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Reformation und protestantische Richtungskämpfe in unserer Gegend

 

Gegen Ende des Mittelalters bildeten sich innerhalb der rund tausend Jahre alten Feudalverhältnisse immer deutlicher frühkapitalistische Wirtschaftsstrukturen heraus. Seit dem 14. Jahrhundert hatte sich auch die im Abendland herrschende geistige Führungsmacht, die römisch-katholische Kirche, im gewinnbringenden Geldgeschäft engagiert. Nicht nur die Kurie in Rom tätigte beachtliche Transaktionen und finanzierte kostspielige Renaissance-Prachtbauten mit Hilfe menschlicher Ängste, indem sie die Vergebung von Sünden für Geld verkaufte; auch das Prämonstratenser-Stiftskloster „Gratia Dei“ bei Calbe sah seine Haupteinnahme-Quellen im Verkauf von Seelenmessen, in Grundstücks-Maklerei und im Geldverleih.

Diese inzwischen ganz allgemein üblichen Praktiken beschworen eine breite Kritikwelle, vor allem seitens des aufstrebenden Bürgertums herauf, und nicht nur die Klöster hatten erhebliche Nachwuchssorgen. Der junge Augustiner-Mönch und Theologie-Professor Martin Luther gelangte nach langen inneren Konflikten zu der Überzeugung, dass die Menschen nicht durch ihre irdischen Taten, sondern allein durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes („sola gratia“) Erlösung von ihren Sünden erlangen könnten. Dieses „sola“ bedeutet eine Abgrenzung: Allein die Gnade bewirkt die Rechtfertigung, versetzt in das rechte Verhältnis zu Gott, nicht die persönliche Tat.

Martin Luther (1483-1546) Lutherbild in der Stephanskirche von Calbe

Über diese durchgreifende Erkenntnis und die daraus resultierende Ablehnung jeglicher geistlicher Ablässe wollte Luther mit einflussreichen Männern diskutieren. Deshalb verschickte er Briefe mit seinen Diskussionsthesen an führende Theologen und Politiker. Der einflussreichste Kleriker und Staatsmann im deutschen Bereich war zu dieser Zeit Kardinal Albrecht IV., Erzbischof von Mainz und Magdeburg, der sich gerade wegen der antirömischen Unruhen in Magdeburg in das Schloss von Calbe geflüchtet hatte. Dorthin schickte Luther auch seine Thesen, die Albrecht einige Zeit später mit unsachlichen und bösartigen Ausfällen ablehnte.

Der weitere Verlauf der Ereignisse ist allgemein bekannt. Aus der geplanten Experten-Diskussion entwickelten sich durch gezielte Indiskretion nicht nur eine breite Volksbewegung für eine nationale und „wohlfeile Kirche“, sondern auch die Befreiungstheologie Thomas Müntzers und die sozialrevolutionären Aufstände der Bauern und Plebejer. Luther, der mit seinem beherzten und heldenhaften Einstehen für die neue Auffassung vom Verhältnis des Menschen zu Gott Leib und Leben aufs Spiel gesetzt hatte, fühlte sich nun durch die Ausuferung seiner Reformationsgedanken in einer Revolution von unten brüskiert und reagierte auf das Eingreifen der niederen Volksschichten mit brutal-bösartigen Verbal-Attacken. Bauernaufstände widersprachen seiner passivitätsorientierten Gnadentheorie.

Jean Cauvin (Johannes Calvin)

(1509-1564)

Ablehnung von Aktivität und passives Erwarten von Gnade konnte aber nicht den Intentionen eines jungen leistungsorientierten Bürgertums entsprechen. Es hatte zwar Luthers mutige Trennung von der römisch-katholischen Kirche begrüßt, suchte nun aber nach einem protestantischen Lehr-Paradigma, das Aktivität, Leistungsstreben und Erfolg nicht fremd gegenüberstand. Diesem Konzept entsprach das Programm des französisch-schweizerischen Reformators Johannes Calvin. Der Calvinismus, der von den strengen Lutheranern vehement angefeindet wurde, ging u. a. von der entscheidenden Ansicht aus, dass Sparsamkeit, Fleiß und harte Arbeit Formen moralischer Tugend darstellten und wirtschaftlicher Erfolg ein Zeichen für die Gnade Gottes sei. Jeder Mensch müsse sich auf Erden anstrengen, um an seinen Leistungsergebnissen überprüfen zu können, ob er zu den Auserwählten Gottes gehöre. Das hatte gesellschaftliche Auswirkungen. Da er sich begünstigend auf die Wirtschaft auswirkte, kam dem Calvinismus eine bedeutende Rolle bei der Einführung des Kapitalismus und damit der Unterhöhlung des Feudalsystems zu. Dort, wo er Fuß fassen konnte (z. B. in Holland, England, Nordamerika, bei den Hugenotten usw.) breiteten sich Kapitalismus und wirtschaftlicher Reichtum rasch aus. Max Weber sah 1920 in seiner  Schrift  „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ im Calvinismus die Hinwendung zum lebensweltlichen Diesseits und die Ausprägung einer Arbeitsmoral, welche die Entwicklung des Kapitalismus förderte.

Philipp Melanchthon

(1497-1560)

Auch in Deutschland konnte man nicht auf eine leistungs- und erfolgsorientierte Theologie verzichten. Nach Luthers Tod 1546 übernahm sein Mitstreiter, von dem er sich aber in den letzten Jahren immer mehr entfremdet hatte, Philipp Melanchthon, die geistige Führung in Wittenberg. Er näherte die „reine“ Gnadentheorie Luthers an die Leistungsethik Calvins an, indem er u. a. forderte, die guten Werke und Taten der „Gerechtfertigten“ zu betonen und die Menschen auf der Basis des Humanismus, einem Vorläufer der Aufklärung, ethisch zu erziehen, wobei er den freien Willen, die bürgerliche Gerechtigkeit und ein autonomes Naturrecht in den Mittelpunkt rückte. Ein Kopfzerbrechen über äußere Formen der Religionsausübung sah er als nebensächlich (adiaphoron) an, weil das vom Wesentlichen ablenkte.

Wegen der Annäherung an calvinistische Positionen wurden die Anhänger der Melanchthon-Lehren, die Philippisten, auch versteckte Calvinisten, Krypto-Calvinisten, genannt. Die Vertreter der „reinen“ Gnadentheorie Luthers zogen sich nach Jena zurück. Ihr geistiger Führer zu jener Zeit war Matthias Flacius Illyricus. Sie wurden Gnesio-Lutheraner bzw. Flacianer genannt.

Nach dem Kompromiss des Augsburger Religionsfriedens 1555 konnte jeder Landesherr bestimmen, welche Konfession seine Untertanen annehmen mussten. Das führte nicht nur zur Migration der Landeskinder, sondern auch zu einem Austausch unterschiedlich ambitionierter Theologen. Eigens eingesetzte Untersuchungskommissionen prüften die Tauglichkeit der einzelnen „Gottesmänner“ für die von den Fürsten vorgegebenen Religions-Varianten. Bei Nichteignung wurde der Betroffene in ein Territorium mit der „passenden“ Konfession abgeschoben bzw. ganz einfach ein Austausch vorgenommen. Besonders die Potentaten kleinerer mitteldeutscher Fürstentümer hatten sich bald in der Mehrzahl für den Calvinismus bzw. für seine gemäßigte Spielart, den Philippismus, entschieden. Die Leistungsethik kam eher ihren Intentionen nach einem wirtschaftlichen Aufschwung in ihren Ländern entgegen.

In unserer Gegend bekannten sich nicht nur die Fürsten der anhaltinischen Kleinstaaten zum Philippismus oder zum Calvinismus, sondern auch die Herrscher sächsischer Exklaven wie Barby und Mühlingen.

Werner Steinhausen (1504 – 1588)

Graf Wolfgang I. von Sachsen-Barby, Mühlingen und Egeln(1484/1502 – 1564)

1545 wurde Werner Steinhausen durch den philippistisch eingestellten Grafen Wolfgang I. (1484/1502 – 1564) zum Hofprediger zu Barby und in den 1560er Jahren zum dortigen Ersten Superintendenten berufen. 1543 war Steinhausen unter der Herrschaft der calvinistisch orientierten Reichsstift-Äbtissin Anna, Gräfin von Stolberg-Wernigerode, Rektor der Lateinschule in Quedlinburg gewesen und dort durch seine Mitautorschaft an einer rebellischen Schrift gegen die Selbstbedienungs-Gepflogenheiten protestantischer Fürsten, das Kirchengut für sich zu beanspruchen, aufgefallen.

Werner Steinhausen, der Stammvater der Barbyer und Calber Patrizierfamilie, die hier rund 250 Jahre wirkte, stammte aus einer bergischen Ministerialenfamilie und war ein entlaufener Kölner Mönch, der sich der neuen Lehre verschrieben hatte. Er studierte 1533 bis 1545 mit Unterbrechungen an der Quelle des Protestantismus, in Wittenberg, Theologie.

Werner Steinhausen war ein Duz-Freund des bedeutenden Reformators Philipp Melanchthon (1497-1560). Der große Reformator hatte dem entlaufenen Mönch und mittellosen Theologie-Studenten Steinhausen 1539 zu einem Stipendium von dessen bergischen Landesherrn verholfen. Als Freund Melanchthons war Steinhausen auch in den s. g. Adiaphoristischen oder Flacianischen Streit involviert. Er hatte zwischen Flacianern und Philippisten zu vermitteln versucht und war deshalb vorübergehend bei seinem Vertrauten in Ungnade gefallen.

Die Stadt Calbe, die seit 1542 protestantisch war, hatte von ihrem Administrator und Landesherren das Gnesio-Luthertum „verordnet“ bekommen.

Kurfürst Joachim Friedrich (1546-1608)

Magdeburger Administrator (1566-1598)

Der bei den Calbensern beliebte Pastor Dragendorff war von dem Akener Pfarrer Dux beim Schlosshauptmann Melchior von Wellen des Krypto-Calvinismus bezichtigt worden. Die Magister Werner Steinhausen aus Barby und Abraham Ulrich aus Zörbig  traten als Zeugen für Dragendorff auf, die Anklage wurde abgeschlagen. Da mischte sich der Magdeburger Administrator Joachim Friedrich von Brandenburg, der Apologet des „reinen“ Luthertums, ein und befahl trotz einer nochmaligen Anhörung in Jüterbog und der Beteuerung von "Rat und Bürgerschaft zu Calbe,... daß er in der Lehre rein sei", die Entlassung Dragendorffs. Der Beschuldigte bekam eine Anstellung als Pfarrer im benachbarten anhaltinischen Nienburg. An seine Stelle in Calbe hatte der Administrator 1581 den orthodoxen Pfarrer Adam Crato aus Staßfurt gesetzt. Dieser neue Pfarrer aber fühlte sich dazu berufen, die philippistisch-calvinistischen anhaltinischen Theologen herauszufordern (vgl. Hävecker, S. 55f.).

"Sprechende Hausmarke" Adam Cratos

Crato hing der lutherischen Theorie und Praxis an, bei Säuglingen vor der Taufe das Böse durch exorzistische Formeln auszutreiben.

Auch in dieser Frage hatte sich der Protestantismus gespalten. Die Vertreter der lutherisch-orthodoxen Linie beriefen sich auf Luthers "Taufbüchlein".

Grundlegend war dabei die Vorstellung, dass der Teufel im Herzen von jedem Menschen wohne und somit bei der Taufe ausgetrieben werden müsse. Calvin dagegen lehnte jede Art von Taufexorzismus ab. Auf lutherisch-evangelischer Seite verschwand der Taufexorzismus erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert völlig.

Während in den anhaltinischen Fürstentümern der Taufexorzismus abgeschafft worden war (vgl. Hävecker, S. 56), kämpften die Theologen im Magdeburger Land um die "Rettung des Tauf-Büchleins Lutheri". Auslöser war das Buch der anhaltinischen Theologen gegen den  Braunschweiger Superintendenten Dr. Polycarp Lyser, einen Hauptverfechter des Taufexorzismus. Da mischte sich plötzlich Adam Crato aus Calbe mit einer umfangreichen Schrift für die Beibehaltung der Zeremonie ein. Wutentbrannt antworteten 1590 die Anhaltiner  in einer "Protestation wider das untheologische Lästern und Schelten des Pfarrers zu Calbe" und gleich darauf der Angegriffene mit einem an "Heftigkeiten" reichen "Responsum", worauf die anhaltinische Seite Crato noch schärfer angriff. Da verbot der Magdeburger Administator dem Calber Pfarrer Crato eine Weiterführung des Streites und wandte sich 1591 zweimal eindringlich an sein Mündel Johann Georg von Anhalt-Dessau (1567 - 1618), er solle seinen Theologen untersagen, die Kontroverse auszuweiten. Daraufhin gab der junge Fürst klein bei.

1566 war Matthias Steinhausen, Sohn des Barbyer Oberpfarrers und Vertrauten des Barbyer Grafenhauses Werner Steinhausen, Diaconus in Calbe geworden; seine Ordination erfolgte 1569. Er hatte also schon sein Amt als "zweiter Pfarrer" unter Dionysius Dragendorff, dem seinerzeit Matthias´ Vater Hilfe zuteil werden ließ,  ausgeübt. Als Crato 1581 als Pfarrer nach Calbe kam, muss ihm wohl recht bald dieser Diaconus suspekt gewesen sein. Er klagte Matthias Steinhausen des Calvinismus an, und eine Kommission, bestehend aus verschiedenen Pfarrern und dem Amtshauptmann Melchior von Arnstedt, untersuchte den "Fall". Die Herren fanden einige Mängel in der lutherischen Haltung des Angeklagten, schlossen mit ihm jedoch - wohl mit Rücksicht auf seine Familie - einen Vertrag, in dem er zusichern musste, künftig keinen Anlass mehr zur Kritik zu geben. Wahrscheinlich fand Crato erneut bei dem Diaconus Anzeichen einer subversiven calvinistischen Haltung, denn bald tagte erneut eine Kommission wegen Matthias Steinhausen. Der Amthauptmann und der Stadt- und Landrichter vernahmen Bürgermeister, Lehrer und andere glaubwürdige Zeugen, die alle für den Angeklagten aussagten. Wieder kam es zu einer Ermahnung. Bald aber scheint Steinhausen der Feindseligkeiten seines "Vorgesetzten" Crato überdrüssig geworden zu sein, oder aber, er wurde aus dem Diakonatsamt entlassen, denn er tauchte in den Listen der Geistlichen seit den 1580er Jahren nicht mehr auf. Das aber wird Matthias Steinhausen wenig gestört haben, denn er war, wohl aufgrund der Verdienste seines Vaters und seiner adligen Herkunft, schnell in das städtische Patriziat aufgenommen worden und hatte Anna Stock, die Tochter des Bürgermeisters Lorenz Stock, geheiratet.

In Calbe aber blieb man auf der von Crato eingeschlagenen lutherisch-orthodoxen Linie, bis schließlich der Pietismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neue Pfade der Verinnerlichung des Glaubens und damit der Lösung vom starren Wort-Dogmatismus ging. Als 1680 das Magdeburger Land zu Brandenburg-Preußen kam, zog auch in Calbe der Geist des Pietismus, einer Weiterentwicklung der calvinistischen Ideen, ein. Die Pietisten lebten eine neue Frömmigkeit und humanistische Tatkraft. Mit Hilfe ihres Geistes wurde Preußen Führungsmacht in punkto Ordnung, Fleiß und Disziplin.

 

 

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