiedergehabt. (Übertragung ins Neuhochdeutsche) |
Und so startete Till Eulenspiegel von unserer Heimat aus seine Karriere als bürgerlicher Antiheld, als Tunichtgut, Erpresser, Betrüger, Dieb, Drückeberger und Scharlatan, der schamlos die großen und kleinen Schwächen der Menschen für sich ausnutzte und ihnen damit auch Lehren erteilte.
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